Das Problem Verfassungsschutz hat eine lange Geschichte

Der Verfassungsschutz hat eine lange Tradition, rechte Gewalt zu vertuschen und zu verharmlosen. Doch das Problem sind nicht die vielen Skandale, sondern der Geheimdienst selbst. Er dient nicht dem Schutz der Demokratie, sondern der Überwachung politischer Gegner, der Steuerung von antidemokratischen Szenen und dem Erhalt und Ausbau des eigenen Einflusses.

Geschredderte Akten sind nicht das einzige Problem beim Verfassungsschutz CC-BY 2.0 Mark Michaelis

Dieser Artikel erschien im Original im November 2018 in der 224. Ausgabe der Publikation „Vorgänge“ der Humanistischen Union unter dem Titel „Das Problem Verfassungsschutz“.

Nachdem der bisherige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, kürzlich rassistische Ausschreitungen in Chemnitz verharmloste und anschließend bekannt wurde, dass er sich mehrfach mit Vertretern der Alternative für Deutschland getroffen hatte, war schnell von einem Skandal die Rede. Dieser Skandal ist jedoch nur die aktuellste Auflage immer wiederkehrender „Affären“, die eine politische Schlagseite der Behörde untermauern.

Sebastian Wehrhahn und Martina Renner erinnern an die lange Traditionslinie des Vertuschens und Verharmlosens rechter Gewalt durch den Verfassungsschutz. Ihr Fazit: Das Problem beim Verfassungsschutz sind nicht die vielen Skandale, sondern der Verfassungsschutz selbst. Er dient nicht dem Schutz der Demokratie, sondern der Überwachung politischer Gegner, der Steuerung von antidemokratischen Szenen und dem Erhalt und Ausbau des eigenen Einflusses.

Antidemokratische Kontinuität

Ein Blick in die Geschichte des Verfassungsschutzes zeigt, dass Sympathien für die extreme Rechte, Hass gegen Linke und Missachtung des Rechtsstaats keineswegs neue Phänomene im Inlandsgeheimdienst sind.

1950 wurde das Bundesamt unter strenger Aufsicht der Alliierten gegründet. So sollte verhindert werden, dass ehemalige Angehörige von Gestapo, SS oder dem Sicherheitsdienst des Reichssicherheitshauptamtes ins Amt gelangten. Dies wurde allerdings durch die Praxis der „Freien Mitarbeiter“ und die Gründung von Tarnfirmen umgangen.

Als „Freie Mitarbeiter“ konnten auch hochrangige Nazis im neu gegründeten Amt Karriere machen. Zentrale Figur für die Einstellung der Nazis war Richard Gerken. In seiner Abteilung „Beschaffung“ stellte der ehemalige Offizier der nationalsozialistischen Abwehr viele ranghohe Funktionäre ein. Eine anschauliche Personalie ist die von Johannes Strübing.

Strübing war SS-Hauptsturmführer und Mitarbeiter der Gestapo. Im Bundesamt durfte er das tun, was er auch schon im Faschismus tat: tatsächliche oder vermeintliche Sozialisten jagen. Strübing, der schon bei der Gestapo für die Bekämpfung der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ zuständig war, behauptete, die Organisation sei nach wie vor aktiv und werde von der Sowjetunion gesteuert. Diese Verschwörungstheorie war übrigens auch im BND und dessen Vorläuferorganisation äußerst wirkungsmächtig.

Im Rahmen dieser antikommunistischen Fantasterei sorgte Strübing unter dem Einsatz von V-Leuten und auf Grundlage von Gestapo-Akten dafür, dass Überlebende und Angehörige des Widerstandskreises bespitzelt wurden, darunter auch Hartmut Schulze-Boysen, Bruder des Widerstandskämpfers Harro Schulze-Boysen, der mit seiner Frau Libertas 1942 hingerichtet worden war. Vor seiner Hinrichtung war Harro Schulze-Boysen vernommen worden – von Gestapo-Kommissar Johannes Strübing.

