Netzneutralität vs. 5G: Wie der kommende Mobilfunkstandard das offene Internet beerdigen könnte

Nächstes Jahr steht eine Überprüfung der europäischen Regeln zur Netzneutralität an. Diesen Moment könnte die Telekomindustrie nutzen, um das offene Internet abzuschaffen. Als Argument schiebt sie dabei den kommenden 5G-Mobilfunkstandard vor – mit dem sie richtig viel Geld verdienen will.

Die „Network Slices“ des kommenden 5G-Mobilfunkstandards könnten die Netzneutralität zerstückeln. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Hello I’m Nik

Seit 2016 ist die Netzneutralität in der Europäischen Union gesetzlich verankert. Eine halbe Milliarde Menschen profitiert vom Schutz vor Diskriminierung durch Internetanbieter. Die Netzneutralität ist ein Grundprinzip des Internets und eines der wesentlichsten netzpolitischen Themen. Sie gewährleistet den Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung, des Versammlungsrechts, der unternehmerischen Freiheit und der Innovationsfreiheit, im Internet Neuerungen zu entwickeln. Diese Schutzmaßnahmen sind nicht zuletzt auf die unermüdliche Arbeit der Zivilgesellschaft zurückzuführen. Eine Koalition aus 23 NGOs hat über drei Jahre lang an einem Strang gezogen, um Politiker und Regulierungsbehörden von der Wichtigkeit der Netzneutralität zu überzeugen. Diese Errungenschaft wird jetzt in Frage gestellt, da die EU für 2019 eine Überarbeitung der Netzneutralitätsregeln plant.

Die Netzneutralität ist in der EU durch ein zweischichtiges System geschützt, auf einer gesetzlichen und auf einer regulatorischen Ebene. Die gesetzliche Grundlage für den Schutz der Netzneutralität ist Teil einer EU-Verordnung, die über nationalen Gesetzen steht und direkt in allen 28 EU-Ländern als auch drei weiteren Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums (Norwegen, Island und Liechtenstein) gilt. Diese Verordnung gibt den unabhängigen nationalen Regulierungsbehörden die Zuständigkeit und den Auftrag, in ihren jeweiligen Ländern die Netzneutralität durchzusetzen. Um aber sicherzustellen, dass diese 31 unabhängigen Regulierungsbehörden die Verordnung gleichermaßen umsetzen, müssen diese den Leitlinien der Netzneutralität der Regulierungsbehörden-Dachorganisation BEREC „weitestgehend Rechnung“ tragen. Diese Leitlinien sind ein wichtiges Dokument, das ein detailliertes Regelwerk darüber bildet, was Netzneutralität in Europa tatsächlich bedeutet.

Evaluierung mit seltsamem Beigeschmack

Die Verordnung schreibt vor, dass die Europäische Kommission bis April 2019 einen Evaluierungsbericht vorlegen muss. Zu diesem Zweck hat die Kommission die externe Anwaltskanzlei Bird & Bird beauftragt, die vor allem bekannt dafür ist, Telekomunternehmen dabei zu helfen, sich gegen die Regeln der Netzneutralität zu wehren. Das hat zu der eigenartigen Situation geführt, dass die Zivilgesellschaft und Regulierungsbehörden die Stärken und Schwächen der Verordnung jenem Unternehmen berichten müssen, dem sie in einem auf derselben Verordnung beruhenden Fall vor Gericht gegenüberstehen. Mehrere NGOs, darunter epicenter.works, haben bereits einen offenen Brief an die Europäische Kommission geschickt, in dem genau dieser Interessenskonflikt erläutert wird. Die Kommission erkennt die Bedenken allerdings nicht an.

BEREC hat wiederholt angekündigt, die Leitlinien zu evaluieren. Seit der Veröffentlichung ihres Arbeitsprogramms für 2019 wissen wir auch, dass diese Evaluierung nächstes Jahr startet und in einem neuen Entwurf der Leitlinien resultieren wird. Im September wird es dann einen öffentlichen Begutachtungsprozess dazu geben. Sollte sich die EU-Kommission daraufhin entschließen, die Verordnung zu überarbeiten – was ohne den Evaluierungsbericht zu kennen schwer vorherzusehen ist –, würde ein neuer Vorschlag wohl mindestens bis 2020 auf sich warten lassen. Zuvor muss die EU die im Mai 2019 anstehenden Wahlen zum EU-Parlament, eine neu besetzte Kommission und somit eine Neuordnung der Macht in der Europäischen Union verdauen.

