Schülerin über ChatkontrolleJugendschutz bedeutet Datenschutz

Unsere Autorin ist 16 Jahre alt und lehnt die von der EU-Kommission geplante Chatkontrolle ab – „als würden Anbieter heimlich Gespräche in meinem Zimmer belauschen.“ Ein Kommentar.

Die Autorin und ein Smartphone
Carla Siepmann erwartet im Netz die gleiche Vertraulichkeit wie in analoger Kommunikation – Porträt: Kauffmann Studios; Handy: Carla Siepmann; Montage: netzpolitik.org

„Bist du Jungfrau?“ – das ist häufig die erste Frage, die mutmaßlich erwachsene Männer stellen, wenn man sich auf anonymen Chatportalen als junges Mädchen zu erkennen gibt. Diese Erfahrung habe ich gemacht, als ich es mit 13 Jahren für eine gute Idee hielt, Omegle auszuprobieren. Das ist eine Plattform für Video- und Textchats, auf der man mit zufälligen Chatpartnern verbunden wird.

Solche Anbahnungen heißen Cybergrooming. Sie kommen von in der Regel deutlich älteren Männern und enden nicht selten in weiteren expliziten Nachrichten – oder der Aufforderung Nacktbilder zu versenden. Teilweise drängen die Männer auch auf Videotelefonate oder gar Treffen.

Begegnungen wie diese geschehen im Netz ständig und betreffen viele minderjährige Mädchen, die sich häufig aus Neugier auf solchen Chatportalen bewegen. Oft locken mutmaßliche Groomer Mädchen an einen anderen virtuellen Ort für engeren Austausch, etwa der Messenger Kik, teilweise auch Snapchat oder Telegram, seltener Instagram. Das sind Dienste, bei denen man die eigenen Kontaktdetails wie Telefonnummer oder E-Mailadresse vor seinem Gegenüber verbergen kann. Die Groomer nutzen diese Dienste wohl, weil sie sich dort anonym und sicher fühlen.

Dass ein fremder Mann im Netz WhatsApp, Signal oder gar E-Mail-Kontakt vorschlägt, habe ich noch nie erlebt oder gehört. Die EU-Kommission möchte nun aber, dass Anbieter auf Anordnung alle privaten Chats automatisch durchleuchten – die sogenannte Chatkontrolle.

Bilder vom Baden am See, Gespräche über den neuen Crush

Cybergroomer besser zu verfolgen ist ein löblicher Anspruch. Meine eigenen Erlebnisse, Erfahrungsberichte aus sozialen Medien und wissenschaftliche Erhebungen zeigen, wie dringend notwendig die Eindämmung von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige im Netz ist.

Jedoch bedeutet das Internet heute für mich als Jugendliche nicht nur Gefahr, sondern auch Schutzraum. Vor allem die vergangenen zwei Jahre Pandemie mit Isolation und Quarantäne haben mir gezeigt, wie wichtig der digitale Austausch für mich ist. Monatelang mussten Textnachrichten, Telefonate und Gruppenchats das Gespräch auf dem Pausenhof und die Treffen mit meinen Freund:innen ersetzen. Meine alltägliche Kommunikation, von banalen Chats bis zum Austausch von intimsten Details, geschieht über Chatprogramme.

Dabei vertraue ich darauf, dass die Dialoge und des verschickte Bildmaterial unter uns bleiben. Verwackelte Selfies, Bilder vom Baden am See, Gespräche über den neuen Crush oder Stress mit den Eltern sind privat und sollen das auch bleiben.

Auch in meinem Freund:innen- und Bekanntenkreis wird der Wunsch nach sicherem, verschlüsseltem, virtuellem Dialog sichtbar. Viele wechseln von WhatsApp zu Signal und sorgen sich um ihren digitalen Fußabdruck. Viele achten darauf, bei welcher Online-Petition sie ihre Daten angeben, welchen Accounts sie auf Instagram folgen und welcher App sie Zugriff auf Standort und andere Daten gewähren.