Die Anstellung ehemaliger NS-Funktionäre wurde von den West-Alliierten durchaus gebilligt. Zwar wurden die Nazis erst nach Ende des Besatzungsstatuts 1956 verbeamtet, die Beschäftigung als „Freie Mitarbeiter“ fand jedoch unter den Augen der Alliierten statt. Der nationalsozialistische Antikommunismus qualifizierte die ehemaligen Gestapo-, SS- und SD-Leute offenbar für ihre Tätigkeit beim Inlandsgeheimdienst, der von Anbeginn an die Aufgabe hatte, Linke zu beobachten und zu verfolgen.

Diese Feindbestimmung prägte auch in den folgenden Jahrzehnten die Praxis des Verfassungsschutzes. Eindrücklich zeigt dies die Rolle des Geheimdienstes bei den Berufsverboten der 1970er Jahre. 1972 beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder und der SPD-Kanzler Willy Brandt mit dem sogenannten „Radikalenerlass“ die verpflichtende Überprüfung von angehenden Beamt/innen auf ihre Verfassungstreue. Mit dieser Überprüfung wurden die Verfassungsschutzämter betraut. Für sie galten nicht nur Mitgliedschaften in einschlägigen Organisationen als verdächtig, sondern auch die Teilnahme an Demonstrationen, die Unterzeichnung Offener Briefe oder das Verteilen von Flugblättern.

3,5 Millionen Menschen wurden so bespitzelt, gegen 11.000 Personen wurden Verfahren geführt, 1250 Bewerber/innen abgelehnt und 256 Beamt/innen entlassen. Auch wenn der Radikalenerlass sich offiziell gegen rechte wie linke „Radikale“ richtete, sah die Praxis eindeutig aus. So wurden laut dem Historischen Lexikon Bayerns „in Bayern zwischen 1973 und 1980 aus dem linken Spektrum 102 Bewerber abgelehnt, dagegen nur zwei aus dem rechten“.

1985 wurde die Regelanfrage beim Verfassungsschutz für angehende Beamtinnen abgeschafft. Der Verfassungsschutz sammelte allerdings weiterhin die Daten von Linken. 1985 berichtete der Spiegel über einen geheimen Datenschutz-Prüfbericht, der ihm in Teilen vorlag. Dieser Bericht belegte, dass der Geheimdienst in großem Ausmaß Menschen überwachte, weil diese verdächtig waren, sich links oder auch nur liberal zu engagieren.

Der Spiegel schrieb damals, die „Sammelwut [des Verfassungsschutzes] geht so weit, daß jeder Bundesbürger, der nur seine Grundrechte wahrnimmt, fürchten muß, vom Verfassungsschutz erfaßt zu werden“. Unter anderem wurden 1.700 Gewerkschafter unter dem Verdacht beobachtet, mit der DKP zu sympathisieren.

Auch ein Telefonverzeichnis sämtlicher DGB-Mitarbeiter, teils mit deren privaten Anschlüssen, fand sich in den Akten des Verfassungsschutzes. Die sogenannte P2-Kartei umfasste mehrere 10.000 Personen, die vom Geheimdienst bespitzelt wurden. Die Datei enthielt unter anderem Vermerke über die vermutete sexuelle Orientierung der Betroffenen.

Das System Geheimdienst

Zu den systematischen Aspekten, die den Verfassungsschutz zu einem Problem für die Demokratie machen, gehört der Einsatz von V(ertrauens)-Leuten, also aktiven Mitgliedern der zu beobachtenden Szene. Sie liefern gegen Bezahlung und/oder Gewährung anderer Vorteile Informationen fragwürdiger Güte. Nicht selten geschieht das durchaus im Einverständnis mit der beobachteten Organisation.

So auch im Falle von Wolfgang Frenz, Mitbegründer der NPD und zeitweise stellvertretender Vorsitzender des nordrhein-westfälischen Landesverbandes. Er arbeitete zwischen 1961 und 1995 für den Verfassungsschutz NRW. Frenz holte vor Beginn seiner Tätigkeit für den Verfassungsschutz die Genehmigung der Partei ein. Ebenfalls im Einverständnis mit der Partei spitzelte Udo Holtmann, seit 1993 Vorsitzender der NPD in Nordrhein-Westfalen. Er ließ sich die Zustimmung des NPD-Vorsitzenden Martin Mußgnug zur Zusammenarbeit mit dem Bundesamt 1978 sogar schriftlich geben.

