Es ist der erneute Anlauf für eine EU-weite Vorratsdatenspeicherung, der allseits erwartet worden war. Bis zum 18. Juni holt die EU-Kommission Meinungen zu ihrer Initiative ein, die im kommenden Jahr zu einem einschlägigen EU-Gesetz führen könnte. Die Teilnahme an der Konsultation zur „Folgenabschätzung zur Vorratsdatenspeicherung durch Diensteanbieter für Strafverfahren“ steht allen offen, benötigt wird lediglich ein Account auf der entsprechenden EU-Plattform.
Seit Jahren liegen der EU-Kommission viele Mitgliedstaaten mit ihrem Wunsch nach einem EU-weit einheitlichen Rechtsrahmen zu dieser Form der Massenüberwachung in den Ohren. Die Lage ist kompliziert, denn eine verdachtsunabhängige und massenhafte Speicherung sensibler Daten ist kaum mit dem Schutz von Grundrechten vereinbar.
Wiederholt haben Gerichte, darunter der Europäische Gerichtshof (EuGH), nationale Regelungen in diversen EU-Staaten kassiert. Das passende deutsche Gesetz ist seit dem Jahr 2017 ausgesetzt. Zuletzt hat der EuGH im Vorjahr überraschend entschieden, die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen unter bestimmten Umständen nun doch zuzulassen.
Dass die neue deutsche Regierung eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern einführen will, hat die von Friedrich Merz (CDU) geführte Koalition bereits angekündigt. Ähnlich fixiert scheint die EU-Kommission zu sein, die umstrittene Form der Massenüberwachung auf EU-Ebene zu klären: Das hat sie Anfang April in ihrer „ProtectEU“ genannten Sicherheitsstrategie festgeschrieben. Dort finden sich auch brisante Überlegungen etwa zu Hintertüren bei verschlüsselter Kommunikation wieder, vorerst fragt sie jedoch nur die öffentliche Meinung zur Vorratsdatenspeicherung ab.
Richtung scheint eindeutig
In ihren Erläuterungen zur aktuellen Konsultation macht die EU-Kommission klar, von welcher Warte aus sie das Thema angeht: „Um Straftaten wirksam bekämpfen und verfolgen zu können, benötigen Polizei- und Justizbehörden möglicherweise Zugang zu bestimmten Nichtinhaltsdaten, die von Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste verarbeitet werden“. Zu solchen „Nichtinhaltsdaten“ können neben IP-Adressen beispielsweise auch Verbindungs- oder Standortdaten zählen.
Diese Daten liegen beim jeweiligen Diensteanbieter, werden aber oft nach kurzer Zeit gelöscht. Genau das soll eine gesetzliche Regelung verhindern: „Wenn Anbieter nicht ausdrücklich verpflichtet sind, Daten für einen angemessenen und begrenzten Zeitraum aufzubewahren, kann es vorkommen, dass die Daten bereits gelöscht sind, wenn Behörden sie für Strafverfahren anfordern“, schreibt die EU-Kommission.
Sicht in Einklang mit hochrangiger EU-Gruppe
Eine ähnliche Sicht hatte auch eine von der EU eingerichtete „High-Level Group“ (HLG) vertreten, allem Anschein nach überwiegend bestückt mit Vertreter:innen aus dem Sicherheitsapparat. Ihr im vergangenen Herbst präsentierter Abschlussbericht pochte unter anderem auf einen harmonisierten EU-Rechtsrahmen für die Vorratsdatenspeicherung und stellte ferner auch die Entschlüsselung privater Nachrichten sowie neue Speicherpflichten für Online-Dienste in den Raum.
Auf diese Arbeitsgruppe bezieht sich nun auch die Kommission. So sei dort die „fehlende Harmonisierung der Vorschriften für die Vorratsdatenspeicherung für wichtige Datenkategorien“ von der Polizei, den Strafverfolgungsbehörden und den Justizbehörden als erhebliche Herausforderung für nationale Strafverfahren bei online sowie offline begangenen Straftaten genannt worden. Dies behindere die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der gesamten EU, so die EU-Kommission.
Auswirkungen auf Grundrechte
Zugleich weist die Brüsseler Exekutive darauf hin, dass eine Vorratsdatenspeicherung negative Auswirkungen auf Grundrechte hat. Selbst wenn Ermittlungsbehörden nicht in die Inhalte selbst hineinschauen können, lieferten Vorratsdaten den Behörden mitunter Informationen über intime Details von Personen. Dies greife in die Grundrechte zum Schutz des Privatlebens, von personenbezogenen Daten sowie in die Meinungsfreiheit ein.
Entsprechend müsse das öffentliche Interesse an einer „wirksameren Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten“ mit den tiefen Eingriffen in die Privatsphäre abgewogen werden, so die Kommission. In der Einschätzung beispielsweise der Bundesrechtsanwaltskammer fällt diese Abwägung eindeutig aus: Die Interessensvertretung hatte sich jüngst klar gegen die anlassunabhängige Massenspeicherung von IP-Adressen und Port-Nummern ausgesprochen.
