Anhörung zum Polizeigesetz: Biometrische Gesichtserkennung bald in halb Sachsen?

Sachsen soll ein neues Polizeigesetz bekommen. Maria Scharlau von Amnesty International hat das Vorhaben als Sachverständige im Landtag heute scharf kritisiert. Im Interview mit netzpolitik.org gibt sie einen Überblick über die umstrittenen Pläne der Landesregierung.

Die Große Koalition in Sachsen plant eine Verschärfung des Landespolizeigesetzes. Widerspruch dagegen war heute sowohl im als auch vor dem Landtag zu hören. – Alle Rechte vorbehalten Sachsens Demokratie

Der sächsische Landtag hat heute eine Anhörung zum neuen Landespolizeigesetz abgehalten. Der Entwurf für das Sächsische Polizeivollzugsdienstgesetz (SächsPVDG-E) ist umstritten, da er polizeiliche Befugnisse auf Kosten der Grundrechte massiv erweitern würde. Da nur zwei von 15 Sachverständigen aus dem Bereich der Zivilgesellschaft kamen, haben Aktivist*innen heute gegenüber, vor und in dem Landtag protestiert. Für Amnesty International war Maria Scharlau als Sachverständige geladen. Wir haben sie zu einigen Aspekten des Gesetzentwurfes befragt:

Gesichtserkennung bald im halben Freistaat

netzpolitik.org: Wir erleben derzeit eine ganze Welle der Verschärfungen von Landespolizeigesetzen. Wie ähnelt oder unterscheidet sich der sächsische Entwurf von anderen Bundesländern?

Maria Scharlau: Der sächsische Gesetzentwurf enthält neue Regelungen zur elektronischen Fußfessel (§ 61 SächsPVDG-E) und zu Aufenthaltsverboten und -geboten sowie Kontaktverboten (§ 21). Außerdem wird die Möglichkeit der präventiven Telekommunikationsüberwachung neu eingeführt (§ 63) und ergänzt durch Maßnahmen wie der Unterbrechung von Telekommunikation oder der Lokalisierung von Endgeräten. Die bereits existierende, neu formulierte Möglichkeit zur Kfz-Kennzeichen-Erfassung (§ 58) soll ergänzt werden durch eine offene Videobeobachtung im Straßenverkehr (§ 59). Diese soll sowohl Kfz-Kennzeichen als auch „biometrische Daten“ erfassen, wie es in der Gesetzesbegründung heißt.

Nicht vorgesehen sind bislang Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Staatstrojaner) und Onlinedurchsuchung. In der Sachverständigenanhörung wurden diese Maßnahmen trotzdem intensiv diskutiert, weil die geladenen Vertreter*innen der Polizeigewerkschaften und des BKA ihre Einführung forderten.

netzpolitik.org: Die Pläne für die Einführung einer flächendeckenden Videoüberwachung mit Gesichtserkennung im 30-Kilometer-Umkreis der Landesgrenze ist eine sächsische Besonderheit. Das Vorhaben wird von deutschen, polnischen und tschechischen Bürgerrechtlern kritisiert. 30 Kilometer klingt harmlos, aber der Eindruck täuscht, oder?

Maria Scharlau: Tatsächlich sind die umstrittenen Maßnahmen aus § 59 des Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes zwar auf den 30-Kilometer-Grenzbereich beschränkt, davon sind Schätzungen zufolge aber bis zu 50% der Fläche Sachsens und einige wichtige Städte betroffen. In der Anhörung wurde außerdem zu Recht die Frage aufgeworfen, mit welchen Datenbanken die erfassten biometrischen Daten abgeglichen werden sollen. Die für den Abgleich vorgesehenen Personen, die zur polizeilichen Beobachtung ausgeschriebenen sind (§ 60 Abs.2 SächsPVDG-E), werden schließlich gar nicht mit Foto erfasst.

Fast das halbe Bundesland und Teile der Städte Chemnitz und Dresden liegen in der 30-Kilometer-Zone entlang der Grenze. - Sachsens Demokratie

„Rechtssicherheit sieht anders aus“

netzpolitik.org: Durch eine gesunkene Eingriffsschwelle kommt mit vielen der neuen Polizeigesetze ein Paradigmenwechsel zum präventiven Polizeieinsatz: Statt sich auf Verbrechensaufklärung zu konzentrieren, werden die Befugnisse der Polizei auf den Bereich vor der Begehung einer Straftat ausgedehnt, um „drohende Gefahren“ zu verhindern. Ist das auch in Sachsen geplant?

Maria Scharlau: Die „drohende Gefahr“, wie sie im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz geregelt ist, wird nicht als gesonderte Gefahrendefinition übernommen. De facto ist sie aber Voraussetzung für viele Eingriffsbefugnisse.