Holtmann veranschaulicht ein weiteres Problem der V-Mann-Führung: Zwar halten die Dienstvorschriften des Geheimdienstes ausdrücklich fest, dass V-Leute „weder die Zielsetzung noch die Tätigkeit des Beobachtungsobjekts entscheidend mitbestimmen“ dürfen – in der Praxis tun sie jedoch genau das. In der Konsequenz und unter anderem aufgrund der Tätigkeit Holtmanns für das BfV platzte das erste NPD-Verbotsverfahren.

Auch im Fall des V-Mannes Stephan Lange, früherer Chef des „Blood and Honour“-Netzwerkes in Deutschland, ist deutlich, dass gerade seine Führungsposition ihn für den Geheimdienst interessant gemacht hat.

Ein jüngeres Beispiel legt nahe, dass sich an dieser Praxis bis heute nichts grundlegend geändert hat. Im September 2018 berichteten Medien, dass ein V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes die Ausreise eines 16-Jährigen zum Einsatz für den Islamischen Staat organisiert haben soll.

Solchen Fällen liegt ein grundsätzliches Problem zugrunde: Mitglieder einer Szene sind dann als V-Personen von Interesse, wenn sie maßgeblich in jene Prozesse eingebunden ist, die Ziel der Beobachtung sind. Die in den Dienstvorschriften entworfene und der Öffentlichkeit idealtypisch präsentierte V-Person, die zwar Wissen über relevante Vorgänge hat, an diesen jedoch nicht beteiligt ist, ist ein Paradoxon, das in der Wirklichkeit selten bis nie vorkommt.

Das betrifft auch die Frage, inwieweit V-Personen Straftaten begehen. Das entsprechende „Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes“ von 2015 enthält zwar Einschränkungen, welche Taten in diesem Rahmen zulässig sind, lässt jedoch der Behörde großen Ermessensspielraum.

Einen weiteren problematischen Widerspruch bilden das geheimdienstliche Interesse an V-Leuten und das demokratische Interesse am Ausstieg aus antidemokratischen Szenen. Ein solcher Widerspruch wird aus dem Bericht Jerzy Montags zum V-Mann Thomas Richter alias Corelli deutlich. Statt Richter den gewünschten Ausstieg zu ermöglichen, wurde er vom Geheimdienst über Jahre als V-Mann geführt.

Behinderung von Ermittlungen

Eng mit der V-Leute-Praxis hängt die Behinderung von polizeilichen Ermittlungen zusammen. Auch dafür ist der NSU-Komplex reich an Beispielen. Tino Brandt, zeitweise stellvertretender Landesvorsitzender der NPD sowie Kader des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS), kassierte als V-Mann des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz (TLfV) nicht nur über 200.000 DM, die er in den Aufbau der Neonazi-Szene investierte. Er wurde auch zuverlässig vor anstehenden Hausdurchsuchungen gewarnt.

Zwischen 1994 und 2001 wurden mindestens 35 Ermittlungsverfahren gegen Brandt geführt, von denen die meisten eingestellt wurden und keines mit einer Verurteilung endete. Auch Thomas Dienel, Freund von Tino Brandt, zeitweiliger Vorsitzender der Thüringer NPD und ebenfalls V-Mann des TLfV, wurde nach eigenen Angaben vor Durchsuchungen gewarnt.

Die geheimdienstliche Behinderung von Ermittlungen und Aufklärung endete nicht mit der Selbstenttarnung des NSU. Wenige Stunden nachdem Beate Zschäpe sich der Polizei gestellt hatte, begann im Bundesamt für Verfassungsschutz der Referatsleiter Axel M. – Tarnname: Lothar Lingen -, Akten von V-Leuten aus Thüringen zu suchen. Am nächsten Tag ließ er Mitarbeiter/innen Unterlagen mit Bezug zu Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt heraussuchen und wies anschließend eine Mitarbeiterin an, diese alsbald zu vernichten.

Wenige Tage später ließ M. weitere Akten mit Bezug zum NSU schreddern – diesmal sogar explizit entgegen der Anweisung des BfV-Präsidenten Fromm. Das entsprechende Verfahren gegen M. wurde im März 2018 eingestellt. In mittlerweile 13 Untersuchungsausschüssen in den Ländern und im Bundestag haben die Verfassungsschutzämter immer wieder die Aufklärung sabotiert: Zeug/innen wurden nicht benannt, Mitarbeiter/innen keine Aussagegenehmigungen erteilt, Akten unterschlagen und mitunter wurde schlichtweg gelogen.

