Ich öffne meinen Feed und werde überschwemmt: Von einer neuen Nachricht, die früher einmal die wichtigste des Jahres gewesen wäre, heute aber in der Flut von Schreckensmeldungen untergeht. Von einem neuen Ismus, der mir auf pastellfarbenen Slides erklärt wird und mir meine unheimliche Ignoranz, ihn bis vor wenigen Minuten nicht gekannt zu haben, vor Augen führt. Von einem neuen Sharepic in der Story eines Bekannten, das mich daran zweifeln lässt, wie wir jemals ein politisches Gespräch führen konnten, ohne dass mir dieses Menschenbild an ihm aufgefallen wäre. Und von einem neuen Post, den ich wiederum unbedingt liken und teilen muss – weil der vermeintliche Kampf um die ideelle Hegemonie auf sozialen Plattformen wohl nur dadurch gewonnen werden kann.
Dabei könnte man den Eindruck gewinnen, wir hätten es längst verloren: das Ringen um einen bewussten politischen Diskurs in sozialen Medien. Er scheint zu ersticken in der schieren Welle von Albtraumnachrichten, Information, Falschinformation und dem Bedürfnis, immer zu allem Stellung zu beziehen.
Am Bruchpunkt
Als ich vor über anderthalb Jahren begonnen habe, diese Kolumne zu schreiben, musste ein Name her: „Breakpoint“ war einer der Vorschläge. Unter anderem angelehnt an den Begriff „Pointbreak“, der eine bestimmte Art beschreibt, wie eine Welle brechen kann.
Was soziale Medien betrifft, ist die Bruchstelle für mich erreicht: Es scheint kaum mehr möglich, sie zu nutzen, ohne dass jeden Tag aufs Neue eine überwältigende Welle an politischen Nachrichten, Meinungen und Propaganda über einen hineinbricht – gepaart mit dem schier überwältigenden Gefühl, der Weltuntergang stünde kurz bevor. Die Apps, die einmal Unterhaltung und Dopaminrausch bedeuteten, überschütten mich mit einem Gefühl von Macht- und Hoffnungslosigkeit – dem Gefühl, dass die Welt morgen untergehen könnte und ich über Instagram-Reels dabei zusehen muss.
Flood the Zone
Seit der US-Wahl im November letzten Jahres hat sich diese Welle für mich aufgebaut – und seit der Inauguration Trumps wirkt es, als könne ihr Bruchpunkt jeden Tag überschritten werden. Wer regelmäßig Nachrichten konsumiert, kann den Eindruck gewinnen, in den vergangenen vier Wochen ein ganzes politisches Leben beobachtet zu haben: Es begann mit einem Hitlergruß – und ja, wie die Zeit richtigerweise schrieb: „Ein Hitlergruß ist ein Hitlergruß ist ein Hitlergruß“. Weiter ging es mit geopolitischen Albtraumfantasien über eine Besetzung des Gazastreifens, die Annexion Grönlands und eine de-facto-Auslieferung der Ukraine an das russische Regime. Wo diese Welle ihren Höhepunkt erreichen wird, ist derweil nicht absehbar.
Die Strategie ist bewusst gewählt: Wenn wir in einer Flut von Schreckensmeldungen untergehen und dabei in eine Schockstarre fallen, bleiben weder Zeit und Energie, nach relevanten und wahren Informationen zu selektieren – noch dazu, tatsächlich gegen diese Art der Politik aktiv zu werden.
Bis vor kurzem waren soziale Plattformen ein willkommenes Medium, um wie nebenbei politische Bildung zu konsumieren und miteinander zu diskutieren. Nun scheint die Masse an wahren oder unwahren Informationen und Stellungnahmen von wirklich jedem zu wirklich allem erdrückend. Dabei gibt es für mich drei Hauptwidersprüche, die die Nutzung von sozialen Medien für politische Inhalte erschweren.
1. Informationen – ohne Ende
Soziale Medien erleichtern Zugang zu und die Verbreitung von Informationen erheblich. Nahezu passiv ist es möglich, mithilfe von Instagram, TikTok und Co. stets up-to-date zu sein. Und jede:r kann beliebig Informationen verbreiten: Der Informationsfluss dezentralisiert sich, große Medienhäuser verlieren ihre Stellung als Gatekeeper. Immer mehr Menschen entscheiden, welche Informationen relevant sind und geteilt werden sollten. Das demokratisiert den Diskurs.
Gleichzeitig führt das zu zweierlei: Erstens wird es schwieriger für viele Menschen zu filtern, welche Informationen stimmen und aus welcher Perspektive sie dargestellt werden. Besonders Menschen mit geringerer Medienkompetenz sind dadurch anfällig für Falschinformationen und populistische Inhalte.
Zweitens fällt es leicht, sich von der Masse an Informationen überwältigt zu fühlen. Alles scheint wichtig, kein Slide darf ungelesen bleiben.
Hinzu kommt die Angst vor all dem, worüber Tag und Nacht berichtet wird. Das Gefühl, machtlos zu sein, das Gefühl, dass alles nur noch schlimmer wird. Da ist es naheliegend, am liebsten gar keine Nachrichten hören zu wollen, bis das alles – hoffentlich – irgendwann vorbei ist.
2. Eine Meinung zu allem, immer
Auf der anderen Seite ist da die Sorge: Was, wenn das alles nie vorbei geht? Abkapselung von den relevanten Fragen unserer Zeit hat noch keinen Trump, Milei, Musk oder Putin zu Fall gebracht, hat noch keine unsägliche Migrationsdebatte beendet.
