Am Morgen des 4. Dezember wurde Brian Thompson, Geschäftsführer der Krankenversicherung UnitedHealthcare, in New York vor einem Hotel erschossen. Der maskierte Täter konnte fliehen. Auf den Hülsen der abgefeuerten Patronen soll er die Wörter „deny“, „delay“ und „depose“ geschrieben haben, zu Deutsch etwa „verweigern“, „verzögern“ und „absetzen“. Die Begriffe spielen wohl auf das Buch „Delay, Deny, Defend“ an, das US-Versicherungsunternehmen für ihre Methoden kritisiert.
Im nahegelegenen Central Park wurde ein mit Monopoly-Geld gefüllter Rucksack des Täters aufgefunden. Fünf Tage später verhaftete die Polizei den 26-jährigen Luigi Mangione in einer McDonalds-Filiale in Pennsylvania, nachdem ein Mitarbeiter einen Hinweis gegeben hatte. Laut den Ermittlungsbehörden trug Mangione zum Zeitpunkt der Verhaftung unter anderem ein handgeschriebenes Manifest bei sich.
Unmittelbar nach der Inhaftierung stürzte sich die digitale Öffentlichkeit auf alles, was von Mangione im Netz zu finden war: Beiträge in sozialen Medien, ein Foto, das ihn oberkörperfrei mit straffem Sixpack zeigt, erste „Mugshots“ der Polizei. Mit der Causa „Luigi“ begann ein Meme-Rausch, der neue Maßstäbe setzt – wohl auch deshalb, weil viele Menschen mit der Tat sympathisieren.
Galgenhumor und Werbefigur
Schon bevor die Behörden Luigi Mangione fassten, fand ein „CEO-Killer-Look-a-Like-Contest“ in New York statt, an dem Hunderte „Doppelgänger“ nach Vorbild des Täters mit Rucksack, Kapuzenpulli und Covid-Maske teilnahmen.
Eine Bekleidungsfirma aus New York nutzt die Gelegenheit und verkauft Slips mit den aufgestickten Worten „Deny, Defend, Depose“. Eilig eingerichtete Online-Shops und Plattformen wie Etsy vertreiben Luigi Mangione Fanartikel – T-Shirts, Tassen und Schirmmützen mit Schriftzügen wie „Make CEOS Afraid Again“. Und Amazon hat alle Hände voll zu tun, neue Mangione-Produkte zu löschen, da sie gegen die Richtlinien des Online-Händlers verstoßen.
Kleinunternehmen nutzen Mangione als Reichweitengenerator für Werbung. Beliebt sind insbesondere mit Bildbearbeitungssoftware erstellte „Beweis-Fotos“, die ihm ein Alibi verschaffen sollen. So dankte ein DJ mit einem Beitrag Mangione dafür, dass sich der „Freund“ zur Tatzeit auf einer Party aufgehalten habe.
Gleichzeitig fluten schlechte Bewertungen die Yelp-, Trip-Advisor- und Google-Maps-Einträge jener McDonalds-Filiale, in der Mangione festgenommen wurde.
Motiv der Content-Industrie
Unzählige Content Creator legen ihren Fokus auf das Aussehen des 26-jährigen. jjakejonezz verteidigt etwa den Angeklagten in einem offensichtlich leeren Gerichtssaal. Der Entertainer wirft einen verführerischen Blick in Richtung Anklagebank, legt die Hände auf das Richterpult und ruft dramatisch: „Euer Ehren, das ist Fake, das ist Propaganda, glaubt nicht, was sie sagen.“
Das Model Dylan Forgione posiert in einem schnittigen Hosenanzug mit schlüpfriger Videounterschrift: “Als böser CEO verkleidet, damit Luigi Mangione mir Backshots verpasst“. Eine Liste ähnlicher Inhalte ließe sich unendlich weiterführen.
Populäre YouTuber wie Brandon Herrera erstellen dagegen Videos, in denen sie die Waffe testen, die für den Mord genutzt wurde. Daneben gibt es viele weitere Clips mit Luigi-Mangione-Workouts, etliche „Luigi Mangione inspired Outfits“ – meist Rucksack, Kapuzenpulli und dunkle Jacke – sowie eine „CEO-Ermordungs-Tour“, die den Zuschauer zum Tatort und durch den Central Park führt. An der Stelle, wo Thompson erschossen wurde, wird der Satz „where the magic happened ✨ ✨“ eingeblendet.
