TOCATikTok-Creator:innen verbünden sich gegen geheime Regeln

Sie wollen ihre Kräfte vereinen und TikTok verändern. Rund 1.000 Nutzer:innen haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Ein Fokus ist Diskriminierung. Im Interview berichtet Projektmanagerin Amelia Som, warum sie TikTok liebt – und woran TikTok scheitert.

Amelia Som
Amelia Som setzt sich für die Anliegen von Creator:innen ein. – Montage: netzpolitik.org

Innerhalb weniger Jahre ist TikTok zu einer der einflussreichsten Social-Media-Plattformen der Welt geworden. Ändert TikTok seine Regeln oder schraubt an seinen Funktionen, dann betrifft das Abermillionen Menschen. Über die Entscheidungen hinter den Kulissen von TikTok gibt es aber wenig Austausch. Das wollen die US-Amerikanerin Amelia Som und ihre Mitstreiter:innen ändern.

Ihr im Juli 2020 gegründetes Bündnis TOCA (The Online Creators’ Association) versteht sich als Interessenvertretung von Creator:innen. So nennen sich Nutzer:innen, die Inhalte im Netz verbreiten. In einem eigens eingerichteten Ticket-System und einer Community auf Discord sammelt TOCA Hinweise über Probleme auf TikTok und entwickelt Lösungsvorschläge.

Seit Jahren prangern unter anderem Journalist:innen und NGOs Missstände bei TikTok an. Zu den Vorwürfen gehörten diskriminierende Löscharbeit, intransparente Regeln, Zensur und eine enge Bindung an das autoritär regierte China. Im Interview erklärt TOCA-Mitglied Amelia Som, was aus der Sicht von Creator:innen bei TikTok schiefläuft – und warum sie glaubt, dass TikTok seine Macht herunterspielt. Das Interview wurde auf Englisch geführt und auch auf Englisch veröffentlicht.

netzpolitik:org: Amelia, welche Rolle spielt TikTok in deinem Leben?

Amelia Som: TikTok hat mich während der Pandemie gesund gehalten. In der Quarantäne wollte ich mit anderen Menschen in Kontakt treten. Eines der besten Dinge an TikTok ist, dass du eine Community mit Gleichgesinnten aufbauen kannst. In meinem Fall war das eine Community von queeren People of Color, die sich für Tabletop-Spiele wie „Dungeons and Dragons“ interessieren. Ich habe in meinem Leben noch nicht so viele queere, Schwarze Nerds getroffen wie auf TikTok. Wenn man in Oklahoma lebt, ist es schwer, solche Kontakte zu knüpfen.

netzpolitik:org: Was bedeutet es für dich, in Oklahoma zu leben?

Amelia Som: Tulsa ist die zweitgrößte Stadt und wahrscheinlich eine der liberalsten Gegenden in Oklahoma. Trotzdem ist Oklahoma ein sehr konservativer, sehr weißer Staat. Ich habe mich erst geoutet, als ich das College abgeschlossen hatte. Jetzt bin ich 24. Vor allem in den letzten Jahren gab es in der Stadt Bemühungen, die queere Community besser einzubinden. Aber in Sachen Sicherheit und Akzeptanz gibt es in öffentlichen Räumen immer noch eine gewisse Angst.

Der Ort ist auf Autos zentriert und vorstädtisch. Das macht es schwer, als Erwachsener Kontakte zu knüpfen, erst recht mit Schwarzen, queeren Menschen.

Online brauchte ich mich dagegen gar nicht erst zu outen. Ich konnte von Anfang an geoutet auftreten. Das Tolle an TikTok war, dass ich dort jede Menge Leute treffen konnte. Es waren vor allem Schwarze, queere Gamer:innen, die einfach nur einen Ort suchten, wo sie hingehören. Aber jede Rose auf TikTok hat ihre Dornen.

„Mangelhafte Kommunikation“

netzpolitik:org: Welche Probleme auf TikTok haben Creator:innen dazu gebracht, sich in einem Bündnis zusammenzuschließen?

Amelia Som: TikTok ist eine Dopamin-Lotterie. Du kannst mit geringem Aufwand viele Follower:innen sammeln. Aber dann kann die Zahl deiner Video-Aufrufe von einem Tag auf den anderen abstürzen. Das ist unglaublich entmutigend und stürzt dich in Selbstzweifel. Es sind algorithmische und wirtschaftliche Kräfte am Werk, die die meisten Creator:innen nicht verstehen. Unabhängig davon, ob sie zu ihren Gunsten arbeiten oder nicht.