5G-Standard als Machthebel der Industrie

Was also ist von dieser Reform zu erwarten? Die Telekommunikationsindustrie hat bereits ganz deutlich gemacht, worüber sie dabei sprechen will: 5G. Dieser neue Mobilfunkstandard ist noch nicht einmal vollständig spezifiziert, wird aber bereits von der Branche als häufigstes Argument unterbreitet und vor allem dazu benutzt, auf der ganzen Welt bereits etablierte Netzneutralitätsregeln infrage zu stellen. Nachdem die Trump-Regierung die Netzneutralitätsregeln im Dezember 2017 abgeschafft hat, ist Europa nun die weltweit erste Region, die versucht, 5G mit der Netzneutralität in Einklang zu bringen.

Diese Debatte hat eine technologische und eine politische Seite. Technologisch gesehen gibt 5G Telekombetreibern die Mittel in die Hand, den Informationsfluss in ihren Netzen umfangreicher zu kontrollieren und zu steuern als je zuvor. Diese als „Network Slicing“ bezeichnete Technik ermöglicht den Betrieb beliebig vieler virtueller Netze auf einer physischen Infrastruktur und damit differenzierte Quality-of-Service-Regeln auf unterster technischer Ebene des Funknetzes.

Mögliche Einsatzszenarien reichen von einer Bevorzugung von Premium-Kunden im Mobilfunk zu Lasten aller anderer Netzteilnehmer, die sich mit einem schlechter gestellten „Slice“ zufrieden geben müssten, bis hin zu einer kompletten Segmentierung des Internets, bei der jede Anwendung im Netzwerk einzeln kontrollierbar wäre. Diese sogenannten Spezialdienste, die in der Debatte rund um die europäischen Netzneutralitätsregeln zu einem der meist umkämpften Themenfelder zählten und deren Einsatz letztlich eng eingezäunt wurde, könnten also im schlimmsten Fall das offene Internet ablösen: Überholspuren für die Reichen, lahme Verbindungen für den Rest.

Ob der Betrieb des neuen 5G-Standards sich an den bereits bestehenden Telekommunikationsgesetzen orientieren muss oder ob sich die Gesetze dem neuen Industriestandard unterwerfen müssen, sollte eigentlich einfach zu beantworten sein. Wenn man aber davon ausgeht, was bisher aus der Telekomindustrie zu hören ist, wird sich eine heftige politische Debatte an dieser Frage entzünden. Erst vor kurzem haben Vertreter von Vodafone und AT&T beim Internet Governance Forum in Paris zum wiederholten Male für eine Aufweichung der bestehenden Netzneutralitätsregeln argumentiert, um eine Einführung von 5G für sie möglichst rentabel zu gestalten.

Überholspuren ohne Zweck

5G erlaubt Providern also technisch weitaus mehr Kontrolle bei der Bevorzugung einzelner Anwendungen oder einzelner Internetnutzer. Der Standard bringt aber auch einige neue interessante Funktionen wie die Spezifizierung eines Network Slices, der besonders energieeffizient ist und zum Beispiel von solarbetriebenen IoT-Geräten benutzt werden kann. BEREC stellt sich diesen Fragen im kommenden Reformprozess. Die Regulierungsbehörden werden also darüber entscheiden, ob die Schutzmaßnahmen gegen den Missbrauch der Ausnahmeregelungen zur Netzneutralität, worunter die Spezialdienste fallen, aufgeweicht werden. Der derzeitige BEREC-Vorsitzende Johannes Gungl von der österreichischen Regulierungsbehörde RTR hat in einem Branchenforum sehr direkt auf die Forderungen der Industrie nach Überholspuren geantwortet:

„Unseren Untersuchungen zufolge liegen dafür keine Beweise auf dem Tisch. Wir haben bisher keinen Anwendungsfall gesehen, der nicht unter den aktuellen Regeln möglich wäre. Deshalb denken wir, dass das unser Netzneutralitäts-Regelwerk flexibel genug für 5G ist.“

Allerdings wird Gungl demnächst als Chef der RTR abgelöst, nämlich durch Klaus Steinmaurer, seines Zeichens ehemaliger Vizepräsident der Abteilung für Internationale Regulierungsangelegenheiten der Deutschen Telekom.

