Vorratsdatenspeicherung: Europäischer Gerichtshof verhandelt am 9. Juli – und stellt „revolutionäre Fragen“ (Update)

Der Europäische Gerichtshof will wissen, wie sich aus Vorratsdaten Persönlichkeitsprofile erstellen lassen und was das für das Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten bedeutet. Das geht aus den Fragen des Gerichts an die Verfahrensbeteiligten hervor, die wie an dieser Stelle veröffentlichen. Die Verhandlung über die Zukunft der Richtlinie findet am 9. Juli statt – ein Urteil wird nächstes Jahr erwartet.

Am 9. Juli wird der Europäische Gerichtshof die Klagen von Irland und Österreich gegen die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung behandeln. Das oberste Gericht soll klären, ob die anlasslose Überwachung sämtlicher Telekommunikation in Europa mit den Grundrechten vereinbar ist.

Die Fragen des Gerichts zeugen wohl von „viel Skepsis gegenüber der Vorratsdatenspeicherei“, wie Heribert Prantl auf süddeutsche.de beschreibt:

Die Richter erkunden die Zielsetzung und den Nutzen der Vorratsdatenspeicherung, sie wollen wissen, „ob und inwieweit es möglich ist, anhand der gespeicherten Daten Persönlichkeitsprofile zu erstellen und zu benutzen, aus denen sich das soziale und berufliche Umfeld einer Person, ihre Gewohnheiten und Tätigkeiten ergeben“. Sie wollen wissen, warum eine Speicherung der Daten über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erforderlich sein soll. Sie wollen wissen, welche Statistiken es gibt, aus denen sich schließen lässt, „dass sich die Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten seit dem Erlass der Richtlinie verbessert hat“.

Die Verteidiger der Vorratsdatenspeicherung werden sich da schwertun; solche Statistiken gibt es nämlich nicht. Die Richter weisen auch darauf hin, dass sich der „Schutz der personenbezogenen Daten auf das absolut Notwendige beschränken“ muss, und sie fragen, ob „angesichts der Bedeutung der betroffenen Grundrechte“ davon ausgegangen werden könne, dass „die Sicherheitsvorkehrungen hinreichend präzise sind, um einen Missbrauch zu verhindern“.

Den Ablauf der Verhandlung hatte Erich Moechel auf fm4.orf.at beschrieben:

Das Verfahren geht auf eine Reihe von Klagen aus Österreich gegen die Vorratsdatenspeicherung sowie eine Klage aus Irland zurück, die vom EuGH zusammengelegt wurden. Bei den österreichischen Klägern handelt es sich um die Bürgerinitiative Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die über 11.000 österreichische Mitkläger vertritt. Dazu kommen eine Einzelklage eines IT-Managers aus Österreich sowie eine der Kärnter Landesregierung.

Den Anwälten dieser drei Beteiligten wird in der mündlichen Verhandlung 15 Minuten Redezeit eingeräumt, ebenso der österreichischen Datenschutzkommission. Weiters zu Wort kommen die Anwälte der Bürgerrechtsorganisation Digital Rights Ireland, deren Klage vor dem irischen Verfassungsgericht im Juni 2012 an den EuGH ergangen war. Anders als die österreichischen hatten die irischen Verfassungsrichter zwei Jahre gebraucht, um das entsprechende Verfahren vor dem EuGH einzuleiten.

Nach Stellungnahmen mehrerer EU-Mitgliedsstaaten, von Vertretern von EU-Kommission und Ministerrat, hat Peter Hustinx, der EU-Beauftragte für Datenschutz, das letzte Wort.

Das macht doch etwas mehr Hoffnung als die absehbare Entscheidung des Gerichts, dass Fingerabdrücke in Pässen rechtmäßig sind.

Ein Urteil ist dann im nächsten Jahr zu erwarten.

Update: Wir haben die Fragen erhalten und veröffentlichen sie hier mal (Englisch hier):

Bitte um Konzentration der mündlichen Ausführungen und Fragen zur Beantwortung in der mündlichen Verhandlung

I.

Die Verfahrensbeteiligten werden gemäß Art. 61 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs gebeten, ihre jeweiligen Standpunkte aufeinander abzustimmen, um Wiederholungen zu vermeiden, und ihr Vorbringen auf die Vereinbarkeit der Richtlinie 2006/24 mit den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte sowie auf die unter II genannten Fragen zu konzentrieren.

II.

1. Die Verfahrensbeteiligten werden gebeten, sich in der mündlichen Verhandlung dazu zu äußern, ob die nach der Richtlinie 2006/24 vorgesehene Vorratsspeicherung von Daten dem Ziel der Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten dienen kann. Sie werden in diesem Zusammenhang um eine Erläuterung gebeten, welche Auswirkungen es hat, dass zahlreiche Möglichkeiten zur anonymen Nutzung der elektronischen Kommunikationsdienste bestehen.

2. Die Verfahrensbeteiligten werden gebeten, in der mündlichen Verhandlung zu erläutern, ob und inwieweit es möglich ist, anhand der gespeicherten Daten Persönlichkeitsprofile zu erstellen und zu benutzen, aus denen sich – unabhängig von der Frage nach der Rechtmäßigkeit eines derartigen Vorgehens – das soziale und berufliche Umfeld einer Person, ihre Gewohnheiten und Tätigkeiten ergeben.