Im Abschlussbericht des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag wird ein Thesenpapier des Bundeskriminalamts von 1997 referiert, demzufolge „einige Aktionen der rechtsextremistischen Szene […] so maßgeblich, teilweise ausschließlich von Quellen des Verfassungsschutzes organisiert [worden seien], dass fraglich sei, ob diese Aktionen ohne deren Beteiligung stattgefunden hätten“.

Und: „Neben der These, dass Quellen unter dem Schutz des Verfassungsschutzes maßgeblich in führenden Positionen an der Vorbereitung von Aktionen mitwirkten, die ohne die Quellen ggf. nicht in dieser Form bzw. Größenordnung stattgefunden hätten, umfassen die Thesen zusammengefasst den Vorwurf, dass die Verfassungsschutzbehörden zum einen ihre Quellen – mehrheitlich überzeugte Rechtsextremisten – in erheblichem Maße finanziell unterstützten, vor Exekutivmaßnahmen schützten, warnten und über Umgehungsmöglichkeiten informierten und zum anderen keine, unzureichende oder verspätete Informationen an die Polizei weitergäben.“

Das Schweigen des Geheimdienstes umfasst nicht nur die NSU-Morde. So scheiterten beispielsweise auch vier Anläufe, den Mord an Ulrich Schmücker gerichtlich aufzuklären. Schmücker war Anfang der 1970er Jahre ein V-Mann des West-Berliner Verfassungsschutzes im Umfeld der „Bewegung 2. Juni“. Er wurde in der Nacht zum 5. Juni 1974 erschossen. Wenige Stunden zuvor war eine Observation Schmückers durch den Verfassungsschutz aus unbekannten Gründen abgebrochen worden. Die Tatwaffe lagerte bis 1989 in einem Tresor des Geheimdienstes. Unmittelbar nach der Tat wurde sie Schmückers V-Mann-Führer von einem weiteren V-Mann übergeben.

Die Zeit schrieb: „Dann begann die geheime Steuerung der Ermittlungsbehörden durch das Berliner Landesamt. Es wurden falsche Akten angefertigt und echte beseitigt, Spuren gelegt, Polizei und Staatsanwaltschaft beeinflusst, Spitzel in die Kanzlei von Verteidigern eingeschleust, Telefone abgehört, Beschuldigte mit Druck und Versprechungen zu Geständnissen genötigt.“

Mit dem Urteil des vierten Prozesses – die Urteile der drei vorangegangenen Prozesse wurden jedes Mal vom Bundesgerichtshof aufgehoben, da die Rolle des Geheimdienstes zu mysteriös blieb – wurde das Verfahren eingestellt. Die Richterin Ingeborg Tepperwien attestierte mit Blick auf den Verfassungsschutz einen „Extremfall rechtsstaatswidrigen Verhaltens staatlicher Behörden“.

Bis heute ist der Mordfall Schmücker nicht aufgeklärt, weil der Geheimdienst sein Wissen nicht preisgibt. Ähnlich verhält es sich in anderen Komplexen. Was weiß der Verfassungsschutz über die Wehrsportgruppe Hoffmann und das Oktoberfest-Attentat, immerhin der schwerste terroristische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik? Die unmittelbar nach dem Anschlag eilig zusammengezimmerte These, derzufolge der bei dem Anschlag ebenfalls getötete Gundolf Köhler alleine für den Anschlag verantwortlich sein soll, ist wenig glaubwürdig. 2014 nahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen wieder auf.

Der Journalist Hans-Wilhelm Saure befindet sich in einem Jahre währenden Gerichtsstreit über die Herausgabe von entsprechenden Akten des Geheimdienstes. Auch die Bundestagsfraktionen der LINKEN und von Bündnis90/Die Grünen klagten vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die rigide Antwortpraxis der Bundesregierung in Bezug auf das geheimdienstliche Wissen über die Wehrsportgruppe Hoffmann und den Anschlag auf das Oktoberfest.