Die Polizei darf auch jetzt schon vor der Begehung einer Straftat eingreifen und diese verhindern. Allerdings muss die Tat dann konkret bevorstehen – der befürchtete Schaden muss jederzeit eintreten können. Nach dem sächsischen Gesetzentwurf könnte die Polizei eingreifen, lange bevor es „brenzlig“ wird. Die Polizei darf dann zum Beispiel ein Telefon überwachen, wenn „Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Person in absehbarer Zukunft eine ihrer Art nach konkretisierte erhebliche Straftat begeht“. Unverständlich? Finden wir auch. Aus Sicht von Amnesty International gibt diese „Definition“ überhaupt keinen Aufschluss darüber, was für Anhaltspunkte vorliegen müssen. Das heißt, für die Bürger*innen ist nicht vorhersehbar, welches Verhalten sie ins Visier der Polizei bringt. Rechtssicherheit sieht anders aus.

netzpolitik.org: Amnesty International kritisiert unter anderem, dass viele entscheidende Begriffe im Gesetzentwurf zu vage formuliert sind. Warum bleibt der Gesetzgeber so vage und wo liegt die Gefahr?

Maria Scharlau: Warum der Gesetzgeber so vage bleibt, fragen wir uns auch. Darin liegt ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot und letztlich gegen die Rechtssicherheit. Natürlich wird dadurch der Handlungsspielraum der Polizei maximiert, weil letztlich jedes Verhalten als Anhaltspunkt für eine zukünftige Straftatbegehung deklariert werden kann. Tatsächlich besteht daher aus menschenrechtlicher Sicht die Gefahr, dass auch menschenrechtlich geschütztes Verhalten als verdächtig für die Zukunft gewertet werden kann. Im schlimmsten Fall überlegen sich die Menschen dann zweimal, ob sie politisch aktiv werden, ob sie zu einem Vereinstreffen gehen, ob sie an einer Versammlung teilnehmen, weil sie befürchten, dass dieses Verhalten als Indiz für eine spätere Straffälligkeit gewertet werden könnte.

netzpolitik.org: Überall in der Republik regt sich massiver Protest gegen die Verschärfung der Polizeigesetze. Auch in Sachsen gibt es ein breites Bündnis: Gerade findet eine Aktionswoche statt, 20.000 Menschen haben eine Petition unterzeichnet, am kommenden Samstag wird ab 14 Uhr auf dem Wiener Platz in Dresden protestiert. Gibt es Hoffnung, dass die Große Koalition im Freistaat auf den Widerstand eingeht?

Maria Scharlau: Im besten Fall unterziehen die Regierungsparteien ihren Gesetzentwurf nach der Anhörung und angesichts des breiten Protests noch einmal einer gründlichen Überprüfung. Allerdings ist klar, dass die CDU eigentlich noch mehr wollte, beispielsweise Quellen-Telekommunikationsüberwachung und Online-Durchsuchung. Insofern ist auch das Risiko nicht ganz ausgeschlossen, dass es bei einer Neuverhandlung auch zu Verschärfungen kommt.

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3 Ergänzungen

  1. Mit dem Beginn der Diskussion über das neue sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetz (SächsPVDG-E), dem geleakten Entwurf im April ’18, wartet die Öffentlichkeit vergeblich auf eine Stellungnahme des Landesbeauftragten für den Datenschutz (LfD) in Sachsen; auch oder gerade, weil sich jetzt bereits abzeichnet, dass die Bürgerinnen und Bürger – durch das neue PVDG – grundlegende Einschränkungen beim Datenschutz hinnehmen müssen.
    In Bezug auf dieses Thema stellen sich Fragen: War der LfD Sachsen beim Entwurf des neuen sächsischen PVDG beratend tätig oder wurde er bei einzelnen Punkten (z.B. Videoüberwachung/Gesichtserkennung) um Rat gefragt? Gibt es von Seiten des LfD Sachsen Kritik am neuen sächsischen PVDG?
    Gerade die Rechtsgrundlagen (§ 84 Abs. 3 u. 4, § 88 Abs. 1) zur “Übermittlung von personenbezogenen Daten an nichtöffentliche Stellen“ erweisen sich hierbei als problematisch (siehe Link/URL unten).

    Intransparente Kooperation: Das neue sächsische Polizeiaufgabengesetz

    http://trend.infopartisan.net/trd1018/t211018.html

  2. Die „drohende Gefahr“ die es hier präventiv zu bekämpfen gilt ist, das sich 08/15 Bürger gegen die aktuellen Bemühungen der aktuellen Regierung wenden könnte.
    Präventiv werden „Rädelsführer“ mit einem Terrorismusverdacht versehen und so aus dem sozial-politischen Geschehen gezogen.
    Gefährdungslage durch Oppositionelle gebannt!

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.