Private Fotos bei Ermittler:innen – beängstigend

Das Netz ist fester Teil meines Lebens seit ich zwölf Jahre alt bin, und ich erwarte dort die gleiche Vertraulichkeit wie in analoger Kommunikation. So, wie ich auf das Briefgeheimnis und die Vertraulichkeit des Wortes setze, verlasse ich mich auf private – und privat gehaltene – Chats.

Chats und E-Mails sind ein essentieller Teil meiner Kommunikation und meines Soziallebens. Wenn Anbieter sie automatisch durchleuchten wäre das so, als würden sie meine Briefe öffnen oder heimlich Gespräche in meinem Zimmer belauschen. Dass das laut dem Entwurf der EU-Kommision bald Realität werden soll, wirkt auf mich absurd.

Die Vorstellung, Ermittler:innen und Plattformbetreiber:innen könnten meine Fotos im Badeanzug oder von der Anprobe neuer Tops im Gruppenchat prüfen, ist beängstigend, aber gar nicht mal so weit hergeholt – schließlich ist auf ihnen ja eine Minderjährige abgebildet. Kinder und Jugendliche zu schützen bedeutet auch, ihnen die Intimsphäre zu garantieren, die sie brauchen, um sich sicher zu fühlen.

Zu wenig Aufklärung an Schulen

Ich halte die von EU-Kommission angestrebte Chatkontrolle nicht für verhältnismäßig, um den virtuellen Kindesmissbrauch einzuschränken. Es wurden noch längst nicht alle milderen Mittel zu diesem Zweck ausgeschöpft. Sexualisierte Übergriffe gegenüber Minderjährigen zu verhüten muss priorisiert werden.

In der Schule wird kaum über die Gefahren des Internets gelehrt, es mangelt an geschulten
Vertrauenslehrkräften und Sozialarbeiter:innen in Bildungseinrichtungen. In der siebten Klasse hatten wir eine Stunde pro Woche den „Informationstechnischen Grundkurs“, in dem uns ein Informatiklehrer erklärt hat, wie wir Texte in Word formatieren, und dass wir nicht auf Phishing-Mails reagieren sollen.

Sicherer Umgang mit Social Media und Selbstschutz vor jugendgefährdenden Inhalten kam viel zu kurz. Das Thema sollte innerhalb von einem Projekttag in der Unterstufe abgehandelt werden. Für mich hat das viel zu spät angesetzt. Kinder sollten über die zahlreichen digitalen Gefahren aufgeklärt werden, sobald sie Teil ihres Lebens werden – und das ist heute oftmals schon in der Grundschule der Fall.

Jugendschutz und Datenschutz sind kein Entweder-oder

Unterricht über den Umgang mit dem Internet gehört genauso in die Schule wie das Erlernen des Alphabets und der Grundrechenarten. Anschauliche, lebensnahe, eindringliche und verpflichtende Bildungsangebote müssen in den Lehrplan – sowohl für Lernende als auch für Lehrende.

All diese Präventionsmaßnahmen wurden noch nicht hinreichend ausgeschöpft. Was Kinder und Jugendliche brauchen, ist Schutz vor sexualisierter Gewalt bei gleichzeitiger Garantie der Persönlichkeitsrechte. Jugendschutz bedeutet Datenschutz, es geht nicht um ein Entweder-oder.

2 Ergänzungen

  1. D’accord.

    Aber die EU-Spitze will um jeden Preis die Totalueberwachung haben, auf Biegen und Brechen, und lieber heute als morgen.

    Das sollte einem zu denken geben. Die sind ja nicht dumm, die sehen dafuer also offensichtlich akuten Bedarf. Die haben ein Weltbild, in dem das Bewahren der eigenen Privilegien absolute Prioritaet gegenueber den Grundrechten aller anderen hat, siehe zB Klima, Verkehr, Finanzen. Keine guten Aussichten fuer die Mehrheit der Buerger und sehr schlechte fuer alle „Unbequemen“.

  2. Diese Worte erleichtern, denn endlich sagt jemand genau das, was ich schon lange sage.
    Es will aber niemand zuhören.

    Daher werde ich diesen tollen Artikel nachher auf Twitter teilen.

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