Falls Europa dem Druck der Telekombranche nachgibt, seine Netzneutralitätsregeln aufweicht und ein Zwei-Klassen-Internet zulässt, das aufgrund des segmentierten 5G-Netzwerks leicht umsetzbar ist, würde einer der letzten Dominosteine fallen. Sollte nach den USA nun auch Europa sich den Wünschen der Industrie beugen und die Netzneutralität beerdigen, wäre das wohl auch das langfristige Ende des freien Internets im Westen. Die Telekomindustrie wird mit ihrem ganzen Gewicht in dieser Reform auftreten. Wer sich auf der Gegenseite, neben den üblichen Netzaktivistinnen und -aktivisten, an der unvermeidlichen Auseinandersetzung beteiligen wird, bleibt noch unklar.

Die ungelöste Frage des Zero Rating

Auch in der Frage des „Zero Ratings“, also der Diskriminierung im Internet, indem manche Anwendungen billiger oder teurer gemacht werden, liegt die Entscheidung in Europa bei der nationalen Regulierungsbehörde. Während Zero-Rating-Angebote in jedem europäischen Land existieren (außer einem), hat noch keine einzige Regulierungsbehörde dieser Praxis Einhalt geboten. In manchen Ländern konnten wir sogar einen 70-fachen Preisunterschied zwischen Datenvolumen für die Nutzung von Facebook und einem Datenvolumen für die Nutzung des restlichen Internets feststellen. Speziell für einkommensschwache und junge Internetnutzer sind diese Angebote verführerisch, treiben sie aber immer weiter zu etablierten Internetdiensten, die sich den zusätzlichen Aufwand leisten können.

Die Evaluierung der Netzneutralitätsregeln wird sich dieses Themas annehmen müssen. Die BEREC-Leitlinien sehen jedenfalls eindeutig vor, dass es Fälle gibt, bei denen die Regulierungsbehörden gegen Zero-Rating-Angebote vorgehen müssen. Obwohl ein rigoroses Verbot von Zero Rating das beste Ergebnis wäre, brauchen Regulierungsbehörden zumindestens klarere Regeln, wie sie mit den besonders drastischen Fällen umgehen müssen. epicenter.works wird Anfang 2019 einen Bericht zum Status der Netzneutralität in Europa publizieren, in dem auch eine komplette Auswertung aller Zero-Rating-Angebote auf dem europäischen Markt zu finden sein wird. Der Verein epicenter.works setzt sich seit vielen Jahren für Netzneutralität in ganz Europa ein und lebt von Spenden und Fördermitgliedern.

7 Ergänzungen

  1. Könnte mich mal jemand informieren, wo es „das offene Internet“ überhaupt noch gibt? Oder ist das auch so ein moderner Mythos.

    Wir diskutieren seit Jahren (auch hier) wie orthodoxe Netzneutralität auszusehen und herzustellen ist (‚es kostet einfach Geld‘), und zwei Schlußfolgerungen tauchen immer wieder auf:

    1) Bei kompromissloser Netzneutralität verbietet man den Netzbetreibern bestimmte Geschäftsmodelle. Was jetzt zwar verständlich ist, aber auch dazu führen kann, das deren Geschäft insgesamt zusammenbricht und dann hat man plötzlich gar kein Netz mehr. Die Frage ob wir mit non-profit Netzbetreibern nicht besser fahren is valide (was uns zu zur Frage nach Jens Bests Versuchen bringt ..).

    2) Einiger Lobbyismus für Netzneutralität kommt von den ‚großen‘ Content Distributoren (youtube zB) die natürlich ein Interesse haben, das ihr Geschäftsmodell weiterhin funktioniert. Soll doch bitte keiner von ihnen verlangen in Infrastuktur zu investieren. Natürlich leiden auch die kleinen unter fehlender Netzneutraliät aber die scheffeln keine Millionen damit.

    (Das man sich mit mehr Geld einen besseren Internetzugang kaufen kann, ist jetzt auch nicht direkt zu vermeiden.)

