Syrischer GeheimdienstSchlägertruppe statt IT-Experten

In Koblenz steht ein ehemaliger Geheimdienst-Ermittler aus Syrien wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht. Der Prozess verrät viel über die Arbeitsweise der Geheimdienste zur Zeit der Massenproteste 2011 – und zeichnet das Bild brutaler Schläger, die nur wenig von digitaler Überwachung verstanden.

Demonstrant:innen im syrischen Douma im Jahr 2011
Im Jahr 2011 kam es in ganz Syrien zu großen Protesten gegen die Regierung, wie hier in Douma nahe Damaskus. CC-BY 2.0 shamsnn

Hannah El-Hitami schreibt als freie Journalistin vor allem über arabische Länder, Migration und internationale Gerechtigkeit. Als Gerichtsreporterin für Justice Info und den Podcast Branch251 begleitete sie in Koblenz das erste Verfahren wegen Völkerrechtsverbrechen des syrischen Regimes. Sie ist erreichbar per Mail unter hannah@el-hitami.de oder auf Twitter als @hannahel711.

Das einzige, woran Hussein Ghrer denken kann, als er im Oktober 2011 festgenommen wird, ist der USB-Stick in einer kleinen Seitentasche seiner Jeans. Ghrer sitzt mit einer Journalistin im Aroma Café in Damaskus, als zwei Geheimdienstoffiziere in ziviler Kleidung an ihren Tisch herantreten und ihn auffordern mitzukommen. Sie vergewissern sich, dass Ghrer seinen Laptop mitnimmt, doch darauf hat der syrische Blogger nie etwas gespeichert.

Namen, Nummern, Pläne, alles wanderte direkt auf den Stick. „Dieser USB-Stick hätte mich töten können“, erinnert sich der heute 41-Jährige aus Aleppo. „Und Dutzende Menschen wären deswegen verhaftet worden.“

Die Offiziere nehmen Ghrer mit zu einer nahegelegenen Geheimdienstabteilung, bringen ihn in einen großen, leeren Raum mit nur einem Stuhl. Als die Wachen einen Augenblick den Raum verlassen, wittert Ghrer seine Chance. Er zieht den Stick mit den abgerundeten Kanten, den er extra deswegen ausgesucht hat, aus seiner Tasche, steckt ihn in den Mund und schluckt ihn. „Jetzt konnte ich durchatmen“, erzählt er fast zehn Jahre später mit einem verschmitzten Lachen, das nichts über die Qualen verrät, welche er in seiner Haft noch durchleiden würde.

Einer der bekanntesten Blogger Syriens

Im Frühsommer 2021 sitzt Ghrer in einem hellblauen Pulli in einem Bistro in der Hannoveraner Innenstadt, raucht Pfeife und trinkt ein Bier, während er von der Zeit in Syrien erzählt. Mit seiner Frau und zwei Söhnen wohnt er in der Nähe der norddeutschen Stadt, die, wie er findet, keinen Charakter hat. In Syrien war er einer der bekanntesten Blogger und einer der wenigen, die sich ab 2011 trauten, unter Klarnamen zu schreiben. Seine Blogposts drehten sich vor allem um Rechte von Frauen und Behinderten, er kritisierte oft die Misswirtschaft und undemokratische Politik des Assad-Regimes.

Wegen seines Aktivismus im Netz und auf der Straße war er zwei Mal inhaftiert: Zuerst in der Al-Khatib-Abteilung und danach drei Jahre lang im Adra-Gefängnis. Im Sommer 2015 verließ er Syrien und ist heute einer der 20 Nebenkläger im weltweit ersten Gerichtsprozess, der sich mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit des syrischen Regimes im Zuge der Massenproteste seit 2011 auseinandersetzt.

Angeklagt waren zwei ehemalige Geheimdienstoffiziere, von denen der niedrigrangigere bereits Ende Februar zu viereinhalb Jahren Haft wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde. Weiterhin angeklagt ist Anwar R., der als Leiter der Ermittlungsabteilung in der Geheimdienstabteilung 251 in Damaskus für 52 Tode, 4.000 Fälle von Folter und mehrere Fälle sexualisierter Gewalt verantwortlich gewesen sein soll.

Im Gefängnis der auch als Al-Khatib bekannten Abteilung sollen ab 2011 Tausende Oppositionelle inhaftiert, gefoltert und getötet worden sein. Für viele Überlebende ist der sogenannte Al-Khatib-Prozess ein erster Schritt in Richtung Gerechtigkeit und eine Chance, ihre traumatischen Erfahrungen vor einem rechtstaatlichen Gericht zu berichten.