Es scheint fast zur Bürgerpflicht zu werden, immer zu allem Stellung zu beziehen: in der eigenen Instagram-Story, den Reposts auf TikTok oder – für die Älteren unter uns – im WhatsApp-Status.
Da ist immer dieses unterschwellige Gefühl: Man möchte die Bühne nicht dem politischen Gegner überlassen. Gerade jetzt, wo rechte Trolle eine regelrecht unfassbare Menge an Postings mit ihrer menschenverachtenden Meinung teilen, müsste man dem doch etwas entgegensetzen, oder?
3. Wo bleibt der Internetaktivismus?
Doch ein Sharepic zu teilen, ist keine politische Praxis.
Internetaktivismus kann dazu dienen, auf Angebote aufmerksam zu machen, Informationen zu verbreiten und Gleichgesinnte zu finden. Der Großteil der politischen Arbeit muss aber – ganz oldschool – zusammen mit anderen und außerhalb des Internets stattfinden: auf der Straße, in demokratischen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Eine Masse an Menschen, die jeweils alleine zu Hause sitzen, wird Entscheidungsträger:innen in den wenigsten Fällen umstimmen.
Kopf über Wasser halten
Was also tun, in Zeiten, in denen alles zu viel zu werden scheint? Die eine Antwort gibt es nicht. Wichtig ist erstens die Erkenntnis, dass das, was da gerade vor unser aller Augen geschieht, eine autoritäre Strategie ist. Mit gerade eben dem Zweck, uns abzustumpfen und uns zu verhärten, bis uns nichts mehr wichtig ist.
Von dieser Gleichgültigkeit müssen wir uns lösen, indem wir begreifen, dass nicht jede Information konsumiert werden muss und dass es okay ist, nicht zu allem eine Meinung zu haben. Es ist okay, soziale Medien nur zu Unterhaltungszwecken zu nutzen und alles andere auszublenden. Das kann jedoch nur der erste Schritt sein. Am wichtigsten aber ist die Bereitschaft, gegen diese Strategie der extremen Rechten anzugehen.
Die sozialen Medien sind ein Ort, an dem der politische Kampf auch medial ausgetragen wird. Es mag der Ort sein, an dem mittlerweile ein Großteil der Meinungsbildung stattfindet und an dem Menschen von dem einen oder eben dem anderen Weltbild überzeugt werden.
Sie sind aber nicht der Ort, an dem politische Entscheidungen getroffen werden. Und sie sind auch nicht der Ort, an dem diejenigen, die uns aktuell Angst machen, selbst Angst vor uns bekommen. Für uns in Deutschland ist am Sonntag der Bundestagswahl der wichtigste Ort die Wahlkabine.
Ab Montag aber sind es wieder die Orte, an denen wir sichtbar sind und an denen wir Menschen treffen, die gemeinsam mit uns für die Dinge streiten, die wir für wichtig halten. Denn erst, wenn wir uns damit abgefunden haben, keinen Einfluss mehr zu besitzen, sind wir wirklich machtlos.
Gemeinhin lässt sich m.E. gesellschaftliche Komplexität mit etwas strategisch basiertem Denken auf ein erträgliches Niveau schrumpfen. Beispielsweise hilft es bei manch fürchterlicher Nachricht gewissenhaft erhobene Opferzahlen zu betrachten, die Größenordnung und sonstige Folgen des jeweiligen Unglücks für die Betroffenen abzuschätzen.
(All jene, die auf Missstände hinweisen, sind von jeher am gefährdetsten, z.B. J. von Nazareth, N. Machiavelli, S. Rushdies, E. Snowden u.v.a. stehen für dies sonderbare Märtyrertum.
Man möchte schließlich aus Sicht der Mächtigen die Untergebenen mit dem Gefühl etwas Gutes zu tun z.B. in den sicheren Tod schicken, betrügen und ausbeuten.)
> Hinzu kommt die Angst vor all dem, worüber Tag und Nacht berichtet wird. Das Gefühl, machtlos zu sein, das Gefühl, dass alles nur noch schlimmer wird. Da ist es naheliegend, am liebsten gar keine Nachrichten hören zu wollen, bis das alles – hoffentlich – irgendwann vorbei ist.
Am besten die „Albtraumnachrichten“ als Realität akzeptieren, das Offline-Leben neu erlernen und die „FOMO“ („Fear of Missing Out“) überwinden.
> Es scheint fast zur Bürgerpflicht zu werden, immer zu allem Stellung zu beziehen: in der eigenen Instagram-Story, den Reposts auf TikTok oder – für die Älteren unter uns – im WhatsApp-Status.
In Abwandlung von Karl Valentin: „Es wurde schon alles gesagt – nur noch nicht von mir. Aber das ist auch nicht notwendig.“
Einen Breakpoint setze ich in einem Debugger um zu schauen was mein Programm an der Stelle macht. Das nennt man auf deutsch Haltepunkt. Da gibt es auch noch andere Bedeutungen.
„[Soziale Medien] sind aber nicht der Ort, an dem politische Entscheidungen getroffen werden.“
Mittelbar schon, wenn dort die politische Meinungsbildung stattfindet und sich dann in einem entsprechenden Wahlverhalten abbildet. Also was kann man als Normalo ganz konkret tun? Wo sind die kleinen Schritte, mit denen man anfangen kann? Leider bleibt der Artikel diesbezüglich nur sehr wage.