Marktforschung, Werbung und VermarktungSpahn will Gesundheitsdatenschutz aufweichen

Krankenkassen dürfen in Zukunft die Daten ihrer Versicherten nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten auswerten und die Ergebnisse an Unternehmen weitergeben. Gleichzeitig sollen Unternehmen über die Krankenkassen Werbung an bestimmte Patient:innen schicken können. Das sieht der Entwurf für das „Digitale-Versorgungs-Gesetz“ vor, den das Bundeskabinett heute verabschiedet hat.

Versichertendaten könnten bald leichter die Hände wechseln. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Jennifer Burk

Krankenkassen haben weitreichende Informationen über uns. Sie wissen über Arztbesuche Bescheid, bekommen täglich tausende Berichte, Diagnosen und andere Informationen über den Gesundheitszustand der Versicherten zugeschickt. Der Umgang mit diesen Daten ist streng reguliert. Geht es nach Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dürfen Krankenkassen mit diesen Daten in Zukunft Marktforschung betreiben und die Ergebnisse mit der Wirtschaft teilen. Die Regelung ist Teil des Entwurfs für ein Digitales-Versorgungs-Gesetz mit zahlreichen Änderungen am fünften Sozialgesetzbuch. Er wurde heute vom Bundeskabinett gebilligt.

Versichertendaten für die Marktforschung

Laut Gesetz müssen die sensiblen Daten immerhin vor der Auswertung pseudonymisiert oder anonymisiert werden. Die Ergebnisse der Marktforschung an den eigenen Versicherten können Krankenkassen dann aber mit „Medizinprodukteherstellern, Start-Ups und Unternehmen aus dem Bereich der Informationstechnologie“ teilen.

Das Ziel ist laut Gesetz eine „fachlich-inhaltliche Kooperation mit Dritten (…) oder ein Erwerb von Anteilen an Investmentvermögen.“ So will der Gesundheitsminister auch, dass Krankenkassen bis zu zwei Prozent ihrer Finanzreserven in Start-Ups und Unternehmen im Gesundheitsbereich investieren können.

Wirtschaft soll individualisierte Werbung über Krankenkassen verschicken können

Der eigentlich strenge Sozial- und Gesundheitsdatenschutz wird damit für die Wirtschaft aufgeweicht. Wenn die Krankenkassen mitspielen, können Unternehmen über Umwege an detaillierte Auswertungen der Daten von Millionen Versicherten kommen und damit neue Geschäftsmodelle entwickeln. Auch an die Vermarktung der neuen Produkte ist gedacht: Mit Einwilligung der Patient:innen dürften die Kassen ihre Adresslisten nutzen, um dann individualisiertes Informationsmaterial – auch bekannt als Werbung – zu verschicken.

Mit den neuen Regeln könnten Unternehmen, die mit einer Krankenkasse kooperieren, Versichertendaten also im gesamten Markteinführungsprozess ihrer Produkte indirekt nutzen. Es wäre etwa denkbar, in einer Auswertung bestimmte Risikogruppen nach ihrem monetären Wert auszusuchen, gezielt Produkte für sie zu entwickeln und ihnen diese dann auch zu empfehlen. Gibt es also bald maßgeschneiderte Werbung für neue E-Health-Apps mit dem Briefkopf der Krankenkassen?

Ärzt:innen dürfen bald Apps verschreiben

Der Entwurf, der wohl nach der Sommerpause in die Abstimmung mit dem Bundestag geht, enthält auch Regeln für Gesundheits-Apps. Ärzte können diese in Zukunft verschreiben und bei den Krankenkassen abrechnen, wenn sie vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) abgenommen und in ein Verzeichnis eingetragen sind.

Gegenüber dem BfArM müssen die Hersteller einen medizinischen Nutzen nachweisen, es gibt aber auch eine Ausnahmeregel, nach der als Medizinprodukte klassifizierte Apps auch vorläufig zugelassen werden können. Dann muss der Hersteller lediglich innerhalb einer einjährien Experimentierphase die Vorteile für Patient:innen nachweisen. Bei solchen digitalen Gesundheitsanwendungen sieht das BMG „derzeit zumeist ein geringes Risikopotential“ und rechnet damit, dass Hersteller lediglich einen „geringfügigen Erfüllungsaufwand“ haben werden.

Apps werden derzeit oft in die niedrigste Risikoklasse eingeordnet. Zu der Klasse gehören beispielsweise auch Brillen, aber eine App mit Internetzugang, die sensible Gesundheitsdaten verarbeitet, ist keine Brille. Auch die App Vivy, bei der im letzten Oktober schwere Sicherheitslücken bekannt wurden, ist in die niedrigste Klasse eingeordnet. Der Europäische Gesetzgeber sieht das offenbar anders: Wenn die Medizinprodukteverordnung 2020 in Kraft tritt, steigen auch die Risikoklassen für einige Apps.

Regelungen zur elektronischen Patientenakte gestrichen

Weiterhin setzt der Entwurf unter anderem Apotheken neue Fristen, zu denen sie an die umstrittene Telematikinfrastruktur angeschlossen sein sollen und regelt den Umgang mit Forschungsdaten. Ärzte, die sich weiterhin weigern, die Telematikinfrastruktur zu nutzen, sollen ab März 2020 mit einem Honrarabzug von 2,5 Prozent sanktioniert werden. Der Referententwurf des Digitalisierungsgesetzes aus Mai enthielt noch Regelungen für die elektronische Patientenakte. Sie wurden letzte Woche, wie Handelsblatt und Ärzteblatt berichteten, auf Drängen des Justizministeriums gestrichen.

Zuvor gab es Widerstand auch aus der Ärzteschaft: Neben fehlender IT-Sicherheit hätten Patient:innen auch alle in der Akte gespeicherten Daten automatisch mit allen Ärzt:innen, die Zugriff haben, teilen müssen und nicht die Möglichkeit gehabt, den Empfängerkreis zu begrenzen. Doch die Krankenkassen sollen die elektronische Patientenakte auch so bis spätestens 2021 fertigstellen, das wurde bereits im März diesen Jahres in einem anderen Gesetz festgehalten. Ohne konkrete Gesetzgrundlage könnte sie dann aber nicht mit Dokumenten befüllt werden. Jetzt heißt es deshalb, dass weitere Bestimmungen im Herbst  in einem eigenen Datenschutzgesetz geregelt werden sollen.

Transparent werden nur die Patient:innen

Die Öffnung der Gesundheitsdaten ist dem Gesundheitsminister, der sich selbst als Fan wirtschaftlicher Wachstumspolitik bezeichnet, ein Anliegen. Und das hat vor allem eine Stoßrichtung: Pharma-Unternehmen und Gesundheitswirtschaft sollen immer tieferen Einblick in das Leben der Patient:innen bekommen – und dabei eher laxen Regeln unterworfen sein.

Dabei ginge es theoretisch auch in die andere Richtung: Ein anderer Gesetzentwurf aus dem Gesundheitsministerium sieht die Errichtung eines Implantateregisters vor. Nach den Enthüllungen rund um fehlerhafte Medizinprodukte durch die Implant-Files soll es Transparenz herstellen. Anders als in anderen Ländern, bekommt die Öffentlichkeit hier aber bisher keinen freien Zugriff auf die Informationen. Sofern ähnliche Datenbanken überhaupt zugänglich sind, gilt heute: Für den Zugriff fallen hohe Gebühren an.

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