Internationale Fernmeldeunion: War das offene Internet noch nie so bedroht wie heute?

Wollen die Vereinten Nationen das Internet übernehmen? Ende des Jahres trifft sich die Internationale Fernmeldeunion, um neue Vorschriften zur Telekommunikation zu verabschieden. Darunter sind auch gefährliche und weitreichende Vorschläge zum Internet. Doch die größere Frage dahinter ist: (Wie) soll das Internet global regiert werden?

Internationale Fernmeldeunion

Die Internationale Fernmeldeunion (englisch: International Telecommunication Union, ITU) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen (UN), die sich mit technischen Aspekten der Telekommunikation beschäftigt. (Wikipedia) Intern besteht die ITU aus drei Bereichen: Standardisierung, Radio-Kommunikation und Entwicklung. Mitglied in der ITU sind alle 193 UN-Mitgliedstaaten, außer der Inselstaat Palau.

Die ITU ist Nachfolgerin des Internationalen Telegraphenvereins, der 1865 gegründet wurde. Mittlerweile ist ihr Feld die klassische Telefonie, vor allem große Telefongesellschaften bringen sich ein. Mit den rasanten Veränderungen der internationalen Kommunikation durch das Internet konnte die ITU bisher nicht mithalten. Nun gibt es Bestrebungen, der ITU Kompetenzen über bestimmte Internet-Angelegenheiten zu geben und sie zur führenden, internationalen Organisation für Internetsicherheit zu machen. Doch die ITU ist geschlossen, undemokratisch und langsam.

Als Digitale Gesellschaft e.V. kritisieren wir die ITU:

als intransparentes Bürokratiemonster, bei dem alles hinter verschlossenen Türen verhandelt wird und jegliche Dokumente unter Verschluss bleiben. Durch die hohen Mitgliedsbeiträge sind weder Vertreter der Zivilgesellschaft noch unabhängige Akademiker Mitglied der Internationalen Fernmeldeunion. Stimmberechtigt sind in dem Gremium allein die ITU-Mitgliedstaaten, die bislang in der globalen Aufsichtsstruktur über das Netz nur eine Gruppe unter vielen Akteuren waren.

Weltkonferenz zur internationalen Telekommunikation

Ende Dezember veranstaltet die ITU die Weltkonferenz zur internationalen Telekommunikation (WCIT) in Dubai. Dort sollen die Internationalen Telekommunikations-Regulierungen (ITRs) überarbeitet werden. Die ITRs sind ein weltweit geltender Vertrag für den Betrieb und die Abrechnung internationaler Telekommunikationsdienste. Sie wurden 1988 verabschiedet, also noch vor dem Internet-Zeitalter.

Weil der ganze Prozess so intransparent ist, haben die beiden amerikanischen Akademiker Jerry Brito und Eli Dourado die Seite WCITLeaks aufgesetzt, auf der sie eingesendete Dokumente zur Weltkonferenz veröffentlichen. Und dort ist tatsächlich der Entwurf für die neuen Regeln aufgetaucht. Die Forscher fassen zusammen:

Mehrere Vorschläge würden der UN erstmals die Macht geben, Online-Inhalte zu regulieren, unter dem Deckmantel vom Schutz gegen Malware oder Spam. Russland und einige arabische Staaten wollen die Möglichkeit private Kommunikation wie E-Mail zu inspizieren. Russland und Iran schlagen neue Regeln vor, Internet-Verkehr an nationalen Grenzen zu messen und diesem vom Urheber bezahlen zu lassen, wie bei internationalen Telefonaten.

Ein weiterer Vorschlag würde den UN Autorität über die Zuteilung von IP-Adressen geben. Damit soll ICANN abgelöst werden, die privatrechtliche Non-Profit-Organisation, die bis 2009 dem US-Handelsministerium unterstand.

Auch der Verband der Europäischen Telekommunikationsnetz-Berteiber (European Telecommunications Network Operators‘ Association, ETNO) fordert gefährliches:

Ein neues Ökosystem für IP-Verbindungen, das End-to-End Quality of Service zusätzlich zu Best-Effort bietet, so dass folgendes ermöglicht wird:

  • die Bereitstellung von Mehrwert-Netzdiensten für End-Kunden, Over-the-top content Anbietern und Inhalte-Anbietern und
  • eine Besinnung auf den Wert der Datenübertragung über Netzwerk-Infrastrukturen.

Vom Bullshit-Bingo übersetzt heißt das: Man will die Netzneutralität abschaffen und sich Internet-Traffic doppelt bezahlen lassen.

