„Forensische Architektur“ versucht die digitale Rekonstruktion tödlicher Drohnenangriffe in Pakistan

"Forensische Architektur" zu einem Angriff in Miranshah, Pakistan
„Forensische Architektur“ zu einem Angriff in Miranshah, Pakistan

Ein Team internationaler ExpertInnen um die Goldsmiths University (London) analysiert derzeit sogenannte „gezielte Tötungen“ von Zivilpersonen durch US-Drohnen in Pakistan. Das Verfahren nennt sich „forensische Architektur“. Hintergrund sind unter anderem Untersuchungen von Ben Emmerson, dem UN-Berichterstatter für „Counter-Terrorism and Human Rights“ in Pakistan. Die Regierung in Islamabad hatte die Einstellung aller Drohnenangriffe der US-Armee verlangt – allerdings vergeblich. Emerson erstellt nun einen Bericht über Rechtsstandards für Einsätze von Drohnen. Ein Zwischenbericht liegt bereits vor. Auch Amnesty International hatte im Oktober zu Drohnenangriffen in der Provinz Waziristan Stellung genommen. Die Menschenrechtsorganisation kritisiert, dass die Bevölkerung in ständiger Angst leben muss.

Die Untersuchungen mittels „forensischer Architektur“ unterstützen auch Aktivitäten in Deutschland: In einem der drei untersuchten Fälle wurde mit Bünyamin E. ein deutscher Staatsangehöriger 2010 von einer Rakete getötet (insgesamt sind in Pakistan bereits mindestens drei Deutsche getötet worden). Die Bundesanwaltschaft musste sich eingeschalten, weil die Exekution nach deutschem Recht womöglich eine Straftat darstellt. Im Sommer wurden die Ermittlungen aber eingestellt. Auch das in Berlin ansässige European Centre for Constitutional Rights (ECCHR) ist deshalb an der Untersuchung der Goldsmiths University beteiligt. Juristen des Zentrums hatten in einer gutachterliche Stellungnahme die Einstellungsverfügung des Generalbundesanwalts heftig kritisiert.

Krieg in Afghanistan rechtfertigt Tötungen im Nachbarland?

Im Kern geht es um die Frage, ob die Getöteten einer „organisierten bewaffneten Gruppe“ angehörten. Der Generalbundesanwalt hatte dies bejaht. Gezielte Angriffe gegen solche Personen seien daher kein Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch. Maßgeblich ist auch, ob die „gezielten Tötungen“ im Rahmen eines bewaffneten Konflikts zwischen mehreren Parteien vorgenommen wurden. Zwar liegt in Pakistan keine derartige Situation vor, jedoch würde der Konflikt aus Afghanistan laut der Einstellungsverfügung nach Waziristan herüberreichen. Gleichzeitig seien die tatverdächtigen Mitarbeiter des amerikanischen Auslandsgeheimdiensts Central Intelligence Agency (CIA) als Teil der amerikanischen Streitkräfte anzusehen. Diese genössen Immunität vor einer Strafverfolgung, wenn die zuvor dargelegten Vorschriften des humanitären Völkerrechts eingehalten worden seien.

Das ECCHR kritisiert, dass nicht dargelegt wurde welcher Gruppe Bünyamin E. angehört haben soll. Die Angriffe würden häufig gegen Völkerrecht und Menschenrechte verstoßen. Europäische Regierungen unterstützten die USA demnach durch den Austausch von Informationen. Im Projekt „Geheimer Krieg“ hatten Journalisten der Süddeutschen Zeitung und des NDR unter anderem dargelegt, wie derartige Angriffe über Anlagen in Deutschland gesteuert werden. Deutsche Geheimdienste geben Mobilfunkdaten an US-Partner heraus, die beim Lokalisieren der Zielpersonen helfen.

Um etwaige Klagen gegen die USA oder ihre Verbündeten zu untermauern, hat sich die Goldsmiths University in London drei Fälle vorgenommen und rekonstruiert die Tatorte. Diese werden umständlich untersucht und schließlich in einem 3D-Modell dargestellt. In zwei Fällen müssen sich die WissenschaftlerInnen dabei auf Aussagen von Dabeigewesenen verlassen. Hierzu gehört etwa die Schwägerin von Bünyamin E.

Drei Fälle mit unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen

Fall 1, Datta Khel, 17. März 2011 (Video)

Datta_KhelIm ersten Fall geht es um einen Angriff auf eine sogenannte „Tribal Jirga“ im März 2011. Gemeint ist eine traditionelle, politische Versammlung an einer Busstation. Die Teilnehmenden hatten sich in dem Moment über die Situation einer nahegelegenen Chrom-Mine ausgetauscht. Die Attacke hinterließ 43 Tote. Weil keine Gebäude getroffen wurden, musste die Untersuchung unter anderem Satellitenaufnahmen zuhilfe nehmen.

Fall 2, Mir Ali, 20. Oktober 2010 (Video)

Mir_AliDer zweite Fall dreht sich um einen Angriff vom Oktober 2010 auf ein Haus in Mir Ali. Fünf Menschen waren dabei tödlich getroffen worden. Dabei kam auch Bünyamin E. ums Leben. Seine Schwägerin, aber auch ihr Mann und deren zweijähriges Kind überlebten den Beschuss. Die Frau stellte sich als Zeugin zur Verfügung. Ihre Aufgabe im Rahmen der „forensischen Architektur“ bestand nun darin, das angegriffene Haus zu rekonstruieren um den Standort der Drohne nachvollziehen zu können. Dadurch durchlebte sie den Angriff ein zweites Mal, was laut den WissenschaftlerInnen auch half, das traumatisierte Gedächtnis zugänglich zu machen.

Fall 3, Miranshah, 31. März 2012 (Video)

MiranshahIn der dritten Untersuchung konnten die WissenschaftlerInnen schließlich auf Kameraaufnahmen zurückgreifen. Die Attacke fand im März 2012 in der Stadt Miranshah statt, offensichtlich wurden mehrere Raketen eingesetzt. Vier Personen wurden getötet. Kurz nach dem Angriff aufgenommene Bilder wurden damals heimlich außer Landes gebracht und später im US-Fernsehen gesendet. Mit der „forensischen Architektur“ konnte der Luftschlag dadurch präzise rekonstruiert werden. Im Zuge der Untersuchung wurden beispielsweise alle Einschusslöcher dokumentiert und dadurch der Einschusswinkel festgestellt werden. Überall dort, wo keine Schrapnelle in den Wänden steckten und stattdessen Silhouetten erkennbar waren, befanden sich vermutlich die Getöteten.

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