Das größte Problem von TikTok ist die mangelhafte Kommunikation. Wir glauben, dass TikTok intern Accounts markiert, die es als problematisch für Werbeanzeigen einstuft. Aber Betroffene erfahren davon nichts. Es gibt keine Benachrichtigung, kein öffentliches Regelwerk. Ich kenne Creator:innen mit Tausenden Follower:innen, deren Videos plötzlich nur noch ein paar hundert Aufrufe haben. Dann erstellen sie einen neuen Account, laden die gleiche Art von Videos hoch und erhalten deutlich mehr Aufrufe. Solche Probleme stellen wir bei TOCA fest.

netzpolitik:org: Wie sieht die alltägliche Arbeit bei TOCA aus?

Amelia Som: Unser Discord-Server hat etwa 1.000 Mitglieder. Für einige ist es ein Ort, um Dampf abzulassen und über Probleme zu sprechen. Es ist aber auch ein Ort, um Erfahrungen zu sammeln. Von außen betrachtet ist TikTok eine Blackbox. Wir wollen die anekdotischen Beobachtungen der Creator:innen auf eine Zahlengrundlage stellen, um die Prozesse dahinter besser zu verstehen. Wir haben auch an der Universität Arizona Podiumsdiskussionen mit TikTok-Creator:innen veranstaltet, und wir wollen unsere Forschung weiter ausbauen.

„Hassrede, wenn du jemanden als Nazi bezeichnest“

netzpolitik:org: Wie trefft ihr bei TOCA Entscheidungen?

Amelia Som: TOCA besteht ausschließlich aus Freiwilligen. Alle können bei Discord Gedanken und Erfahrungen austauschen und Fragen stellen. Wir ermutigen Leute, die eine aktivere Rolle übernehmen wollen, sich zum Beispiel als Discord-Moderator:innen zu engagieren. Hinter unseren Zielen und unserer Organisation steckten schon immer die Menschen, die sich dafür Zeit nehmen wollten.

netzpolitik:org: Auf eurem Discord-Server gibt es eigene Räume für Schwarze und jüdische Creator:innen und für Creator:innen mit Behinderung. Treffen TikToks Entscheidungen diese Gruppen besonders hart?

Amelia Som: Ja, auf viele verschiedene Arten. Zum Beispiel brauchen Menschen mit Hörbehinderung automatisch generierte Untertitel, um die App nutzen zu können. Es war inakzeptabel, wie TikTok diese Funktionen einführt hat. Lange Zeit mussten Creator:innen Untertitel manuell in Form von Textstickern hinzufügen. Dann konnten einige die Untertitel plötzlich automatisch erstellen, andere aber nicht. Zugleich konnten nur einige diese Untertitel sehen, andere nicht. Es macht keinen Sinn, solche Funktionen wahllos und ohne Ankündigung zu verteilen.

Marginalisierte Gruppen haben jeweils einzigartige, aber ähnliche Probleme: Ihre Videos werden manchmal gesperrt, wenn sie sich gegen Diskriminierung aussprechen. Zum Beispiel haben Schwarze Creator:innen das N-Wort gesagt, und TikTok hat ihre Videos wegen „Hassrede“ geflaggt. Dein Video kann auch wegen „Hassrede“ gelöscht werden, wenn du jemanden als Nazi bezeichnest, weil er Weiße Vorherrschaft propagiert. Es gab Fälle, da haben jüdische Creator:innen antisemitische Äußerungen auf TikTok angeprangert und wurden wegen „Belästigung und Mobbing“ bestraft. Aber die ursprünglichen Äußerungen blieben unbeachtet.

Oft werden viele dieser Entscheidungen rückgängig gemacht, wenn die Betroffenen sich beschweren. Aber es gibt keine klaren Erklärungen dazu, wie so etwas abläuft, wie es sich auf deinen Account auswirkt und wie du verhindern kannst, dass es nochmal passiert.

„Wir wollen Transparenz“

netzpolitik:org: TikTok bemüht sich öffentlich um Diversity, präsentiert zum Beispiel gezielt queere und weibliche Creator:innen.

Amelia Som: Das ist gut, aber nicht genug. Als Schwarze, queere, femme-presenting Creator:in beeindruckt es mich wenig, wenn TikTok einmal im Jahr ein paar handverlesene Accounts vorstellt, während Tausende eine beschissene Zeit haben. Die Leute, die TikTok betreiben, prägen einen beträchtlichen Teil der Popkultur, und ich bin sicher, sie heben ihren Einfluss gegenüber Investor:innen hervor. Ein Multi-Milliarden-Dollar-Konzern sollte mehr anbieten als ein paar Marketingkampagnen, wenn es ein plattformweites Problem mit der Moderation von Inhalten gibt. TikTok kann nicht ein mächtiger Riese in der Popkultur sein und zugleich machtlos, etwas in dieser Kultur zu verändern.

netzpolitik:org: Welche Forderungen stellt TOCA an TikTok?