Zugleich bietet das Verfahren einen einmaligen Einblick in die Arbeitsweise der syrischen Geheimdienste, auf Arabisch „Mukhabarat“ genannt, die seit Jahrzehnten eine entscheidende Rolle für den Machterhalt der Assad-Familie spielen. Ohne ihre systematische Überwachung, Bedrohung, Bespitzelung, Infiltrierung, Folter und Tötung von Oppositionellen hätte das Assad-Regime, so sagen viele, niemals so lange an der Macht bleiben können. Der Prozess offenbart die unglaubliche Brutalität, mit der die Geheimdienste im Rahmen der Massenproteste ab 2011 versuchten, Informationen aus Regimekritiker*innen herauszufoltern. Er zeigt aber auch, wie schlecht das Regime auf eine Bewegung vorbereitet war, die sich nicht nur auf der Straße, sondern auch digital organisierte.

Unterirdische Zellen ohne Tageslicht oder Frischluft

Seit der Prozess im April 2020 am Oberlandesgericht Koblenz begann, haben etwa 70 ehemalige Gefangene, Geheimdienst-Insider und Expert*innen über die Arbeit der syrischen Geheimdienste und die Zustände in deren Gefängnissen, insbesondere der Al-Khatib-Abteilung, ausgesagt.

Sie berichteten von viel zu kleinen, unterirdischen Zellen ohne Tageslicht oder Frischluft, in denen Gefangene so eng zusammengepfercht wurden, dass sie nur in Schichten schlafen konnten; von blutverfärbten Gemäuern, die nach den schwitzenden, verletzten Körpern der Gefangenen rochen; und von den ununterbrochenen Schreien der Gefolterten, die manche in den Wahnsinn trieben.

Ziel der brutalen Verhöre war häufig, Zugang zu den Facebook- oder E-Mail-Konten der Gefangenen zu bekommen. Darüber wollten die Vernehmer an Namen und Aktivitäten weiterer Demonstrant*innen gelangen. Mehrere Zeug*innen berichteten, dass sie unter Folter gezwungen wurden, ihr Passwort herauszugeben. „Sie sagten, sie schlagen mich so lange, bis ich mich erinnere“, erzählte ein Zeuge, der vorgegeben hatte, sein Passwort vergessen zu haben. „Nachdem ich es eingab, hatten sie Zugang zu allen Informationen über die Demonstrationen.“

Blogger Ghrer verbrachte zwei Wochen in Gefangenschaft, während derer er regelmäßig verhört und gefoltert wurde. „Ich musste immer knien während der Vernehmung“, berichtete er dem Koblenzer Gericht bei seiner Zeugenaussage im August 2020. „Der Vernehmer saß vor mir, und hinter mir stand ein Wärter. Immer, wenn meine Antworten nicht zufriedenstellend waren, musste ich mich auf den Bauch legen und meine Füße hochheben. Dann wurde ich mit einem dicken Gürtel oder einem Kabel auf die Fußsohlen oder den Rücken geschlagen.“

Folterer ohne Ahnung vom Internet

Als allererstes wurde er nach seinem Facebook-Zugang gefragt. Wie viele politische Aktivist*innen dieser Zeit war er jedoch vorbereitet: „Ich hatte zwei Facebook-Accounts“, erzählt er bei dem Treffen in Hannover. „Im Falle einer Festnahme sollten mein Online- und mein Offline-Aktivismus komplett voneinander getrennt sein.“ Unter dem Decknamen „Free Man“, organisierte er Demonstrationen und vernetzte sich mit Oppositionsgruppen. „Dafür nutzte ich immer eine VPN-Verbindung, um niemanden in Gefahr zu bringen“, so Ghrer.

Den anderen Facebook-Account, unter seinem Klarnamen, zeigte er den Sicherheitskräften im Gefängnis. „Ich gab ihnen das Passwort und sie sagten: ‚Du gehörst zur Opposition!‘ Ja, gehöre ich, na und? Sie konnten keine weiteren Informationen daraus ziehen, außer meiner persönlichen Meinung.“

Obwohl Recherchen zeigen, dass das Assad-Regime schon seit den 2000er Jahren versucht, Überwachungstechnologien – auch von europäischen Konzernen – zu kaufen, erweckten die Aussagen von Überlebenden im Prozess eher den Eindruck, dass die syrischen Geheimdienste 2011 weit davon entfernt waren, digitale Überwachung gezielt gegen die Protestbewegung einsetzen zu können. Vielmehr schien ihr Vorgehen gegen digitalen Aktivismus zu jener Zeit vor allem darin zu bestehen, Gefangene so lange zu foltern, bis die ihre Zugangsdaten zu E-Mail-Konten oder sozialen Netzwerken herausrückten.

„Ich glaube, sie merkten zu dieser Zeit erst, wie wichtig das Internet ist“, vermutet Blogger Ghrer. Doch der Vorsprung, den viele Aktivist*innen gegenüber den Mitarbeitern des Geheimdienstes hatten, war offenbar groß. Einer, der ihn verhörte, habe nicht einmal den Unterschied zwischen Passwort, Benutzernamen und E-Mail-Adresse gekannt, erinnert sich Ghrer. Ein anderer ließ ihn seinen Skype-Account öffnen, um an weitere Kontakte zu gelangen. Ghrer loggte sich ganz in Ruhe ein und informierte einen Freund im Chat darüber, dass er in der Al-Khatib-Abteilung inhaftiert sei. „Dann gab ich den Vernehmern ein paar Kontakte von Syrern im Ausland und loggte mich wieder aus“, erinnert sich Ghrer amüsiert.

