Leuchtfeuer der Freiheit: Was wird das Vermächtnis für die digitale Freiheit sein?

npjahresbuch_coverDieser Beitrag von Gabriella Coleman ist zuerst in unserem „Jahrbuch Netzpolitik 2012 – Von A wie ACTA bis Z wie Zensur“ erschienen.

Leuchtfeuer der Freiheit: Was wird das Vermächtnis für die digitale Freiheit sein?

Es ist der späte Januar 2012. Regierungen auf der ganzen Welt bereiten sich darauf vor, ein neues, US-geführtes Handelsabkommen zu unterzeichnen, das Urheberrechtsverletzungen eindämmen soll: das Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen ACTA. Dann hatte es umfassende Proteste gegeben, on- und offline: Für das als „Anonymous“ bekannt gewordene lose Kollektiv von Aktivisten, Hackern und Internet-Bewohnern aller Art stellt ACTA der Versuch dar, die grundsätzlichen Freiheiten des Internets zu beschränken und zu kontrollieren, insbesondere den enormen kulturellen Austausch von Ideen und Informationen, der durch Filesharing ermöglicht wird.

In Polen war das Abkommen bereits unterzeichnet worden; einzig eine Mehrheit im Parlament war noch nötig, um es in nationales Recht umzusetzen. Dann war die Webseite der Regierung offline, vom Netz genommen durch eine Distributed Denial of Service (DDoS) Attacke von Anonymous. Dies war eine klare Botschaft an die PolitikerInnen, die überlegten, für das Abkommen zu stimmen. In der letzten Januarwoche versammelten sich mehr als 10.000 Menschen in Krakau zu einem allerletzten Protest, um die Abstimmung zu beeinflussen. Und dann geschah etwas Unerwartetes: Am 26. Januar 2012 setzen sich einige Mitglieder der polnischen Regierung während der Stimmabgabe im Parlament Guy Fawkes Masken aus Papier auf. Diese Maske, mittlerweile das Symbol von Anonymous, ist für Demonstranten auf der ganzen Welt zum verbreiteten Zeichen des Protests geworden, vom Tahrir-Platz in Ägypten bis zu den Occupy-Protesten in London. Aber jetzt übernahmen öffentlich Bedienstete das Symbol zum ersten Mal. Das Bild verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Medien.

Obwohl polnische PolitikerInnen das Symbol verwendeten, um einen spezifischen Protest gegen ACTA zu starten, trug die Geste und ihre fotografische Erinnerungsfunktion stark zur Legitimierung von Anonymous bei. „Diese Abgeordneten hatten Anonymous Guy Fawkes Masken auf“, bloggte ein Aktivist von Anonymous, „während die Website des Parlaments wegen einem DDoS von Anonymous offline war. Wir können diesen Fakt nicht genug betonen – das ist ein Wendepunkt.“

Nicht einmal einen Monat später ging ein ganz anderes Bild von Anonymous um. Am 21. Februar 2012 berichtete das Wall Street Journal, dass General Keith Alexander, der Direktor der amerikanischen Nationalen Sicherheitsbehörde (NSA), in einem geheimen Meeting im Weißen Haus Beamte darüber informiert hatte, dass Anonymous „dazu fähig ist, innerhalb der nächsten ein, zwei Jahre durch einen Cyberangriff einen begrenzten Stromausfall zu erzeugen“. Damit wurde die Gruppe nur wenige Wochen nach dem „Wendepunkt“ als bevorstehende und glaubwürdige Bedrohung beschrieben.