Protest gegen die neuen Befugnisse

Glücklicherweise stoßen diese Vorschläge auf Widerstand. Die amerikanische Organisation Accessnow.org hat eine Petition aufgesetzt, die schon über 28.000 Unterschriften hat:

Das Internet gehört uns allen – nicht Regierungen, und schon gar nicht der ITU. Wir fordern sie auf, ihre vorbereitenden Dokumente freizugeben, die Rolle des Nutzer/innen anzuerkennen, und alle Vorschläge abzulehnen, welche die Kontrolle über das Internet zentralisieren könnten.

Der Informatiker Vint Verf, der auch als „Vater des Internets“ bezeichnet wird, wählt drastische Worte in der New York Times: „Das offene Internet war noch nie so bedroht wie heute.“

Gordon Crovitz befürchet im Wall Street Journal, dass „autoritäre Regime die Mehrheit der UN-Staaten lobbyieren, um mit ihnen zu stimmen“, so würden „autoritäre Staaten eine obskure UN-Organisation übernehmen“.

Dafür dient vor allem ein Zitat von Wladimir Putin, der „internationale Kontrolle über das Internet schaffen will“, und zwar mit den „Überwachungs- und Aufsichts-Funktionen“ der ITU.

Auch der US-Kongress macht dagegen mobil. In einer Resolution wird gefordert:

das Multi-Stakeholder Governence-Modell zu erhalten und weiterzuentwickeln, unter dem das Internet so erfolgreich geworden ist.

Die Interessen der Gegner

Leider ist die Welt nicht so einfach. Einerseits stammen alle genannten Kritiker aus den USA.

Schon ganz allgemein gibt es eine Reihe von Konflikten zwischen den USA und den UN. Im aktuellen Beispiel führt das dann auch zu Schlagzeilen wie: Die UNO will amerikanische Webseiten besteuern und USA warnen: UNO-Übernahme des Internets muss gestoppt werden.

Es ist kein Wunder, dass amerikanische Interessen lieber am Status Quo festhalten wollen, weil wichtige Organisationen der aktuellen Internet-Governance mindestens eine Nähe zu den USA haben:

  • Internet Corporation for Assigned Names and Numbers: ICANN, zuständig für Top-Level-Domains und DNS-Root, sitzt in Kalifornien und speist seine Unabhängigkeit aus einem Vertrag mit dem US-Handelsministerium.
  • Internet Engineering Task Force: IETF, zuständig für Standards und RFCs, sitzt in Kalifornien und wird von der National Security Agency bezahlt.
  • Internet Assigned Numbers Authority: IANA, zuständig für die Zuordnung von IP-Adressen, sitzt in Kalifornien und hat seine Ursprünge im US-Verteidigungsministerium.

Neben dem Gegensatz „USA vs. UN“ kann man auch einen Konflikt „Markt vs. Staat“ ausmachen. So war Vinton Cerf nicht nur ICANN-Vorstand und Gründer der Internet Society (ISOC), sondern ist mittlerweile Vize-Präsident und „Chief Internet Evangelist“ bei Google. Auch wenn Google-Forscher durchaus kluge Sachen zur ITU sagen, bleibt doch mindestens ein Gschmäckle.

Der Wall Street Journal-Kolumnist Gordon Crovitz war sogar Herausgeber dieser Zeitung und Vizepräsident des Verlagshauses Dow Jones. Diese Entitäten sind ohnehin nicht gerade Fan von (staatlicher) Regulierung und vertrauen oft in die Selbst-Regulierungskräfte des Marktes. Der, ebenfalls amerikanische, Professor Milton Mueller spricht dann auch von einem markt-orientierten Internet.

Valide Kritik der Befürworter

Logisch, dass sich Staaten außerhalb Nordamerikas und Europas gegen diese Art der Internet-Governance wehren, deren ihre Unabhängigkeit von den USA mindestens fragwürdig ist und zu denen sie teilweise gar keinen Zugang haben.

Die Praxis hat ja bereits gezeigt, dass das zum Problem werden kann. Ein Beispiel sind die Beschlagnahmen von Domains durch das US-Ministerium für Innere Sicherheit, auf denen angeblich amerikanisches Copyright verletzt werden soll, die aber teilweise in ihren Staaten legal sind.

Mit Gesetzen wie SOPA, PIPA und ACTA soll sogar direkt amerikanisches Recht in den Rest der Welt exportiert werden. Obwohl die TLDs .com, .net und .org laut RFC generisch sind, werden sie von amerikanischen Organisationen wie VeriSign betrieben. Laut SOPA sollte deswegen dort auch amerikanisches Recht gelten. Michael Geist nennt weitere Beispiele.

