Das Wettrennen um den technologischen Fortschritt in der Spielebranche hat eine neue Richtung genommen: Zurück. Mehr und mehr Spiele erscheinen, die sich dem Trend zum Fotorealismus verweigern, den die größten Entwicklerstudios vorgeben. Stattdessen versuchen sie sich am exakten Gegenteil: grobe Polygone, Ecken statt Rundungen, verwaschene Details. Dreidimensional grotesk, ohne die hübsche Maske eines Pixel-Looks, dem bisherigen Lieblingsstil der Retro-Community. Aber warum? Dafür gibt es so viele Gründe wie Spiele, die den Schritt zur Hässlichkeit wagen.
Abstrakte Gänsehaut
Crow Country gehört zu den Titeln, die modernste Texturqualitäten gegen altbackenen Grafikstaub eingetauscht haben – und damit goldrichtig liegen: Ihr Survival-Horrorspiel, in dem eine junge Polizistin in einem verlassenen Freizeitpark um ihr Überleben kämpfen muss, erschien im Mai dieses Jahres und gehörte zu den meistverkauften Startern des Monats. Bis heute hat sich Crow Country weit über 50.000 Mal verkauft – ein riesiger Meilenstein, den die beiden Entwicklerbrüder Adam und Tom Vian nach drei Jahren Arbeit erreichen konnten.
Der wichtigste Grund für diesen Erfolg liegt vermutlich im Artstyle ihres Spiels, der das technologische Mittelalter einer Playstation 2 oder sogar eines Nintendo 64s zitiert: Die Protagonistin ist eine gesichtslose Puppe, die steif durch verwaschene und unscharfe Level spaziert, während unförmige Monster auf sie zustackseln. Musik gibt es kaum zu hören, stattdessen sind nur einfachste Umgebungsgeräusche zu vernehmen, die durch den Audio-Kompressor gejagt wurden, und ebenso retro klingen, wie das Spiel aussieht. Hübsch ist das nicht.
Und trotzdem – oder gerade deswegen – sind die Fans begeistert, wie tausende Reviews der Community dokumentieren. Ältere Spielerinnen fühlen sich von dieser Optik an ihre nostalgisch verklärte Jugend erinnert, jüngere Spieler schätzen die Andersartigkeit. Und beide Gruppen können spüren: Insbesondere Horrorspiele profitieren vom abstrakt-groben Look. Denn die fehlenden Details, die dieser ausspart, füllt die eigene Fantasie auf – und mit dieser mächtigen Bildmaschine im Kopf kann auch der Fotorealismus einer High-End-Engine nicht mithalten.
Selbstläufer-Marketing
Die potentiellen Käufer und Käuferinnen überhaupt zu erreichen, fiel dem Brüderpaar mit Crow Country überraschend leicht.
Zwar erscheinen jede Woche hunderte Spiele und viele mehr werden angekündigt. Sie alle buhlen in den sozialen Netzwerken um Aufmerksamkeit. Dennoch fiel es Crow Country in diesem Meer recht leicht, den Kopf über Wasser zu halten und gesehen zu werden – weil der Look ihres Spiels auffällt, er dem Mainstream-Trend entgegensteht und im Vorbeiscrollen der Blick dran hängenbleibt.
So erzählt das Duo in einem Interview, dass sie keine ausgefeilte Marketingstrategie benötigten, um Menschen auf ihr Spiel aufmerksam zu machen, sondern es genügte, eine Gif-Animation oder einen Screenshot zu veröffentlichen, die dann wie von selbst im Internet ihre Runden drehten.
Aber nicht nur das Horror-Genre hat die grafische Zeitreise zurück für sich entdeckt – auch viele andere Genres hat der Trend erfasst, und in manchen Fällen hat er sie sogar wiederbelebt.
Tiny Combat Arena beispielsweise sieht aus wie eine klassische Flugsimulation der späten 1980er-Jahre, erschien aber tatsächlich Anfang 2022. In diesem Spiel steigen wir als Pilot eines Kampfjets in die Lüfte, schießen auf feindliche Flugzeuge und bombardieren Panzerkolonnen. Die Ziele lassen sich aus höchster Höhe allerdings mitunter nur erahnen, denn der grobe Look zeigt kaum mehr als Silhouetten der unterschiedlichsten Gefährte.
Zur optischen Zeitreise des Spiels passt übrigens auch der Entwicklungshintergrund: Maßgeblich geschultert von einem Solo-Entwickler, gepublished aber von MicroProse Software, ein legendäres Entwicklerstudio aus den Achtzigern, das vor einigen Jahren neu gegründet wurde und die Retro-Spiele für sich entdeckte. Mit Tiny Football hat das Team auch ein Fußballspiel der ganz alten Schule im Angebot, lange bevor FIFA oder PES auch nur auf einem Konzeptpapier standen. Wer sich auf eigene Faust durch die vielen weiteren Spiele klicken will, die neu sind, aber alt wirken, ist in den zahlreichen Kurationslisten herzlich willkommen.
Ein Trend, von dem alle profitieren
Nicht nur Spielerinnen und Spieler freuen sich über diesen Trend, weil er frischen Wind ins Spieleregal trägt und die ohnehin große Auswahl des Mediums noch einmal vergrößert. Nein, auch die Spielebranche und ihre Entwickler profitieren von der wachsenden Akzeptanz für Spiele, die nach nicht allzu viel aussehen – und damit meine ich nicht Verkaufszahlen.
Der Erfolg dieser Spiele erlöst gerade kleinere Entwicklerteams von dem gefühlten Druck, das Fotorealismus-Wettrennen mit den großen Studios mitlaufen zu müssen – ein Kräftemessen, das von Anfang an nur einen Sieger kannte, denn mit den Budgettöpfen eines AAA-Konzerns, der weltweit tausende Angestellte hat, kann ein 20-köpfiges Team aus Essen nicht mithalten.
Titel wie Crow Country & Co. zeigen, dass es für diese kleineren Unternehmen eine bessere Alternative gibt. Und die lässt am Ende Spiele entstehen, die nicht die Hardware eines High-End-PCs verlangen, sondern auch auf älteren Maschinen flüssig laufen. Spiele also, die alt aussehen, aber neu wirken, für alte Hardware – die auch wirklich alt ist.
Spannend, aber schade, dass der Text so wenige Screenshots enthält.
Dafür je viele Links über die man Einblick ins Gesagte hat. Ich persönlich finde das besser als Screenshots.
Bei Übelkeit und Nebenwirkungen wenden sie sich an Ihren Arzt oder Apotheker.
Gefälliges Schreiben über kommerzielle Games kann bei fehlender Kulturkritik zu Mangelerscheinungen führen.
Selbst die AAA Studios partizipieren nicht mehr am Fotorealismus-Wettrennen. So wie im Filmgeschäft, welches uns neuerdings lieblos hingeklatschtes CGI von der Güteklasse „annoying orange“ vorsetzt, hat mMn auch die Grafik-Qualität in der Spielewelt arg nachgelassen. Crysis (2007!) kann grafisch auch mit heutigen Spiele-Titeln konkurrieren, zumindest in Hinsicht auf Detailreichtum.
Ich könnte mir vorstellen, dass die Käufer einfach nach Alternativen zu den unfertig verkauften, mit Season Pass und Lootboxen verseuchten AAA Spielen suchen – und da sind Indie Games meistens eine gute Wahl. Am Ende geht es doch um den Spielspaß, nicht um das Aussehen.