Was es bedeutetet zur Erzeugung eines Stromausfalls „fähig“ zu sein, blieb undefiniert. Könnte das heißen, dass Hacker bereits Passwörter erlangt haben, die ihnen Zugang zu Stromanlagen ermöglichen? Oder beruhte diese Warnung auf dem Hinweis eines Informanten, der mit Anonymous gearbeitet hatte? Jedenfalls waren die Behauptungen von General Alexander beängstigend und gewagt, aber auch ungenau. Ein Angriff auf Stromnetze würde Chaos verursachen und könnte möglicherweise sogar Leben gefährden. Es ist unwahrscheinlich, dass wir jemals herausfinden, ob die Einschätzung der NSA auf glaubwürdigen Informationen beruhte oder ob damit Anonymous einfach verunglimpft und diskreditiert werden sollte. Weitere Nachrichtenberichte zitierten AktivistInnen und SicherheitsexpertInnen und wiesen die Behauptungen der NSA als „Panikmache“ zurück. Es ist bis heute nicht bekannt, dass die Gruppe mit all ihren verschiedenen, legalen und illegalen Taktiken, jemals öffentlich zu einem solchen Angriff aufgerufen hätte – und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie es auch nur in Erwägung zieht. Eine solche Taktik wäre sehr untypisch für das Kollektiv, das, wenn häufig auch subversiv, in der Regel ethischen Normen entspricht und zivile Freiheiten verteidigt.

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Obwohl Anonymous nie unkontrovers war, wurden sie ab Februar 2012 als eine Open-Source-Marke radikaler Protest-Politik dargestellt und nicht unbedingt als Hooligans, die darauf versessen sind, extremistische und chaotische Taten wie das Abschalten von Stromnetzen auszulösen. Noch wichtiger: Während der Name verwendet wurde, um ein Spektrum unabhängiger Anliegen von Umweltrechten bis zum Aufdecken von Pädophilen-Ringen zusammenzubringen, sind Anonymous Aktivisten am wirksamsten und energischsten im Kampf gegen Zensur. Mit Kampagnen wie Operation Payback, die auf Konzerne wie MasterCard zielte als diese ihre Dienste für WikiLeaks einstellten, oder OpTunisia als Antwort auf das Vorgehen der tunesischen Regierung gegen Demonstranten und Journalisten, oder OpJapan und OpMegaupload, die als Antwort auf vorgeschlagene Gesetze zum Urheberrecht gestartet wurden: Anonymous-Aktivisten sind am wirksamsten, wenn sie die grundlegenden Freiheiten des Internets verteidigen und die Überwachung von Staaten und Unternehmen aufdecken.

Die Nachricht der NSA über die ernste Bedrohung von Anonymous schaffte es nicht, im öffentlichen Bewusstsein Fuß zu fassen. Vielleicht hätte sie es geschafft, wenn sie früher gekommen wäre, zum Beispiel zwischen Mai und Juli 2011 auf dem Höhepunkt der von LulzSec angeführten Angriffe. Im Gegensatz zu den meisten anderen Aktionen von Anonymous handelte LulzSec, eine abgespaltene Hacker-Gruppe, launenhaft und die Hacks waren auch nicht immer mit einem politischen Anliegen verbunden. Manchmal hackte LulzSec, um ein politisches Statement abzugeben, in anderen Fällen „for the Lulz“, umgangssprachlich im Internet für Lachen. In dieser Zeit richtete sich die Medienaufmerksamkeit, die riesig war, am meisten auf Anonymous als Hacker und nicht als allgemeine Protest-Gruppe.

Aktivitäten unter dem Label Anonymous, wie die von LulzSec, zeigen, dass obwohl Anonymous durch seinen Einsatz für freie Meinungsäußerung und Privatsphäre ein gewisses Maß an Respekt erhalten hat, es trotzdem berüchtigt ist für seinen respektlosen und umstrittenen Ansatz des Dissens. Um es klar zu stellen: die meisten der Aktivitäten sind legal, aber ein kleiner Teil – wie DDoS Attacken und Hacks – sind illegal und eindeutig Straftaten. Diese Taktiken erzielen auch die meisten Schlagzeilen. Einige Maßnahmen, wie zum Beispiel „doxing“ (das Veröffentlichen von persönlichen, vertraulichen Informationen wie Sozialversicherungsnummern oder Anschriften) befinden sich in einer rechtlichen Grauzone, weil sich die gewonnen Informationen auf öffentlich zugänglichen Webseiten finden lassen.