Amelia Som: Vor allem wollen wir Transparenz, insbesondere was die Moderation von Inhalten angeht. Welche Dinge werden immer geprüft? Welche nur, wenn sie jemand meldet? Wann sichten Algorithmen, wann Menschen? Wie werden diese Menschen geschult und welche Regeln gelten für unsere Inhalte? Die Nutzungsbedingungen sind unglaublich vage. Wie wird in diesen Grauzonen geurteilt? Wir fordern auch mehr Funktionen, die TikTok für Menschen mit Sehbehinderungen zugänglicher machen. TikTok sollte solche Neuerungen klar kommunizieren.

Außerdem schränkt TikTok unverhältnismäßig viele Sexarbeiter:innen ein, auch wenn sie nur auf ihre Arbeit anspielen oder auf eine andere Websites verweisen. Viele Sexarbeiter:innen sind für ihren Lebensunterhalt auf soziale Medien angewiesen. TikTok bestraft sie. Besser wären Funktionen, mit denen Nutzer:innen ihre Inhalte vor Minderjährigen verbergen können. Wahrscheinlich habe ich etwas vergessen, unsere komplette Liste mit Forderungen ist online.

„TikTok spielt seinen Einfluss gerne herunter“

netzpolitik:org: Hat TikTok eine Sonderrolle, weil der Mutterkonzern Bytedance aus China kommt, einem autoritären Regime?

Amelia Som: Ich denke nicht. Facebook, Instagram und YouTube kommen aus den USA, einem patriarchalen, rassistischen Staat. Alle Konzerne sind auf ihre Weise furchtbar. Mir ist aufgefallen, dass sich TikTok im Gegensatz zu Facebook bescheidener gibt. Ich denke, TikTok spielt seinen Einfluss gerne herunter, um in der Öffentlichkeit weniger zur Verantwortung gezogen zu werden. Aber soziale Medien beeinflussen jeden Aspekt unseres Lebens. Sie bestimmen, über welche Inhalte alle sprechen. Es ist nicht zu viel verlangt, dass die Menschen, die soziale Medien gestalten, für diese Rolle zur Rechenschaft gezogen werden.

netzpolitik:org: Wie reagiert TikTok auf eure Forderungen?

Amelia Som: TikTok folgt einer unserer Mitgründer:innen auf Instagram. Sie wissen also, dass wir existieren. Aber sie haben uns bisher ignoriert. Vielleicht tun sie das, damit sie nichts versprechen müssen. Ich glaube, TikTok sieht seine Creator:innen nicht als Investition, sondern als Ressource, die sich ausnutzen lässt. Für jede Creator:in, die TikTok verlässt, folgen mehrere neue. Das funktioniert eine Zeit lang, aber es ist nicht nachhaltig. Ohne Creator:innen würde TikTok nicht existieren. Dann müsste TikTok vielleicht Leute für die Inhalte bezahlen, die sie jetzt kostenlos bekommen.

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3 Ergänzungen

  1. Was die Governance angeht, möchte ich anmerken, dass es auch bei Freiwilligkeit Strukturen geben sollte, die das Ausnutzen des Vereins verhindert. Ansonsten haben subversive Kräfte einfaches Spiel als Wurm den Apfel zu höhlen, zB. indem sie Geld heraustragen oder die Bemühungen sabotieren.

  2. Persönlich denke ich mir, den ganzen Aufwand an Zeit und Energie dafür zu verwenden eine alternative zu TikTok aufzubauen das bei weitem Intelligenter wäre.

    Noch dazu wo ohnedies jegliche Bemühungen einer Verbesserung von vornherein zum Scheitern verteilt ist. Über TikTok hängt der lange Schatten der chinesischen kommunistischen Partei, samt ihrer Menschenverachtenden Ideologie.

    Dazu kommt noch das es es Gebot der Stunde ist, TikTok in die Schranken zu weisen- die Unterwanderung unserer westlichen Kultur und Kunst über derartige Plattformen ist ein für alle mal zu beenden.

    1. „Persönlich denke ich mir, den ganzen Aufwand an Zeit und Energie dafür zu verwenden eine alternative zu TikTok aufzubauen das bei weitem Intelligenter wäre.“

      Joah, ist ja auch geradezu trivial, mal eben eine Alternative für TikTok o. Ä. zu entwickeln. Siehe die diversen Alternativen zu Facebook oder WhatApp, die alle so enorm erfolgreich sind. Kenntnisse und Mittel, um so etwas an den Start zu bringen, mal ganz außen vor.

      „die Unterwanderung unserer westlichen Kultur und Kunst über derartige Plattformen ist ein für alle mal zu beenden.“

      Ernsthaft? Unsere ach so tolle westliche Kultur? Kürzlich mal in die USA geschaut? Land of the free und so? Roe vs. Wade? Abtreibungsverbote? Auf so eine Kultur kann ich jederzeit verzichten.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.