In Indien schwelt seit Anfang April eine Auseinandersetzung zwischen Gerichten um die Video-App Tiktok. Ein Obergericht in Chennai hat heute entschieden, die selbst angeordnete Verbannung der App aus den Stores von Google und Apple wieder aufzuheben.
Zuvor hatte das höchste Gericht in Delhi den Fall zurück nach Chennai verwiesen und auf dem Einsatz eines dritten Gutachters gedrängt. Der argumentierte heute, dass ein Gericht die Einschränkung von App-Downloads nicht fordern könne, da es damit geltendem Recht widerspricht. Das Gericht nahm daraufhin die Anordnung unter einer Einschränkungen zurück.
Seinen Anfang nahm der Streit mit einer einstweiligen Anordnung, die das Madras High Court in Chennai Anfang April erlassen hatten. Die Richter warnten darin vor der App; sie degradiere die Kultur und befördere Pornografie. Sie berichteten auch von Suizidfällen und Mobbing auf der Plattform. Außerdem schütze die App ihre jungen Nutzer:innen nicht ausreichend vor Cyber-Grooming. Als Konsequenz sollte der Download der App beschränkt werden. Medien wurde die Nutzung von Tiktok-Videos in der Berichterstattung untersagt und die Regierung dazu aufgefordert, ein Gesetz zum Schutz von Kindern im Internet zu verabschieden.
Google und Apple setzen Wünsche der Regierung um
Tiktok ist ein soziales Netzwerk, in dem vor allem kurze Videoschnipsel geteilt werden. Nutzer:innen können beliebige Videos verfremden, remixen oder mit Musik unterlegen. Außerdem kann man Aufnahmen mit einem eigenen Video kommentieren und so visuell und ohne viel Text aufeinander Bezug nehmen. Indien ist mit über 120 Millionen Nutzer:innen nach China – dort heißt die App Douyin – der zweitgrößte Markt. Die App ist auch unter Jugendlichen in Deutschland beliebt und hat hierzulande gut vier Millionen Nutzer:innen
Am 16. April bat die indische Regierung dann Apple und Google, die App aus ihrem Angebot in Indien zu streichen. Bürgerrechtler:innen kritisierten den Schritt, die Auswahl von Tiktok sei willkürlich und andere Plattformen mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Zudem sei Pornografie nicht illegal, was bei Cyber-Grooming sehr wohl der Fall ist. Die US-Konzerne setzten die Forderung ohne großes Aufsehen um, woraufhin neue Nutzer:innen die App dort vorübergehend nicht mehr herunterladen konnten.
Die Kritik an Tiktok ist auch aus anderen Ländern bekannt. Es gibt Recherchen und Berichte zu Fällen von Cyber-Grooming und sexueller Belästigung Minderjähriger. Die Federal Trade Commission in den USA belegte den chinesischen Konzern ByteDance, dem Tiktok gehört, mit einer Strafe von 5,7 Millionen Euro, weil er achtlos mit den Daten von Kindern umging.
Uploadfilter auch in Indien?
In Indien ist der Fall in zwei politische Entwicklungen eingebettet. Zum einen wird in Indien derzeit gewählt. Die Stimmabgabe läuft noch bis zum 19. Mai, womit sich der Wahlkampf in der heißen Phase befindet. Zumindest vereinzelt werden politische Botschaften und Parodien auch auf Tiktok verbreitet. Es gibt aber keine Untersuchungen darüber, wie wichtig die relativ junge App für den politischen Disksurs ist.
Zum anderen legte die Regierung Ende letzten Jahres einen Entwurf für eine Überarbeitung des indischen IT Acts vor. Die neuen „Intermediary Guidelines“ würden der Rechtswissenschaftlerin Chinmayi Arun zufolge der indischen Regierung weitreichende Befugnisse gegenüber Online-Plattformen im Land geben. Das Gesetz enthält auch eine Verpflichtung für die „proaktive“ Entfernung von „illegalen Informationen und Inhalten“ vor. Damit würden Plattformen zum Einsatz von Uploadfiltern verpflichtet, die Schwelle dafür wäre der schwammige Begriff „illegal“. Access Now kritisierte, dass das Gesetz Menschenrechte einschränke.
Das Gesetz ist noch nicht verabschiedet und so argumentierte der Gutachter heute mit der bestehenden Gesetzeslage. Er sagte, dass App-Anbieter gesetzlich als Intermediäre gelten und keine Haftungspflicht für alle Inhalte auf ihren Plattformen haben. Doch auch die aktuelle Rechtslage ist kritisch zu sehen. Sie entlässt profitorientierte Unternehmen vorschnell aus ihrer Verantwortung, wie Sunil Abraham vom Center for Internet and Society in Bangalore schreibt. Das Gericht schränkte die Aufhebung der Anordnung allerdings ein: Fänden sich weiterhin pornografische Inhalte in der App, könnte der Bann möglicherweise wieder eingesetzt werden. Die Rechtsanwälte von Tiktok beriefen sich im Gericht darauf, dass bereits viele Inhalte automatisiert ausgefiltert würden.
Madras heißt seit 1996 offiziell Chennai.
Danke, ist korrigiert.