Im Laufe einer einzigen Operation können verschiedene TeilnehmerInnen auch alle drei Modelle anwenden: legale, illegale und rechtlich uneindeutige Taktiken. Nehmen wir Operation Bart im August 2011. Anonymous konzentrierte sich darauf, bekannt zu machen, dass Beamte des öffentlichen Nahverkehrs in San Francisco (BART) den Handyempfang auf Bahnsteigen abgeschaltet haben, um geplante Proteste gegen Polizeigewalt zu vereiteln. Wenig später half Anonymous dabei, Demonstrationen auf der Straße zu organisieren. Einige wenige hackten sich jedoch in das BART-Netzwerk und veröffentlichten Kundendaten, um die Aufmerksamkeit der Medien zu wecken – so erklärte es zumindest einer der TeilnehmerInnen im Fernseh- und Radioprogramm Democracy Now gegenüber Amy Goodman. Jemand fand außerdem ein gewagtes, halb-nacktes Bild des offiziellen Sprechers von BART, Linton Johnson, auf dessen persönlicher Webseite. Das wurde dann auf der Webseite „bartlulz“ mit einigem Wirbel veröffentlicht, zusammen mit der schamlosen Begründung: „Wenn du dich gegenüber der Öffentlichkeit wie ein Arsch verhältst, dann hast du sicherlich auch kein Problem damit, deinen Arsch der Öffentlichkeit zu zeigen“. Im Laufe einer Operation werden Verletzlichkeit und Schwäche häufig erkannt und ausgenutzt. Diese Art von Aktionen provoziert Kontroversen (auch innerhalb Anonymous) und findet ihren Weg in Schlagzeilen, die das öffentliche Profil der Gruppe stärken.

Manchmal sind die Mitglieder des losen Kollektivs absichtlich hinterlistig und verbreiten Falschinformationen über ihre Aktivitäten. Das kann in einigen Fällen eine Taktik zum Selbstschutz sein, oder auch um die Medien dazu zu bringen, falsche Schlagzeilen zu produzieren, was auch als eine Art von Hacking gesehen werden kann. AntiSec, eine der bekannteren an Anonymous angeschlossenen Hacker-Gruppen, könnte beispielsweise einen Hack für sich beanspruchen, ohne überhaupt an der Aktion beteiligt gewesen zu sein. Hacker sind häufig auf Botnetze (Netzwerke infizierter Computer) angewiesen, um eine Webseite kurzzeitig vom Netz zu nehmen, bewerben das aber nicht in Pressemitteilungen. Am 10. und 11. September 2012 behauptete AntiSec beispielsweise, sich 12 Millionen eindeutige Indentifikationsnummern von Apple iOS Geräten beschafft zu haben, indem sie sich in den Laptop eines FBI-Agenten gehackt hätten. Wie sich herausstellte, waren die Identifikationsnummern zwar echt, jedoch war die Quelle dafür eine Entwickler-Firma für iPhone und iPad, Blue Toad. Weil die Taktiken von oberflächlich über kontrovers bis zu illegal reichen und weil das Kollektiv dafür bekannt ist, einen Hype über die eigenen Aktivitäten zu generieren, kann es leicht selbst zur Zielscheibe werden. Verschleierung und Täuschung tragen zur Mystik und Macht von Anonymous bei, machen es aber auch anfällig für Desinformationskampagnen von Anderen.

Die größte Lehre, die aus Anonymous gezogen werden kann, ist, dass das Internet die Aktionen von Einzelpersonen, Unternehmen und Regierungen bewerten wird – und das häufig sehr schnell. Und mit Internet meine ich die unzähligen Hacker und Geeks von São Paulo bis Sydney, die verstehen, wie das Internet funktioniert, einen kleineren Teil der weiß, wie man Router und Protokolle austrickst und ein größere Masse, die sich versammelt, wenn das Internet und seine Werte in Gefahr sind.

Das heißt nicht, dass jeder Geek und Hacker Anonymous unterstützt. Tatsächlich mögen viele davon Anonymous oder ihre umstrittenen Taktiken wie DDoS eher nicht; manche Hacker vertreten entschlossen und unnachgiebig die Position, dass ein DDoS selbst eine Art von Zensur ist. Darüber hinaus gibt es viele verschiedene Arten, das Internet zu verteidigen, zum Beispiel das Programmieren freier Software oder der Eintritt in die Piratenpartei. Anonymous ist ein eigener, aufstrebender Teil dieser vielfältigen und aufkeimenden politischen Landschaft.