Junge Syrer*innen schützen sich vor Überwachung

„Die syrischen Geheimdienste sind traditionell eher Muskel-Vereine,“ sagt Uğur Üngör, Professor für Holocaust- und Genozidforschung am niederländischen NIOD-Institut. Von Kollegen, die zu anderen Geheimdiensten recherchieren, habe er gehört, dass die syrischen Mukhabarat sogar bei KGB und Stasi als „notorische Vollidioten“ galten. „Diese Leute haben nicht IT studiert. Ihre Aufgabe ist es, Gefangene zu verprügeln“, fügt er bei einem Telefonat Ende Juni hinzu.

Die syrischen Geheimdienste wurden schon in den 1960er Jahren von Hafiz al-Assad, dem damaligen Präsidenten und Vater von Baschar al-Assad, etabliert. Sie arbeiteten von Anfang an eng mit der Regierung zusammen, um jegliche Opposition oder kritische Meinung in der Bevölkerung zu unterdrücken. Indem sie die Gesellschaft infiltrierten und Zivilist*innen als Spitzel rekrutierten, schufen sie ein Klima der Angst und des Misstrauens.

Die vier Geheimdienste – der Luftwaffengeheimdienst, der Militärische Geheimdienst, der Allgemeine Geheimdienst und das Büro für Politische Sicherheit – betreiben ihre regional und thematisch spezialisierten Abteilungen flächendeckend in ganz Syrien.

Laut einem BND-Bericht, der im Gerichtssaal verlesen wurde, kam 2011 ein technischer Aufklärungsdienst dazu, der für Kommunikations- und Fernmeldeüberwachung zuständig ist. Wie weit die Überwachung der Dienste reicht, zeigten beispielhaft die Schaubilder der Strukturen in der Abteilung 251, um die der Prozess sich dreht: darin habe es jeweils eine Unterabteilung für Studierende, Arbeiter*innen, Parteien, Unternehmen und Religion gegeben.

Die Geheimdienste verlassen sich auf körperliche Gewalt

Anders als in Europa verfügen die syrischen Geheimdienste über eigene Gefängnisse, das Recht, Menschen festzunehmen und völlige Straffreiheit im Umgang mit ihnen. Daher verließen sie sich auf körperliche Gewalt, so Üngör weiter. Er forscht seit vielen Jahren zu staatlicher Gewalt und Völkermord und beschäftigt sich seit 2011 mit der Gewalt des syrischen Regimes, seiner Geheimdienste und regimenaher Milizen.

Er beobachtet, dass das syrische Regime seit Anfang der 2000er Jahre versucht hat, mehr in digitale Überwachung zu investieren. Vor allem aber seit Beginn der Massenproteste und des Bürgerkrieges 2011 habe es extrem aufgeholt. „Wie weit es sich genau entwickelt hat, wissen wir nicht.“

Das Regime sei eine Blackbox, kaum recherchierbar, so Üngör, der sich bei seiner Forschung auf Aussagen von ehemaligen Gefangenen, Deserteuren und auf geleakte Dokumente verlässt. Bei seinen Interviews stellte er auch fest, dass die junge Generation in Syrien gelernt hat, sich vor Überwachung zu schützen. „Sie wissen, wann man sein Smartphone wegschmeißen muss, was man mit der Sim-Karte und der Batterie tun soll. Sie haben USB-Sticks, die sich selbst zerstören, wenn man einmal das falsche Passwort eingibt, und nutzten Signal schon lange, bevor es populär wurde.“

Der USB-Stick bleibt verschwunden

15 Jahre ist es her, dass Ghrer zum ersten Mal bloggte. In dem Post mit dem Titel „Weitere sieben Jahre Dürre“ schrieb er über den Beginn der zweiten Amtszeit Bashar al-Assads und die enttäuschten Hoffnungen auf Veränderung, die der Damaszener Frühling hatte aufkommen lassen.

„Beim ersten Mal hatte ich sehr große Angst, da ich keine Ahnung hatte, ob die Mukhabarat meine IP-Adresse nachverfolgen könnten“, so Ghrer, der damals noch das Pseudonym „Free Man“ nutzte. Heute muss er nur dann vorsichtig sein, wenn es um Kontakte nach Syrien geht. Mit der Familie seiner Frau, die dort noch lebt, ist er nicht auf Facebook befreundet. Freunde in Syrien kontaktieren ihn nur mit VPN und unter Pseudonymen. „Einmal habe ich sogar den Namen eines meiner besten Freunde vergessen, weil ich so sehr darauf achte, ihn niemals zu benutzen“, erzählt Ghrer.

Er selbst fühlt sich in Deutschland sicher, schreibt online alles, was er möchte – wenn auch eher kürzere Beiträge auf Facebook und Twitter statt aufwendig recherchierter Blogposts. Der USB-Stick von damals, sagt Ghrer, sei übrigens bis heute nicht wieder aufgetaucht.

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