TelekommunikationWas die Zivilgesellschaft von Bretons Zukunftsvisionen hält

Der EU-Kommissar Thierry Breton trommelt für eine weitreichende Reform der EU-Märkte für Telekommunikation und holte dazu ein öffentliches Stimmungsbild ein. Wir haben uns angesehen, wie die Zivilgesellschaft die Deregulierungsfantasien des französischen EU-Politikers beantwortet hat.

EU-Kommissar Thierry Breton hält sich seine Brille
Das Ressort des EU-Binnenmarktkommissars Thierry Breton muss nun umfangreiche Stellungnahmen zur Zukunft des Telekommunikations-Sektors sichten. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / IP3press

Seit Jahren drängt der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton darauf, großen europäischen Netzbetreibern das Leben einfacher zu machen. Weniger Regulierung marktmächtiger Unternehmen, leichtere Firmenübernahmen und eine EU-weit harmonisierte Vergabe der Frequenznutzungsrechte für den Mobilfunk, um nur einige seiner Vorschläge zu nennen, sollen zu einem konsolidierten EU-Markt für Telekommunikation (TK) führen.

Auch wenn Breton den Begriff aus „semantischen“ Gründen nicht mehr in den Mund nehmen will: Am Ende sollen sich „europäische Champions“ – oder „europäische Leader“, was Breton bevorzugt – besser auf dem Markt und an der Börse behaupten können. Das soll mehr Investitionskapital freischaufeln, zu einem schnelleren Ausbau moderner Infrastruktur wie Glasfaser- und 5G-Mobilfunknetzen, sowie insgesamt dazu führen, dass die EU besser auf eine digitale Zukunft vorbereitet ist.

Deregulierung und Datenmaut

Bretons Vision mündete schließlich in ein Weißbuch, das sein Ressort im Februar vorstellte. Das umfangreiche Papier enthält teils detaillierte Zukunftsszenarien: So würden etwa Konnektivität und Datenverarbeitung zunehmend verschmelzen. Im anvisierten „3C-Netz“ (Connected Collaborative Computing) müssten deshalb alle Segmente, von Chipherstellern über Netzbetreiber bis hin zu Edge- und Cloud-Diensteanbietern, enger zusammenarbeiten – und gegebenenfalls gleich reguliert werden, etwa traditionelle TK-Anbieter auf der einen und Cloud- oder Messenger-Anbieter auf der anderen Seite.

Etwas handfester ist die sogenannte zweite Säule des Weißbuchs. Sie enthält die Vorschläge zur Deregulierung und nicht zuletzt einen verklausulierten Ansatz für eine Datenmaut: Da vor allem große Inhalteanbieter wie Netflix oder Facebook ihre Geschäfte auf der Infrastruktur der TK-Anbieter betreiben würden, sollten sie sich mehr an den Kosten beteiligen. „Fair Share“ nennen große Ex-Monopolisten wie die Telekom Deutschland das Konzept. Breton fand das gut, sollte aber spätestens bei einer Konsultation im Vorjahr festgestellt haben, dass es dafür sonst kaum Begeisterung gibt.

Ähnlich viel Skepsis schlägt nun seinem Weißbuch entgegen. Letzte Woche ging eine öffentliche Konsultation zu dem Papier zu Ende, über 350 Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft, der Forschung, der Branche, von Regierungen und Regulierungsbehörden wird die EU-Kommission nun auswerten müssen. Das passiert nicht ins Blaue hinein, letztlich könnten die Vorschläge in ein neues TK-Gesetz einfließen, einen möglichen Digital Networks Act (DNA), den Breton auch mit dem Weißbuch zur Debatte gestellt hatte.

Infrastruktur ganzheitlich denken

Manche der Stellungnahmen stoßen sich schon am (groß-)industriellen Framing der Vorschläge. Zwar sei es erfreulich, schreibt etwa Paul Keller für die Denkfabrik Open Future, dass sich die EU-Kommission aktiv um die Zukunft der digitalen Infrastruktur kümmere. Auch sei es richtig, wiederholt auf die EU-Erklärung für Digitale Grundrechte zu verweisen, so Keller.

Doch „viele der in der Erklärung verankerten Rechte und Prinzipien können in einer digitalen Umgebung, die auf einer digitalen Infrastruktur aufbaut, die fast ausschließlich von kommerziellen Unternehmen bereitgestellt wird, nicht gewährleistet werden“. Damit legt die Stellungnahme einen Finger in die Wunde.