Diese Art von nationalen Regelungen sind mit dem globalen Internet nicht zu machen. Weder amerikanische Gesetze, noch amerikanische Firmen dürfen entscheiden, was im Internet erlaubt ist. Das Internet geht alle Menschen und alle Staaten der Erde an. Ist es da nicht valide, das bisher in allgemeinen Internet-Fragen eher benachteiligte Staaten wie Russland, China, oder auch kleine Staaten, versuchen, die Debatte in eine Organisation der Vereinten Nationen zu lenken?

(Wie) soll das Internet global regiert werden?

Während sich die Akademiker noch streiten, ob die ITU das Internet übernehmen will oder nicht, sind mit den eingangs präsentierten Anträgen von Russland und Iran durchaus gefährliche Vorschläge auf dem Tisch. Mancher vorgeschlagene Schwachsinn hat glücklicherweise keine Chance, anderer aber vielleicht schon. Das Problem ist, dass wir nicht wissen können, was zu welcher Kategorie gehört. Denn alles ist geheim.

So, wie die ITU derzeit funktioniert, kann sie keine legitime Organisation zur Internet-Governance werden. Sie ist zu geschlossen, undemokratisch und intransparent. Zudem ist fraglich, ob sie sich aus ihrer Perspektive der klassischen Telefonie überhaupt an das Internet anpassen kann.

Um die Fehler von ACTA nicht zu wiederholen, brauchen wir auch in ITU und WCIT eine radikale Transparenz der Verhandlungen und aller Dokumente.

Zudem müssen die Befürchtungen derjenigen Staaten ernst genommen werden, die kein Vertrauen in die USA und EU in puncto Internet-Gesetzgebung und -Kontrolle haben. Dazu braucht es ein Bewusstsein über die Gründe dieser Staaten.

Vom reinen Output her scheinen die bisherigen Strukturen zur Internet-Governance das kleinere Übel gegenüber der ITU zu sein. Da jedoch auch diese problembehaftet sind, brauchen wir dringend neue Struktur zu globalen Internet-Fragen. Dabei müssen alle Akteure eine richtige Stimme haben. Neben den bisher benachteiligten Staaten gilt das vor allem für die Zivilgesellschaft.

14 Ergänzungen

  1. Bei aller notwendigen und hoffentlich anwachsenden Kritik an den Bestrebungen der Staaten via ITU muss doch auch festgehalten werden, dass „in einer anderen Ecke der UNO“, nämlich dem Internet Governance Forum (IGF), das 2005 aus dem UN World Summit on Information Society hervorgegangen ist, positive Ansätze zum Dialog zwischen Zivilgesellschaft, Staaten und Wirtschaft gibt.

    Die Bedeutung dieses Multi-Stakeholder-Ansatzes sollte nicht unterschätzt werden. Die Kritik am Vorgehen der Staaten via ITU sollte nicht mit einem generellen UNO-Bashing einhergehen.

    Prof. Wolfgang Kleinwächter (aktiver „Zivilgesellschafter“ beim IGF) hat dazu zwei lesenwerte Artikel auf telepolis geschrieben:

    „Kalter Krieg im Cyperspace oder konstruktiver Dialog? – Ein Ausblick auf die internationale Netzpolitik in 2012“
    http://www.heise.de/tp/artikel/36/36266/1.html

    und

    „Eine partizipatorische Internetpolitik entwickelt ein neues Politikmodell – Bericht vom 6. IGF-Gipfel im September 2011 in Nairobi“

    http://www.heise.de/tp/artikel/35/35612/1.html

    1. Prof. Kleinwächter ist ja auch ein WSIS / IGF Groupie.

      Nicht nur für den Protestanten gibt es die goldene Regel, dass es sündig ist unserem lieben Herrgott den Tag zu stehlen, und diplomatische UN-Meta-Konsultationsprozesse ad nauseam und Konferenzen, bei denen nichts rum kommt, das ist den meisten dann doch zu schade, die lieber was erreichen wollen. Sicher, dann fahren wir mal nach Nairobi um an einer Regierungskonferenz teilzunehmen… Warum nicht? Aber das ist doch kein Modell des Regierens! Die meisten NGOs sind nicht in der komfortablen Situation wie Professoren mit Forschungsprojekt zum Thema, die fühlen sich dem Prinzip der Effizienz ihrer Mittel verpflichtet.

      Und was das amerikanische ITU-Bashing angeht, da erwarte ich mir nicht „Multi-Stakeholder“ als Alternative sondern demokratische Gesetzgebung. Wenn Du erfahren willst, warum Multi-Stakeholder keine gute Governanzmethode ist, beobachte einfach die EU-Kommission.