Die Entscheidung des Gerichtes war ein kleiner Sieg und eine große Niederlage: Zwar musste die Bundesregierung einzelne Fragen, insbesondere zur möglichen V-Mann-Tätigkeit des 1981 in Haft durch Suizid verstorbenen Neonazis Heinz Lembke beantworten; gleichzeitig lieferte das Gericht dem Geheimdienst etliche Begründungen, warum er auch künftig die Fragen des Parlamentes nicht beantworten muss.

Auch ein weiterer Mordfall mit Verbindungen zur Wehrsportgruppe Hoffmann – der Doppelmord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke – wirft noch immer Fragen auf, die der Verfassungsschutz vielleicht beantworten könnte. Beide wurden in der Vorweihnachtszeit 1981 in ihrem Haus erschossen. Auch hier gilt offiziell ein einzelner Täter als alleinverantwortlich. Auch der ist tot und konnte weder befragt noch verurteilt werden. Auch er hatte Bezüge zur Wehrsportgruppe Hoffmann. Auch über ihn hat der Geheimdienst Akten, über deren Bestand er zunächst log und die er bis heute unter Verschluss hält.

Unkontrollierbar

Der Verfassungsschutz brüstet sich damit, so gut „kontrolliert wie kaum eine andere Behörde“ zu sein. Die Wahrheit ist jedoch, dass eine demokratische Kontrolle eines geheim operierenden Nachrichtendienstes schlichtweg unmöglich ist.

Das zeigt sich bereits beim einfachen Auskunftsanspruch der Bürger/innen gegenüber der Behörde: Zwar hat jede/r Bürger/in das Recht, beim Verfassungsschutz wie bei allen anderen Behörden auch, die über sie/ihn gespeicherten Daten zu erfragen. Das BfV verlangt dazu jedoch die Angabe eines konkreten Sachverhalts, aus dem die Antragsteller auf eine Erfassung durch die Behörde schließen. Die Bürger/innen sollen sich also am Besten selbst denunzieren. Zum anderen kann das BfV die Auskunft auch ganz oder teilweise verweigern.

Die parlamentarische Kontrolle des BfV soll in erster Linie durch das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) erfolgen. Aber auch diese Kontrolle ist absolut unzureichend. Erstens kontrolliert das Gremium nicht unmittelbar die deutschen Geheimdienste selbst, sondern nur die Bundesregierung in ihrer Aufgabe, die Geheimdienste zu kontrollieren. Die praktische Anwendung der Kontrollbefugnisse ist stark eingeschränkt, da die meisten Kontrollrechte an das Gremium (und dessen Mehrheitsentscheidungen) gekoppelt sind und nicht von einzelnen Mitgliedern (der Opposition) wahrgenommen werden können.

Dazu kommt, dass die Sitzungen des Gremiums geheim und die Mitglieder zur Geheimhaltung sogar gegenüber Mitarbeiter/innen oder anderen Abgeordneten verpflichtet sind. Das Gremium kann außerdem unrechtmäßige Vorgänge weder öffentlich machen noch anzeigen. Kommt ein Vertreter der Regierung seiner Informationspflicht gegenüber dem Gremium nicht nach, stehen diesem keinerlei Sanktionen zur Verfügung.

Ideologie und Seilschaften

Der Verfassungsschutz gilt aller öffentlicher Kritik und allen öffentlich gewordenen Katastrophen zum Trotz immer noch in großen Teilen der Gesellschaft als Instanz, die über den demokratischen Charakter von Organisationen entscheidet. Vor allem CDU, FDP und SPD halten an der Institution Verfassungsschutz fest. Das hat verschiedene Gründe:

Mit den Anschlägen des 11. September 2001 wurde die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus zu einem wichtigen innenpolitischen Thema. Neben der Einschränkung von Grund- und Bürgerrechten, dem Ausbau von polizeilichen Befugnissen und der Zunahme von Überwachung wurde in diesem Kontext der Verfassungsschutz zu einer zentralen Instanz der Gefahrenabwehr erklärt. Im Gegensatz zum linken oder rechten Terrorismus wird die Kompetenz des Geheimdienstes in diesem Feld bislang nur selten in Frage gestellt.

Die angeblichen Erfolge des Geheimdienstes sind allerdings mitunter schwer nachzuprüfen. Im Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 deutet sich zudem an, dass der Geheimdienst hier weder seiner Aufgabe als Frühwarnsystem nachgekommen ist, noch einen aufrichtigeren Umgang mit dem Parlament verfolgt, als dies in den bisherigen Untersuchungsausschüssen der Fall war.