Anstatt sich von vornehmlich aus den USA stammenden und weiter ausbreitenden „Big Tech“-Unternehmen abhängig zu machen, sollte die EU lieber kräftig in eine „alternative öffentliche digitale Infrastruktur“ investieren. Neben den physischen Leitungen brauche es dafür einen mehrschichtigen Ansatz: Der müsse auf dem Offenen Internet und Offener Software aufbauen, Interoperabilität und Standards-basierten Austausch garantieren, gemeinsame Komponenten für staatliche Dienstleistungen entwickeln („GovTech“) sowie kritische Online-Dienste für spezifische Industriesektoren bereitstellen. Ein Beispiel für einen solchen Ansatz sei der deutsche Sovereign Tech Fund, vor zwei Jahren vom Wirtschaftsministerium (BMWK) eingerichtet.

Für Offene Software sowie Offenlegung und Weiterverwendung von Code nach dem Motto „Public Money, Public Code“ setzt sich auch die Free Software Foundation Europe (FSFE) ein. Europa brauche Software, die Wahlfreiheit, Zugang und Wettbewerb garantiert. Dies würde öffentlichen Verwaltungen dabei helfen, die volle Kontrolle über ihre kritische digitale Infrastruktur zurückzuerlangen, sich von „Big Tech“-Unternehmen unabhängig zu machen und diese Unabhängigkeit künftig zu bewahren.

Auch darüber hinaus gebe es Vorteile: Eine strategische europäische Zusammenarbeit rund um das Freie-Software-Ökosystem könne das Wirtschaftswachstum und die wirtschaftliche Sicherheit erheblich vorantreiben, schreibt die FSFE. Dabei müsse die Zivilgesellschaft stärker einbezogen werden, und etwaige Fördermaßnahmen sollten sich eher auf fein abgestimmte Zuschüsse als auf große Pilotprojekte konzentrieren.

Fehlgeleitete Annahmen

Mehr mit der physischen Infrastruktur beschäftigt sich die Stellungnahme der Digital-NGO epicenter.works. Das Weißbuch Bretons gehe von der „fehlerhaften Annahme einer Konvergenz zwischen Konnektivität und Cloud-Diensten“ aus, zwei Bereichen, die sich sowohl technologisch als auch im Marktkontext unterscheiden würden. Beide regulatorisch über einen Kamm zu scheren, könne Innovation und Wettbewerb ersticken. Weiter zielgerichtet sollte deshalb die Regulierung des TK-Sektors bleiben und vor allem kleinere Anbieter nicht aus den Augen verlieren. Insgesamt reflektiere das Weißbuch weitgehend die Perspektive großer Ex-Monopolisten. Künftige Regulierung sollte jedoch gleiche Wettbewerbsbedingungen sicherstellen.

Ausführlich geht epicenter.works mit dem im Weißbuch vorgeschlagenen Streitbeilegungsmechanismus ins Gericht, der eine Datenmaut durch die Hintertür einführen könnte. So ein Mechanismus erfordere „einen regulierten Preis für den Interconnection-Markt, der das europäische Internet zurück zum Konzept des Terminierungsmonopols aus der Telefonie-Ära bringen würde“, so die Stellungnahme. Gefährdet wäre zudem die Netzneutralität, denn potenziell könnte der Mechanismus dazu führen, dass Online-Dienste, die es sich leisten könnten, besser behandelt würden.

In eine ähnliche Richtung geht die NGO Internet Society (ISOC), die maßgeblich am Funktionieren des Internets beteiligt ist und etwa über Internet-Standards wacht. Auch sie wundert sich über die ohne Not in den Raum gestellte, angebliche Konvergenz von Netzen und darauf laufenden Diensten. Zwar lasse sich tatsächlich ein Trend in Richtung „Softwareisierung“ und „Virtualisierung“ beobachten.

Regulierungsbehörden müssten aber eher damit verbundene Gefahren wie „Lock-In“-Effekte über Schnittstellen oder veränderte Bedingungen in vorgelagerten Herstellermärkten entschärfen, so die ISOC. Ein „fundamentales Rütteln“ am TK-Kodex, der seit einigen Jahren EU-weit die groben Rahmenbedingungen im TK-Sektor vorgibt, sowie ein einheitliches Regulierungsregime würde dies jedenfalls nicht rechtfertigen.