Viel Verständnis für „Luigi“
Abseits der Memes äußern sich Zigtausende Menschen in den Kommentarspalten von Instagram, TikTok oder der New York Times. Die meisten zeigen überwältigendes Verständnis für die Tat von „Luigi“. Die Äußerungen reichen von „Er ist zu schön, um eingesperrt zu werden“ bis zu intimen Anekdoten, in denen US-Versicherungsunternehmen wie UnitedHealthcare die Kostenübernahme für lebenswichtige Gesundheitsmaßnahmen verweigert hat.
Und natürlich entsteht bereits ein Dokumentarfilm über den Fall. Federführend ist der Regisseur Stephen Robert Morse, der zwei Mal für den Emmy nominiert wurde. Er will nach eigener Aussage einen „ausgewogenen Einblick“ in die Ermordung Brian Thompsons geben und „alle Seiten der Geschichte beleuchten“.
Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Hype um Mangione mit der Veröffentlichung der neuen Kryptowährung „Luigi“. Sie erzielte innerhalb kurzer Zeit eine Marktkapitalisierung von 76 Millionen US-Dollar.
Filmreife Inszenierungen
Auch die Behörden selbst tragen zur Ikonisierung des Gefangenen bei. Ein „Perp Walk“ (kurz für „Perpetrator Walk“, also „Täter-Spaziergang“) ist der publikumswirksame Transport einer verdächtigen Person zu oder aus einem Gerichtsgebäude. Die Polizei inszenierte mit Mangione einen filmreifen Lauf. Ein Haufen bis an die Zähne bewaffneter Spezialeinheiten begleitete Mangione in Manhattan, der mit seinem orangenen Gefangenenkittel zwischen den dunkelblauen Uniformen hervorstach.
Für die Schriftstellerin Joyce Carol Oates ist das übertriebene Geleit ein Zeichen dafür , dass die Vollzugsbeamten ebenfalls auf der Bühne stehen wollten. Unter anderem der wegen Korruption beschuldigte New Yorker Bürgermeister Eric Adams setzte sich mit strengem Blick hinter dem Gefangenen in Szene. Einer der beiden Beamten des New York Police Departement, die Mangione während des Perp Walk flankierten, trug limitierte Sneaker – von Virgil Abloh designte Off-White x Air Jordan 5 „Muslin“ – eine auffällig trendige Wahl für das Justizspektakel.
Unerwartete Konsequenzen
Schon immer haben Massenmedien Kriminelle zu Prominenten gemacht. Und Fotos wie der „Most Beautiful Suicide” oder der im Jahr 1865 angefertigte Mugshot von Lewis Powell zeigen, dass die Faszination ästhetischer Bilder auch brutalen Selbst- oder versuchten Mord in den Hintergrund rücken lässt.
Die Vorgänge rund um Mangione setzen aber selbst in Zeiten, in denen soziale Medien den Ton vorgeben, neue Maßstäbe. Auch deshalb sind sie zum Thema akademischer Diskursanalysen, politischer Bewegungen und rätselnder Journalistinnen geworden.
Zugleich trägt die Mordtat überraschend dazu bei, politische Polarisierungsmauern zu durchbrechen. Als der rechtskonservative Ben Shapiro ein Video mit dem Titel „The EVIL Revolutionary Left Cheers Murder!“ veröffentlicht, hagelt es darunter Kritik aus den eigenen Reihen: „Ich kaufe dir diesen ‚Links gegen Rechts‘-Mist nicht mehr ab, Ben. Ich will Gesundheitsversorgung für meine Familie.“ Der Kommentar erhielt mit Abstand den meisten Zuspruch – mehr als dreißigtausend Likes.
„UnitedHealth die Kostenübernahme für lebenswichtige Gesundheitsmaßnahmen verweigert hat.“
10 Jahre Zurückblickend, wie viele tote?
„10 Jahre Zurückblickend, wie viele tote?“
Naja, aber wieviele davon waren CEOs??
Der Begriff Marktkapitalisierung (betriebswirtschaftliche Kennzahl) im Kontext Krytpowährugen ist irreführend, der Begriff wird in erster Linie für den Börsenwert der Aktien eines Unternehmens verwendet. Für ETP (exhange tradable products) wie Kryptowährungen exisitert ein Kurs bzw. ein Volumen im Umlauf befindlicher Token oder Assets.
Die ARD Finanzredaktion hat das auch nicht verstanden: Kennzahlen aus der Betriebswirtschaft zu Aktien von Unternehmen sind nicht ohne weiteres auf Kryptowährungen (Token oder Asset Handelspreise) übertragbar, die ausschliesslich von der Nachfrage abhängen und bei denen Kennzahlen wie emittierte Anteile, Eigenbesitz und Streubesitz nicht veröffentlicht werden.
CEO von UnitedHealthcare nicht UnitedHealth
Danke für den Hinweis, ist korrigiert.