Zudem verfügt der Geheimdienst über ein wirkmächtiges Unterstützungsnetzwerk in Politik und Wissenschaft. Zu den bekanntesten Vertretern zählen Uwe Backes und Eckhard Jesse, zwei einflussreiche Wissenschaftler der sogenannten „Extremismusforschung“. Deren Publikationen wurden in der Vergangenheit nicht nur vom Innenministerium aufgekauft und vertrieben, in ihrem „Jahrbuch für Demokratie und Extremismus“ schreiben auch regelmäßig Mitarbeiter/innen des Verfassungsschutzes.

Es ist kein Zufall, dass die „Extremismusforschung“ ein beliebtes Feld für Sympathisanten und ehemalige Mitarbeiter des Verfassungsschutzes ist, knüpft die Extremismusdoktrin doch nahtlos an die Tradition des Antikommunismus an. Wie schon beim Antikommunismus geht es auch beim „Kampf gegen Extremismus“ in erster Linie darum, linke Politik unter Generalverdacht zu stellen und zu kriminalisieren. Wie beim Antikommunismus führt das unter anderem zu einer Verharmlosung rechter Ideologie und Gewalt und begünstigt Bedingungen, unter denen rechtsterroristische Netzwerke entstehen können.

Dessen ungeachtet ist die Extremismusdoktrin gesellschaftlich ungemein wirkmächtig. Die Notwendigkeit des Verfassungsschutzes wird angesichts dieser ideologischen Hegemonie kaum in Frage gestellt.

Neben der erfolgreichen Extremismusdoktrin beruht der Rückhalt des Verfassungsschutzes auf einem einflussreichen Netzwerk in Ämtern und Parlamenten. Von 1996 bis 2018 war Klaus-Dieter Fritsche (CSU) im Kanzleramt für die Koordination der Geheimdienste zuständig. Schon als Staatssekretär im Innenministerium „nutzte [er] den Posten, um ein Netz zu schaffen, das die Dominanz des Ministeriums stärken und damit die Abwehr von Terror und Extremismus effizienter machen sollte. Es entstand das System Fritsche.“ In diesem System wurden unter anderem der BfV-Präsident Maaßen (CDU), BND-Präsident Schindler (FDP) und Bundespolizei-Chef Romann installiert.

Aber natürlich gibt es auch Verfassungsschützer mit sozialdemokratischem Parteibuch: Heinz Fromm beispielsweise leitete das Bundesamt von 2000 bis 2012. Teil dieses Netzwerkes ist auch ein Personalkreislauf zwischen den Geheimdiensten, der politischen Aufsicht und dem Kontrollgremium. So enthielt beispielsweise eine Ausschreibung für Stellen beim Sekretariat des Parlamentarischen Kontrollgremiums explizit den Hinweis: „Es werden Bewerberinnen und Bewerber bevorzugt berücksichtigt, die Erfahrungen bei den Nachrichtendiensten […] vorweisen.“ Diese Personalpolitik trägt zur Abschirmung des Geheimdienstes bei und verhindert wirkliche Veränderung im Sinne demokratischer Transparenz.

Und obwohl es immer wieder auch aus den Reihen der SPD Kritik am Verfassungsschutz gibt, hielt die Partei an dem Geheimdienst fest – auch weil die Forderung nach dessen Abschaffung Koalitionen mit der CDU verunmöglichen und damit sozialdemokratische Machtoptionen einschränken würden.

Geschichte und Praxis des Inlandsgeheimdienstes zeigen, dass die Affären und Skandale nicht die Ausnahmen von der Regel sind, sondern dass Struktur und Modus Operandi des Verfassungsschutz darauf angelegt sind. Das bedeutet auch, dass es nicht um einen „Tiefen Staat“ oder einen geheim operierenden Zirkel von Verschwörern geht. Vielmehr bilden die ideologische Tradition des Antikommunismus, eine Betriebskultur der Intransparenz und strukturell unmögliche demokratische Kontrolle ein gefährliches System, das immer wieder Fälle wie den NSU-Komplex ermöglichen wird. Der Verfassungsschutz arbeitet aktiv gegen die Demokratisierung der Gesellschaft und muss deshalb aufgelöst werden.

