Entscheidung am BundesgerichtshofBGH macht Recht auf Vergessenwerden abhängig vom Einzelfall

Das „Recht auf Vergessenwerden“ im Zusammenhang mit der Auslistung von Suchergebnissen bei Google und Co. müsse von Fall zu Fall entschieden werden, urteilt der BGH. Die Richter:innen wiesen die Klage eines Mannes aus Hessen ab, für ein zweites Verfahren ziehen sie den Europäischen Gerichtshof zu Rate.

Google Suchfeld auf Tablet
Der BGH hat entschieden, dass Google nicht automatisch Suchergebnisse entfernen muss, wenn Nutzer:innen dies fordern.

Vor dem Bundesgerichtshof (BGH) sind heute zwei Entscheidungen gefallen: Das Verfahren um die Klage eines Paares aus Nordrhein-Westfalen wurde ausgesetzt, um Einzelfragen vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) klären zu lassen. Ein zweiter Fall betraf eine ähnlich gelagerte Klage: Sowohl ein Mann aus Hessen als auch das Paar aus Nordrhein-Westfalen hatten gegen Google geklagt, weil sie bestimmte Artikel über sich nicht mehr in den Suchergebnissen lesen wollten.

Über den Kläger aus Hessen wurde 2011 in regionalen Tageszeitungen berichtet, dass der Regionalverband einer Wohlfahrtsorganisation, dessen Geschäftsführer er war, Schulden von knapp einer Million Euro verzeichnete. Kurze Zeit vorher hatte der Kläger sich krank gemeldet. In der Berichterstattung tauchte sein voller Name auf. Er verlangte nun, dass Google die Links, die zu der damaligen Berichterstattung führen, aus der Auflistung entfernt, die bei der Suche nach seinem Namen erscheint.

Fragwürdige Berichterstattung als Streitpunkt

Das Paar aus Nordrhein-Westfalen bietet Finanzdienstleistungen an. Ein US-amerikanisches Unternehmen hatte 2015 in mehreren Artikeln auf seiner Website kritisch über die Anlagemodelle einiger Gesellschaften berichtet, in denen die Kläger verantwortliche Positionen inne hatten oder an ihnen beteiligt sind. Einer der Artikel war mit Fotos des Paares bebildert. Das US-Unternehmen behauptet, „durch aktive Aufklärung und Transparenz nachhaltig zur Betrugsprävention in Wirtschaft und Gesellschaft beizutragen“. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, Unternehmen zu erpressen, indem es zunächst negativ über sie berichte und anschließend anbiete, gegen ein Schutzgeld die Berichte zu löschen oder negative Berichterstattung zu verhindern.

Die Kläger aus NRW gaben an, von dem Unternehmen erpresst worden zu sein. Sie forderten von Google, die Artikel der US-Website und die Fotos nicht mehr in den Suchergebnissen anzuzeigen, wenn man nach ihren oder den Namen der Finanzdienstleistungsgesellschaften sucht.

„Recht auf Vergessenwerden“ abhängig vom Einzelfall

Im Fall aus Hessen überwiegen die Interessen der Öffentlichkeit, der Presse und ihrer Nutzer:innen gegenüber dem Interesse des Klägers, entschied der BGH. Gerichte müssten im Einzelfall entscheiden, wessen Grundrechte bei einer Klage auf Auslistung von Inhalten überwögen, heißt es in der Urteilsbegründung. Demnach gibt es kein automatisches „Recht auf Vergessenwerden“.

Da die Meinungsfreiheit der Presseorgane und ihrer Nutzer:innen von dem Urteil berührt werde, habe das Schutzinteresse des Betroffenen im Fall aus Hessen keinen Vorrang, sondern sei als gleichrangig zu betrachten, so der BGH. Die Berichterstattung liege zwar weit zurück, behalte aber ihre Rechtmäßigkeit, weshalb die Grundrechte des Klägers hier zurücktreten. Google darf somit weiterhin die Artikel mit Namensnennung des Klägers in seinen Suchergebnissen auflisten.

Richtigkeit und Kontext von Suchergebnissen sind relevant

Im zweiten Fall des Paares aus NRW hat der BGH das Verfahren ausgesetzt und zwei Fragen zur Vorabentscheidung an den Europäischen Gerichtshof übergeben. Der EuGH soll erstens klären, was die Rechtsprechung vorsieht, wenn unklar ist, ob verlinkte Inhalte in den Suchergebnissen wahr oder falsch sind. Zudem fragt der BGH, ob bei der Suche nach Namen natürlicher Personen Fotos dieser Personen vom Suchmaschinenanbieter angezeigt werden dürfen, auch wenn der Kontext der Bilder nicht aus dem Suchergebnis hervorgeht.

Das „Recht auf Vergessenwerden“ schuf der EuGH im Jahr 2014. Unter Datenschützer:innen ist das Gesetz umstritten. Im vergangenen Jahr bekräftigte der EuGH zudem, dass dieses Recht nur in der EU gilt. Inhalte, die Anbietende von Suchmaschinen hier aus ihren Auflistungen entfernen, werden im EU-Ausland also weiterhin angezeigt.

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Eine Ergänzung

  1. Das Urteil zur Gleichstellung von Meinungs- und Pressefreiheit gegenüber dem Recht auf Vergessen ist sehr zu begrüßen, wird dem Ungetüm doch ein wichtiger Zahn gezogen, das der Missbrauch des Rechts auf Vergessen darstellt und davon gibts jede Menge; Techdirt hat diese gut dokumentiert:

    https://www.techdirt.com/articles/20200325/15083044172/someone-convinced-google-to-delist-our-entire-right-to-be-forgotten-tag-eu-searches-their-name.shtml

    Es erinnert mich an den italienischen Fall, wo das Schwert des Vergessens einen Lokalreporter traf, der nicht einen alten Bericht über einen Mörder verschwinden lassen wollte. In dem Fall wars aber ein Mord in der Familie, weshalb das Schwert des Vergessens einigermaßen gerechtfertigt war.

    Eine Fallabwägung ist wohl wirklich das Beste. Da könnte aber auch legales Trollen drohen: „lösche oder bezahle viel Geld vor Gericht“. Es braucht EAFRAVA: Erleichterte Abwehr Frivoler Recht Auf Vergessenwerden, Anfragen

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