Politikerinnen müssen sich so einiges gefallen lassen. Wie viel, darüber hat jetzt das Landgericht Berlin entschieden. Laut Beschluss der Richterinnen und Richter muss die grüne Bundestagsabgeordnete Renate Künast hinnehmen, unter anderem als „Drecks Fotze“, „Stück Scheiße“ und „Schlampe“ bezeichnet zu werden. So wurde sie öffentlich auf Facebook betitelt.
Ihr Anwalt Severin Riemenschneider ist entsetzt. „Die Aussagen sind klare Formalbeleidigung“, schreibt er netzpolitik.org. „Es ist für mich unerträglich, dass eine für das Äußerungsrecht so bedeutende Kammer diesen Straftätern mit ihrem Beschluss Rückendeckung gibt.“ Natürlich müsse stets zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht abgewogen werden, aber in diesem Fall könne es keine zwei Meinungen geben. „Die Aussage ‚drecks Fotze‘ ist eine strafbare Beleidigung, die sich in unserer Gesellschaft keine Person sanktionslos bieten lassen muss.“
Künast war vor Gericht gezogen, um durchzusetzen, dass Facebook die persönlichen Daten der Kommentatoren herausgibt, damit sie rechtlich gegen diese vorgehen kann. Liegt eine Beleidigung, also eine Straftat vor, müssen die großen Plattformen mit Strafverfolgern zusammenarbeiten. Insgesamt 22 Kommentatoren hatten sie in einem Thread unter einem Post des rechtspopulistischen Bloggers Sven Liebich mit teils drastischen Worten beschimpft.
Zulässige Meinungsäußerungen
Laut Beschluss des Gerichtes handelt es sich in keinem der 22 Fälle um eine Beleidigung. Die Äußerungen seien allesamt „zulässige Meinungsäußerungen“. „Sie sind zwar teilweise sehr polemisch und überspitzt und zudem sexistisch“, räumt das Gericht in seiner Begründung ein. Künast habe dies jedoch mit ihrem Verhalten selbst provoziert.
„Von einer Schmähung kann nicht ausgegangen werden, wenn die Äußerungen im Kontext einer Sachauseinandersetzung steht“, heißt es weiter in der Begründung. Die Kommentare hätten jedoch alle einen „Sachbezug“ gehabt – und seien somit keine Beleidigungen oder Schmähungen.
Zwischenruf von 1986
Die „Sachauseinandersetzung“, auf die sich der Beschluss bezieht, dreht sich um folgendes: Am 27. März hatte der rechte Blogger Sven Liebich, besser bekannt als Verfasser von „Halle-Leaks“, auf Facebook einen Beitrag über Künast veröffentlicht. Darin verweist er auf einen Artikel der Welt, in dem es um die schwierige Vergangenheit der Grünen in Bezug auf Pädophilie geht. Der Beitrag gibt auch eine Episode aus dem Berliner Abgeordnetenhaus wieder, in dem Künast damals 1986 saß.
Während eine grüne Abgeordnete über häusliche Gewalt spricht, stellt ein CDU-Abgeordneter die Zwischenfrage, wie die Rednerin zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern solle aufgehoben werden. Doch statt der Rednerin ruft, laut Protokoll, Renate Künast dazwischen: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“
Liebich versah den Artikel mit dem Kommentar „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok“. Das Gericht sieht das als zulässig.
„Schlampe“ als Sachauseinandersetzung
Die Liste der Beleidigungen, die das Gericht einzeln durchgeht und jeweils begründet, warum diese nicht als Beleidigung zu werten seien, liest sich absurd. Die Äußerung „Knatter sie doch mal einer so richtig durch, bis sie wieder normal wird!“ sei zwar „geschmacklose Kritik … mit dem Stilmittel der Polemik“. Allerdings gehe es dabei nicht darum, Künast herabzusetzen, sondern lediglich darum, ihre Äußerung zu kritisieren.
Die Äußerungen „Stück Scheiße“ und „Geisteskranke“ werden als „Auseinandersetzung in der Sache“ gewertet. Selbst die Bezeichnung „Drecks Fotze“ bewege sich „haarscharf an der Grenze des von der Antragstellerin noch hinnehmbaren“. „Auch in dem Kommentar ‚Schlampe‘ kann eine von der Äußerung im kommentierten Post losgelöste primär auf eine Diffamierung der Person der Antragstellerin und nicht auf eine Auseinandersetzung in der Sache abzielende Äußerung nicht gesehen werden. Vielmehr ist auch dieser Kommentar ein Beitrag in einer Sachauseinandersetzung.“
Thema im sexuellen Bereich
Die Argumentation des Gerichtes stützt sich auf die immer gleiche Logik: Weil das Thema von Künasts Zwischenruf aus dem Jahr 1986 – also die Entkriminalisierung von Sex mit Minderjährigen, die die Grünen in NRW damals beantragten – selbst „im sexuellen Bereich“ liege und zudem „erhebliches Empörungspotential“ berge, müsse sie sich als Politikerin „auch eine sehr weit überzogene Kritik gefallen lassen“.