Dumme Leitungen sind nicht „das Ding“

Wie viele andere, wenn nicht die allermeisten Stellungnahmen lehnt die ISOC eine Datenmaut jeglicher Art ab, schon allein, weil es keine Anzeichen für ein Marktversagen gebe. Mit Verweis auf einschlägige Untersuchungen europäischer Regulierungsbehörden, unter anderem des EU-weiten Gremiums BEREC, sowie die recht eindeutig verlaufene Konsultation im Vorjahr, warnt die ISOC vor regulatorischen Eingriffen: Diese würden mit dem bisherigen, freiwilligen Interconnection-Modell des Internets kollidieren, die Zuverlässigkeit von Netzen untergraben und eine Fragmentierung des globalen Netzwerks riskieren.

Kein Blatt vor den Mund nimmt die an der Stanford-Universität lehrende Barbara van Schewick. Das Weißbuch lese sich wie ein „Fiebertraum“ eines TK-Managers, der in „Buzzwords“ verliebt sei und allzu zuversichtlich Prognosen über Technik abgebe, ohne sich auf belastbare Beispiele zu stützen. „Leidenschaftliche und atemlose Vorhersagen werden als Unvermeidlichkeiten dargestellt, obwohl es keinerlei Belege oder funktionierende Beispiele gibt“, schreibt van Schewick.

Dabei würde das Weißbuch schlicht nicht verstehen, wie und warum das Internet erfolgreich geworden ist. Seit den Anfängen des Internets habe sich das Ende-zu-Ende-Prinzip bewährt: Nicht die Leitungen seien „das Ding“, sondern die Dienste und Anwendungen, die sich darüber austauschen, so die Professorin. Solche Anwendungen auszuführen sei nicht die Aufgabe der Netze, dazu seien die Endpunkte da – wozu im Übrigen auch das viel beschworene Cloud Computing zählen würde. Genau dieses auf Netzneutralität aufsetzende Prinzip habe es erst ermöglich, dass beliebige Anbieter Anwendungen zu geringen Kosten entwickeln können, ohne dass sich die Netzbetreiber einmischen.

USA kein gutes Vorbild

Neben der von Breton zur Debatte gestellten „Datenmaut durch die Hintertür“ bekommen auch die Vorschläge zur Deregulierung und Marktkonsolidierung ihr Fett weg – insbesondere mit Blick auf den vergleichsweise desolaten TK-Markt in den USA, der von weniger Wettbewerb und höheren Preisen geprägt ist, wie die in Kalifornien lebende van Schewick ausführt. Den Weg in diese Richtung lehnen auch Verbraucherschutzorganisationen wie der deutsche VZBV oder die EU-Vertretung BEUC ab. Deregulierung und Konsolidierung seien „nicht die Antwort“, fasst etwa die BEUC-Stellungnahme zusammen.

Dies scheinen sich neben Breton ohnehin nur die TK-Branchengrößen zu wünschen, die etwa in der Stellungnahme des sie vertretenden ETNO-Verbands ähnliche Zukunftsvisionen wie der EU-Kommissar an die Wand malen. In unterschiedlichen Schattierungen ablehnend stellen sich hingegen kleinere Anbieter, Vertreter:innen von Online-Diensten und nicht zuletzt Regulierungsbehörden gegen die Pläne.

Ungewisse Zukunft Bretons

Die deutsche Bundesregierung gibt sich höflich skeptisch. Von einer Datenmaut will sie beispielsweise nur wenig wissen, kann sich aber eine „Prüfung“ auch der weithin geltenden Vorab-Zugangsregulierung vorstellen, ohne „bisherige Erfolge der Marktregulierung“ zu gefährden. Wie andere EU-Länder weist sie zudem auf unterschiedliche nationale Marktsituationen hin, die es zu berücksichtigen gelte. Argumente, die in der bevorstehenden EU-Debatte erfahrungsgemäß eine wichtige Rolle spielen dürften.

Wie diese weiter ablaufen wird, bleibt bis auf Weiteres offen. Es steht noch nicht einmal fest, ob Thierry Breton sein Ressort behalten oder überhaupt eine Rolle in der nächsten EU-Kommission spielen wird. Zwar würde ihn der französische Präsident Emmanuel Macron gern für eine weitere Amtszeit ins Rennen schicken. Nach den durchwachsenen Ergebnissen der jüngsten EU- und nationalen Parlamentswahlen wird er aber wohl Rücksicht auf die Nationalversammlung nehmen müssen – in der seine Fraktion die Mehrheit verloren hat.

1 Ergänzungen

  1. Wenn Breton auf EU-Ebene das macht, was er als Manager und CEO (France Télécom, Atos) immer tat, dann soll wohl eine voll-privatisierte europäische „Mega-Telekom“ entstehen (wahrscheinlich mit Sitz in Frankreich, da Breton ja Franzose ist).

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