Die wahre Drohung von Anonymous liegt nicht so sehr in der Fähigkeit, digitale Angriffe zu organisieren, sondern in der Art wie es sich zu einem Leuchtfeuer entwickelt hat, einer vereinten Front gegen Zensur und Überwachung. Es könnte am Besten verstanden werden als jähzorniger und provokativer Protestflügel der entstehenden Bewegung für freie Meinungsäußerung und Datenschutz im Internet. Obwohl es bestimmte Themen zur ungünstigsten Zeit für die betroffenen Einzelpersonen, Gruppen oder Unternehmen in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, verdeutlicht es damit auch einen wichtigen Trend: In einer Zeit, in der der Wert von Datenschutz und Anonymität immer schneller ausgehöhlt wird, dramatisiert Anonymous den Wert von beiden. Anonymous setzt sich natürlich für Anonymität ein, das spiegelt sich sowohl in der mit ihm verbundenen Ikonografie als auch seinem Verhaltenskodex wider. Es ist beispielsweise tabu, individuelle Anerkennung oder Ruhm erlangen zu wollen; es wird erwartet, dass für das Team gearbeitet wird und nicht zum eigenen Vorteil oder Status. Die Bewegung bildet daher in Taten, Worten und Symbolen eine seltene Gegenmaßnahme zu einer Welt, die Menschen dazu ermutigt, ihr Leben zu offenbaren, wo das Internet sich an alles über uns erinnert, wo unsere Geschichte permanent in Suchmaschinen und Regierungsdatenbanken gespeichert wird – und zu einer Zeit, in der die Fähigkeit der Regierungen, ihre BürgerInnen zu überwachen exponentiell steigt, dank günstiger allgegenwärtiger digitaler Technologien und neuer, öffentlich-privater Partnerschaften.

Wie brisant Anonymous heute auch ist, die anhaltende Anwesenheit auf der Weltbühne wird sicherlich nicht immer andauern. Das Kollektiv ist geplagt von internen Machtkämpfe, Zersplitterung und einer Überanstrengung der Marke. Die Paranoia erreichte ihren Höhepunkt im Frühling 2012, als herauskam, dass Hector Xavier Monsegur, besser bekannt unter seinem Hacker-Nick „Sabu“, als FBI-Informant enttarnt worden war.

Am gefährlichsten für das langfristige Überleben von Anonymous ist das Durchgreifen von Regierungen: seit dem Sommer 2011 wurden über 100 mutmaßliche Teilnehmer weltweit verhaftet, aus Rumänien, der Türkei, Italien, Großbritannien, den USA, Chile und Deutschland.

Doch selbst wenn das lose Kollektiv langsam verblasst, ist es unwahrscheinlich, dass der respektlose Protest im Internet aufhören wird. Seit 2008, als Einzelpersonen begannen, diverse kollektive Aktionen unter dem Banner von Anonymous zu organisieren, wurde ein lebendiges Vorbild geschaffen, das der Welt zeigt, wie eine radikale Politik des Widerspruchs im Internet aussieht. Selbst wenn Anonymous verschwindet, seine Geschichte, die Hacks und das Propagandamaterial werden bleiben; es wird wahrscheinlich andere geben — in anderen Formen und unterschiedlichen Gestalten — die dessen Platz einnehmen werden.

Weniger klar ist, was schließlich aus der Meinungsfreiheit im Internet werden wird, angesichts zunehmender Fähigkeiten zur Überwachung, Zensur und Kontrolle weltweit. Ist Anonymous lediglich die Feier auf der Beerdigung der Online-Freiheit? Oder vertritt es die respektlosen Clowns, die AufrüherInnen und Trickser, die den Sensenmann in Schach halten und es anderen ermöglichen, von den Demonstrierenden auf den Straßen bis zu den Abgeordneten in Parlamenten, am rauen politischen Karneval teilzunehmen und die Bedrohungen für persönlichen Datenschutz und Freiheit zu bekämpfen?

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