3. Wie ist – insbesondere unter Berücksichtigung der Antwort auf die Frage zu II.2 – der Eingriff in die nach den Art. 7 und 8 der Charta gewährleisteten Grundrechte von Personen zu beurteilen, deren Daten gespeichert wurden?

4. Die Verfahrensbeteiligten werden gebeten, in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach der Unionsgesetzgeber verpflichtet ist, seine Entscheidung auf objektive Kriterien zu stützen, in der mündlichen Verhandlung folgende Fragen zu beantworten:

a. Auf Welche objektiven Kriterien hat der Unionsgesetzgeber seine Entscheidung beim Erlass der Richtlinie 2006/24 gestützt?

b. Aufgrund welcher Daten konnte der Gesetzgeber den Nutzen der Vorratsspeicherung von Daten für die Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten einschätzen?

c. Aufgrund welcher Daten konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass eine Speicherung der Daten über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erforderlich ist?

d. Gibt es Statistiken, die darauf schließen lassen, dass sich die Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten seit dem Erlass der Richtlinie 2006/24 verbessert hat?

5. Wenn ein von der Rechtsordnung der Union geschütztes Grundrecht und ein von dieser Rechtsordnung geschütztes, im allgemeinen Interesse liegendes Ziel einander gegenüberstehen, setzt die Verhältnismäßigkeit einer Beschränkung des Grundrechts gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs voraus, dass die Anforderungen an den Schutz des Rechts mit dem fraglichen Ziel in Einklang gebracht werden. Die hierfür notwendige ausgewogene Gewichtung muss vor Erlass der fraglichen Maßnahme erfolgen. Außerdem müssen sich die Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf den Schutz der personenbezogenen Daten auf das absolut Notwendige beschränken.

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung werden die Verfahrensbeteiligten gebeten, in der mündlichen Verhandlung folgende Fragen zu beantworten:

a. Hat der Unionsgesetzgeber vor Erlass der Richtlinie 2006/24 eine ausgewogene Gewichtung zwischen den Anforderungen an den Schutz der Grundrechte und dem im vorliegenden Fall in Rede stehenden, im allgemeinen Interesse liegenden Interesse vorgenommen? Hat er in diesem Zusammenhang die Bedeutung der nach den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte gewährleisteten Grundrechte und die Tatsache, dass zahlreiche Möglichkeiten der anonymen Nutzung elektronischer Kommunikationsdienste bestehen, berücksichtigt?

b. Kann angesichts der Bedeutung der betroffenen Grundrechte davon ausgegangen werden, dass die Sicherheitsvorkehrungen, die der Gesetzgeber für die auf Vorrat gespeicherten Daten erlassen hat, erforderlich und hinreichend präzise sind, um einen etwaigen Missbrauch zu verhindern? Ist es angesichts dieser Vorkehrungen möglich, dass der Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste im Sinne der Richtlinie 2006/24 die erforderliche Datenspeicherung an andere Dienstleister in anderen Mitgliedstaaten oder in Drittstaaten auslagert, insbesondere wegen der Kosten dieser Speicherung? Welche Auswirkungen hat eine solche Auslagerung der Datenspeicherung auf die Sicherheit der Daten?

c. Kann – insbesondere unter Berücksichtigung der Antwort auf die Frage zu 11.5.3 – davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber den Eingriff in die betroffenen Grundrechte auf das absolut Notwendige beschränkt hat?

III.

Der Europäische Datenschutzbeauftragte wird gemäß Art. 24 Abs. 2 der Satzung gebeten, in der mündlichen Verhandlung auf die unter II aufgeführten Fragen zu antworten.

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7 Ergänzungen

  1. Wer sind denn „Die Verfahrensbeteiligten“?

    Kläger, Zeugen oder Sachverständige?

    Sven

    1. Ich hab das Zitat von Erich Moechls Artikel mal ausgetauscht durch diese Informationen zu den Beteiligten.

  2. „Die Richter weisen auch darauf hin, dass sich der “Schutz der personenbezogenen Daten auf das absolut Notwendige beschränken” muss […]“

    Äh, freudscher Verschreiber? Oder verstehe ich da irgendetwas falsch?

    1. Weder noch – siehe Punkt 5 der vollständigen Fragen:
      „Außerdem müssen sich die Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf den Schutz der personenbezogenen Daten auf das absolut Notwendige beschränken.“

  3. Geht es in der Klage um die aktuelle Richtlinie der EU-Kommission, oder ist da schon eine überarbeitete Version draußen? Soweit ich weiß wird ja an einer neuen gearbeitet, da die alte die Vorratsdatenspeicherung nicht mit Sicherheits- sondern mit Wettbewerbsaspekten begründet.
    Deshalb kann die auch ganz locker z.B. von Deutschland nicht umgesetzt werden, weil sich die Kommission auf dieser Grundlage hütet, da auf Durchsetzung zu klagen. Wegen eben dieser irrationalen Begründung auf gleichen Wettbewerb zwischen den Telekommunikations-Dienstleistern würde die nämlich zu 95% vom EuGH für nichtig erklärt werden.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.