Die letzte Konsultation dieser Art wird dies nicht bleiben. Nach der nun abgefragten Folgenabschätzung würden im Laufe des Jahres noch mindestens drei weitere öffentliche Befragungen zum Thema stattfinden, so die EU-Kommission. Besonders interessiert sei sie an Beiträgen aus der Wissenschaft, die den aktuellen Wissensstand in den einschlägigen Bereichen zusammenfasst.
„Besonders interessiert sei sie an Beiträgen aus der Wissenschaft, die den aktuellen Wissensstand in den einschlägigen Bereichen zusammenfasst.“
So interessiert, wie sie offensichtlich auch bzgl den Warnungen von Wissenschaftlern aus aller Welt zur Chatkontrolle war/ist?
Es wurde von den Wissenschaftlern zig Mal vor deren Gefahren gewarnt, die Kommission juckt das trotzdem nicht. Warum sollte das bei der VDS denn plötzlich anders sein?
Zudem wurde bei der ganzen Going DARK-Geschichte bis jetzt immer nur auf die Seite der Überwachungsfanatiker in der Strafverfolgung gehört.
Wenn sie öffentliche Befragungen dazu macht, ist fast schon davon auszugehen, dass entweder die Fragen ähnlich irreführend sind wie damals bei der Chatkontrolle oder eben sonstige Taschenspielertricks genutzt werden.
Hat man ja seit der Chatkontrolle genug kennen gelernt.
Oder eben die negativen Meinungen einfach ignoriert werden.
Wer setzt denn freiwillig noch mehr seine Grundrechte und Freiheit für vorgegaukelte Sicherheit, die keine ist, aufs Spiel – gerade in einer Zeit in der Politiker immer mehr Grundrechte und freie Meinungsäußerung unter dem Deckmantel „Hass und Hetze“ bekämpfen und man inzwischen schon nur wegen unliebsamen Äußerungen ins Fadenkreuz der Behörden kommen kann?
Wer vertritt eigentlich die Grundrechte in den Entscheidungsprozessen rund um Überwachung und Zensur, in Europa und in Deutschland?
Insbesondere bei der EU liest man regelmäßig, dass Innenminister oder Vertreter:innen aus dem Sicherheitsapparat Entscheidungen fordern, dann vorschlagen und dann beschließen. Parlamenten und Gerichten bleibt bestenfalls die Rolle, die Entscheidungen formal ab zu nicken. Oder minimale Änderungen zu fordern, die die Innenminster oder Vertreter:innen aus dem Sicherheitsapparat dann ohne Konsequenzen ignorieren können.
Wer ist zuständing für die Grundrechte, in den Entscheidungsprozessen in Deutschland und Europa?
Der Link zu „EU-Kommission Meinungen zu ihrer Initiative“ funktioniert nicht, möglicherweise wg. Cookies. Ich soll also meine Meinung zur Schnüffelei abgeben und mich dabei (möglicherweise) ausschnüffeln lassen? Leute entscheiden über das Internet und sind nicht in der Lage eine einfache Webseite zu bauen, die wenigstens meldet, warum etwas nicht geht? Und da soll ich einen Account mit (möglicherweise) persönlichen Daten anlegen?
Aber eigentlich ist das ja ein Feature. Wenn sie die Meinung halbwegs Datenschutz-bewußter Bürger „abschalten“, dann muss ich mir die Arbeit ja auch nicht machen.
Da die EU-Kommission nicht fragt, ob sondern nur wie viel Überwachung „okay“ sei und da diese Institution auch nie danach zu fragen scheint und schon gar nicht darauf hinarbeitet, neue grundrechts- und freiheitsschaffende Initiativen durchzusetzen (Vorstellbar wäre zum Beispiel ein Verbot von Kameraüberwachung im öffentlichen Raum, die Abschaffung von Geheimdiensten oder ein Kampf gegen Identifizierungspflichten), disqualifiziert sie sich selbst und sollte als demokratie- und grundrechtsfeindliche Organisation bewertet und entsprechend behandelt werden.
Ein bisher kaum beachteter Effekt der Überwachung ist die Verschiebung der Macht zugunsten der Exekutive. Demokratie hier funktioniert nur, wenn die Gewaltenteilung gewährleistet ist. Die Bundesregierung als Teil der Exekutive bekommt mehr Macht, wenn die Exekutive überproportional gestärkt wird. Judikative und auch die Legislative werden dazu relativ geschwächt. Vom Bürger ganz zu schweigen. Der hat als „Gewalt“ nicht mal eine Bezeichnung oder Nummer. Selbst die Presse wird noch vor dem Bürger als 4. Gewalt bezeichnet. So geht keine Demokratie.
Wenn „wir“ also immer mehr überwacht werden sollen, dann muss zwingend ein Ausgleich geschaffen werden, der die Rolle der Bürger wieder so stärkt, so dass er seiner Kontrollpflicht nachkommen kann. Diese Kontrolle muss etwas bewirken können. Sprich Verantwortlichkeit, etwa von Ministern muss (von uns Bürgern) eingefordert werden können und konkrete Folgen haben. Transparenz ist Pflicht. „Wir nehmen uns einfach das Recht“ aus dem Mund der Regierung ist inakzeptabel.
https://news.ycombinator.com/item?id=44168134