  2. … das übliche, es wird durch’s Wiederholen nicht richtiger:

    Wieso ist die ITU geschlossen und undemokratisch, wenn idR für die Länder (in DE, zB. BWi und BnetzA) Ministerien oder Staatseinrichtigen drin sitzen?

    1. Weil die Bevölkerung bis nach der Entscheidung überhaupt nichts von Verhandlungen oder Dokumenten mitbekommt. Wie bei ACTA.

      1. Das solltest du aber dem BWi oder der BnetzA vorwerfen, und nicht der ITU.

        Du musst nicht antworten, ich kenne das jetzt schon: Einfach viel viel fordern, aber nicht mitarbeiten…

      2. Überzeugt mich nicht.

        Insbesondere wenn die Alternative ein amerikanisch dominiertes DNS Kartell ist, das von good governance und Schlankheit weit entfernt ist. Die Rolle von ICANN sollte meinem Vorschlag nach die ISO/IEC übernehmen. Dann fänden die WTO-TBT Regeln u.a. auch Anwendung.

  3. Entschuldigung, aber da stimmt doch einiges nicht. Die zitierten Vorschläge stammen wie richtig dargestellt von den Mitgliedsorganisationen/staaten, und nicht von der ITU selbst. Wie bei jeder Verhandlungsrunde, kommt da jeder mal mit seiner Idee an, die dann aber natürlich nicht zwangsläufig auch angenommen werden wird. Nur weil China nen Zensurvorschlag macht, wird der sicher keine Konsens finden etc.

    Auch das Prinzip der UN wird hier nicht richtig verstanden, denn „UN vs USA“ suggeriert, dass die „UN“ hier ein Player mit eigener Agenda wäre. Das ist aber so nicht richtig. UN-Organisationen arbeiten grundsätzlich mit Mandaten, die sie von der UN-Generalvollversammlung bekommen haben. Anders ausgedrückt, die USA sind Teil der UN und sind innerhalb der UN anderer Auffassung, als andere Mitgliedsstaaten. Auch die ITU mit der UN gleichzusetzen ist nicht zielführend und greift viel zu kurz. Eine etwas differenzierte Berichterstattung wäre bei diesem Thema schon wünschenswert, da auch sonst im Netz dazu schon viel substanzlose Panikmache vorherrscht…

    1. Na klar sind das Vorschläge von Einzelstaaten. Das Problem ist aber, dass völlig unklar ist, welche Vorschläge eine Mehrheit finden können und welche nicht. Eben weil die Öffentlichkeit keinerlei Einblick in Vorbereitungen und Entscheidungsprozesse hat.

      Mit „UN vs USA“ meinte ich nicht die Kämpfe innerhalb der ITU, sondern die Frage, ob Internet-Governance der ITU oder ICANN/IETF/IANA (und damit verkürzt: USA) zustehen soll.

      Die ITU habe ich nicht mit der UN gleichgesetzt.

    2. Nur weil China nen Zensurvorschlag macht, wird der sicher keine Konsens finden etc.

      Warum nicht? Weil er aus China kommt?
      Ich glaube, wenn genug Mitgliedsstaaten sich in einem Vorschlag wiederfinden, ist es egal, welches Land den eingebracht hat.

  4. OT: Generell fände ich es förderlicher, wenn wir hier in den Kommentaren nicht ein besserwissendes Gegeneinander, sondern ein zusammenfindendes Miteinander an den Tag legen würden.

    Hier schreiben ja nicht allwissende Leute, die hier hochbezahlt und exklusiv an einem Fachgebiet dran sitzen, sondern hier näheren wir uns gemeinsam einer/mehrerer Positionen an, getrieben von dem gemeinsamen Wunsch, das Web bürgerrechtlich, emanzipiert und möglichst frei zu halten/zu machen.

    Mehr konstruktives Ergänzen/Korrigieren (mit ein wenig mehr Info als nur „stimmt nicht, ätschibätsch“) bringt uns voran, nicht nerdiges Micro-Bashing. (wobei gegen ein paar Emotionen im Paket natürlich nichts einzuwenden ist – we are no mashines ;)

    1. +1

      Gesunder Menschenverstand ist gegenüber Feindbildern im Vorteil. Hier geht es vor allem um viel Geld und Macht, und die Frage nach der richtigen Ordnung. Wie wäre es mit der Annahme, dass ITU und(!) ICANN Mist sind? Was dann? Welche Parameter stehen auf den Achsen der Governanz und werden gespielt?

  5. Die ITU, das waren die mit den OSI Protokollen. Das will man ganz bestimmt nicht, dass die im Internet mehr zu sagen haben!

    Gruss

    Sven

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.