Sebastian Wehrhahn, Jahrgang 1981, studierte Philosophie, Soziologie und Geschichte in Berlin. Er arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Martina Renner. Zuvor war er unter anderem für die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin und das American Jewish Committee tätig.

Martina Renner, Jahrgang 1967, ist gelernte Kulturwissenschaftlerin und stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN. Sie arbeitete ab 2002 in der Landtagsfraktion der LINKEN in Thüringen, gehörte ab 2009 dem Thüringer Landtag und seit 2013 dem Bundestag an. Dort vertritt sie derzeit die Fraktion im Innenausschuss und ist Obfrau im 1. Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des 18. Bundestags zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz.

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5 Ergänzungen

  1. “Eng mit der V-Leute-Praxis hängt die Behinderung von polizeilichen Ermittlungen zusammen.“

    Der hessische Ministerpräsident, Volker Bouffier, hat sich im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) des hessischen Landtags zum NSU – und dem Mord an Halit Yozgat in Kassel – nicht mit Ruhm bekleckert; dem hessischen Verfassungsschutz (LfV) wurde in diesem Zusammenhang gar konsequentes “mauern“ vorgeworfen. Über den einst des Mordes an Halit Yozgat verdächtigten LfV-Mitarbeiter, Andreas Temme, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung (07.06.16), dass dieser, in seiner nordhessischen Heimatstadt, als “Klein-Adolf“ bekannt sei. Wichtige Akten zum NSU hat die hessische Landesregierung mit einen Sperrfrist von 120 Jahren belegt. Mit dieser “Verschlusssache“ erhoffte sich die hessische Landesregierung das NSU-Problem, ein für alle Mal, los zu sein – sie wurde eines Besseren belehrt.

  2. Soviel zum Thema ‚was nicht funktioniert‘. Hat auch mal jemand die Erfolge zusammen getragen?

  3. Mögliche rechte Verbindungen beim Verfassungsschutz (ARD: SWR Aktuell Baden-Württemberg)
    Datum: 15.03.2019, 18:00:00 Uhr * Dauer: 00:02:00
    Ein Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz war als Vorstand bei Uniter tätig.
    Mehrere Landesabgeordnete haben vom baden-württembergischen Innenministerium Aufklärung gefordert.

    Video:
    [niedrige Auflösung] https://pdodswr-a.akamaihd.net/swr/swraktuell/bw/tv/1103647.m.mp4
    [mittlereAuflösung ] https://pdodswr-a.akamaihd.net/swr/swraktuell/bw/tv/1103647.l.mp4

    [hohe Auflösung] https://pdodswr-a.akamaihd.net/swr/swraktuell/bw/tv/1103647.xxl.mp4

    [website] http://classic.ardmediathek.de/tv/SWR-Aktuell-Baden-Württemberg/Mögliche-rechte-Verbindungen-beim-Verfas/SWR-Baden-Württemberg/Video?bcastId=254078&documentId=61170332

    Uniter ist eine der Dachorganisationen aller rechten Terroristen, die Viecher horten Waffen, waren früher in der Armee und bei der Polizei und verdingen sich u.a. als Söldner für Diktatoren anderer Länder und unterstützen diese mit Waffen, Munition und militärischer Beratung.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Uniter

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  4. „(…) So wurden laut dem Historischen Lexikon Bayerns„ in Bayern zwischen 1973 und 1980 aus dem linken Spektrum 102 Bewerber abgelehnt, dagegen nur zwei aus dem rechten“. (…)“
    „(…) Der Spiegel schrieb damals die „Sammelwut [des Verfassungsschutzes] geht so weit, daß jeder Bundesbürger, der nur seine Grundrechte wahrnimmt, fürchten muß, vom Verfassungsschutz erfaßt zu werden“. (…)“

    „München – Christine Schanderl war einst im ganzen Land bekannt, weil sie mit der „Stoppt Strauß“-Plakette rumlief. Deshalb flog sie vom Gymnasium. Das Mädchen wurde zum Albtraum der CSU – und bekam das noch Jahre später zu spüren. (…)“ (merkur.de, 14.09.15)

    https://www.merkur.de/bayern/franz-josef-strauss-christine-schanderl-wurde-durch-stoppt-strauss-plaketten-bekannt-5480119.html

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.