    Ich habe keine gute Lösung für das Problem, tendiere aber nähesten zur relativen Neutralität, d.h. alles innerhalb meiner Anbindung wird gleich behandelt (best-effort). Das es andere Anbindungen gibt akzeptiere ich.

    P.S. Slicing ist auch technisch umstritten – Netzwerkvirtualisierung kann man auch anders herstellen.

    1. 1) Es gibt auch viele dankbare Geschäftsmodelle von Wasserwerken, Straßenbetreibern oder der Müllabfuhr. Das heißt aber nicht, dass diese einer Gesellschaft zuträglich sind. Belege für den Nutzen dieser Geschäftsmodelle gibt es keine, wohingegen der klassische Access Markt äußerst profitabel ist, besonders auf langfristige Perspektive.
      2) Google hat sich schon öfter gegen Netzneutralität ausgesprochen und verstößt mit einigen seiner Angebote dagegen. Bei Facebook genauso. Netflix ist das Thema egal, da sie inzwischen groß genug sind auf diesen Schutz nicht mehr angewiesen zu sein. Sicher gibt es auch Stimmen aus der Wirtschaft für Netzneutralität, aber das sind nicht die großen Internetfirmen.

      1. „klassische Access Markt äußerst profitabel ist“ das würde ich dann doch mal gerne in Zahlen sehen.

  2. Jede Form von Gleichbehandlung widerspricht dem Leitprinzip des Kapitalismus – von daher ist es nur logisch, dass die Netzneutralität der maximalen Kommerzialisierung des Internet im Wege steht. Das Mehrklasseninternet wird sicherlich kommen. Und wenn sich der Politikbetrieb nicht endlich der Lobbyismusfesseln entledigt, wird KI und Maschinenlernen exakt das gleiche blühen. Aber hey, WhatsApp, Youtube, Instagram und Facebook werden sicherlich in die Grundversorgung aufgenommen, damit es keinen Aufruhr gibt – also alles halb so wild. :-)

  3. Es ist bedauerlich das bei der ganzen Diskussion Physik eine so untergeordnete Rolle spielt. Im 5G sind die Frequenzen so nummeriert, das Frequenzen von 600 MHz aufwärts verwendet werden können. 600MHz ist die niedrigste Frequenz welche von einem 25cm grossen Device ohne externe Antenne effektiv ausgesendet und empfangen werden kann. Darunter beginnt das Reich der Kabelverbindungen und ihrer störungen. (10GBase-T mit bis zu 500MHz bei 10Gbit – 100m ; G.fast mit 212 MHz – 250m)

    Man muß wissen, das Frequenzen umso effektiver allen Wellen der Landschaft folgen und um alle Hindernisse herumkommen, je niedriger sie sind. Unterhalb von 25 MHz kann man – je nach Wetterlage in der Ionosphäre um die Ganze Welt funken.

    Wenn jetzt Frequenzen jenseits der 2000 MHz versteigert werden und Lautstark nach „flächendeckung“ geblöckt wird, dann ist das schlicht Hirnrisig. Diese Frequenzen sind, wie im Beitrag erwähnt, für das verschwindenlassen von Funklöchern mit erträglichem Aufwand schlicht ungeeignet.

    Ab 800 MHz werden Frequenzen dem Mobilfunk zur verfügung gestellt. Frequenzen von 700-800 MHz wurden schon Versteigert … können aber erst in den nächsten Jahren genutzt werden. Die für das wegbügeln von Funklöchern wichtigstens Frequenzen von 600-700 MHz werden für die fast sinnlose weil redundante verbreitung von Bauer-sucht-Frau-TV, Macho-TV, Schmik-TV und allerlei GEZ-Bisse verschwendet.

    Das neue DAB+ ist … entschuldigung … eine einzige Beleidigung der Ohren der Nutzer. 80kBit ist zu Wenig … zumindest mit dem Verwendeten Codec. Klassik Radio kling einfach nur leer und streckenweise sandig … Musik mach so keinen spass. Ist wohl erfolgreich Lobbyarbeit der Copyright-Bosse. Musik kann auch durch das Mobile Internet verbreitet werden. Schon heute ist dort der Gleiche Sender viel besser, weil mit 192kBit bei gleichem Codec zu Empfangen. Was Liegt da nächer als 55MHz TV aus dem Bereich 600-700 MHz dorthin zu verlagern.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.