Anwalt Riemschneider sagt, der Artikel in der Welt habe den Zusammenhang damals nur bruchstückhaft wiedergegeben. „Pädophilie beziehungsweise Geschlechtsverkehr mit Kindern wird und wurde von Frau Künast zu keinem Zeitpunkt befürwortet, gutgeheißen oder akzeptiert“. Sie habe auch nie solche Anträge innerhalb ihrer Partei unterstützt. Mit dem Zwischenruf habe sie lediglich den falschen Einwurf der CDU-Politikerin in der Debatte korrigieren wollen. Riemschneider kündigte an, in die nächste Instanz zu gehen.
Ob Künast sich nun missverständlich ausgedrückt hat in der Hitze der damaligen Debatte, sollte jedoch ohnehin nebensächlich sein. Denn auch das rechtfertigt keine sexistische Schmähung als „Fotze“ oder „Schlampe“.
Doch genau so argumentiert das Gericht – und sitzt damit einem gängigen Denkfehler auf: Es setzt Sexualität und Sexismus gleich. Die Kammer argumentiert, Künast habe sich zu einem Thema aus dem Bereich der Sexualität geäußert und deswegen seien sexistische Beleidigungen wie „Schlampe“ oder „Fotze“ eine angemessene Kritik in der Sache. Dass dieser Fehler selbst Richterinnen und Richtern unterläuft, zeigt wie tief dieses Denken noch verankert ist.
Künast und viele weitere
Künast ist bei weitem nicht die einzige prominente Frau, die mit solchen Kommentaren um Netz konfrontiert ist. Gerade Politikerinnen werden besonders häufig zur Zielscheibe von sexistischer Beleidigungen und Drohungen auf Plattformen wie Facebook und Twitter. Zuletzt hatte der Fall Sigi Maurer in Österreich viel Aufmerksamkeit bekommen. Auch dort war in einem Beleidigungsfall ein absurdes Gerichtsurteil ergangen.
Organisationen wie der Juristinnenbund weisen schon seit längerem darauf hin, dass Hetze und Gewalt im Netz eine geschlechtspezifische Dimension haben. Dazu zählt unter anderem der Umstand, dass Frauen spezifisch als Frauen abgewertet werden.
Die Argumentation der Kammer, die Wortwahl der Kommentatoren sei eine Auseinandersetzung in der Sache, wirkt vor diesem Hintergrund besonders absurd. Dass Künast mit eben diesen Begriffen beleidigt wurde, hat wenig damit zu tun, dass es in ihrer Äußerung um Pädophilie ging. „Schlampe“ und „Fotze“ sind Standardbeleidigungen, wenn Politikerinnen oder Prominente sich im Netz äußern – egal ob es um Straßenverkehr, Steuerpolitik oder Hochzeitsfotos geht.
Keine Straftat zu erkennen
Seit einem Jahr soll eigentlich das Netzwerkdurchsetzungsgesetz Abhilfe dagegen leisten. Strafbare Äußerungen müssen von den großen Plattformen wie Twitter und Facebook seitdem binnen 24 Stunden aus dem Netz gelöscht werden. Ein gängiger Kritikpunkt am Gesetz: Nicht das Löschen, sondern die Strafverfolgung muss das Ziel sein. Nur so werde man im Netz für mehr Affektkontrolle sorgen und Betroffene schützen.
Der aktuelle Fall zeigt: Das Problem geht viel tiefer. Wenn sexistische Beleidigungen selbst vor Gericht nicht als solche erkannt werden, dann ist nicht die Rechtslage das Problem. Es ist die Vorstellung, dass Frauen nach wie vor selbst die Schuld dafür tragen, wenn sie im Netz sexistisch beleidigt werden.
Korrektur, 30. September: In einer früheren Version dieses Beitrags hieß es, das Landgericht Berlin habe ein Urteil gefällt. Es war ein Beschluss. Wir haben die Überschrift und den Beitrag entsprechend korrigiert.
Der Postillion hält den Richtern dazu den Spiegel vor, mal sehen, ob es da auch keine Klage geben wird. :-)
https://www.der-postillon.com/2019/09/berliner-landgericht.html
Wollte auch gerade fragen, ob man den Richter vom Landgericht Berlin jetzt straffrei als »Stück Scheiße« titulieren darf. Der Postillion hätte ruhig mit Namen arbeiten können.
Der Fall Künast steht auch Pate für die bis vor wenigen Jahren gängigen Urteile zu homophob motivierten Straftaten. Es ist noch nicht lange her, da waren LSGBTI „selbst schuld“, wenn sie z. B. „provozierend“ Hand in Hand eine Straße entlang gingen o. ä. Diese Begründungen führte in der Mehrzahl der Übergriffe zu einem Freispruch der Beleidiger oder Gewalttäter.