Hallo,
seitdem die Corona-Zahlen wieder massiv ansteigen, werden wieder Sündenböcke gebraucht. Einer davon scheint die Corona-Warn-App zu sein. Momentan schwirren viele eher wenig qualifizierte Aussagen herum wie „Zuviel Datenschutz!“ und „Funktioniert nicht!“, gerne auch miteinander kombiniert.
Am liebsten wird dann das Argument gebracht, dass eine zentrale Speicherung sinnvoller wäre und der Datenschutz stören würde. Aber ist so eine Datenhalde wirklich klug? Ich hab da große Zweifel. Denn die Betriebssysteme bieten mittlerweile Schnittstellen für dezentrale und datenschutzfreundliche Lösungen an. Das kann man nicht weg ignorieren. Frankreich hatte sich im Gegensatz zu Deutschland für eine zentrale Lösung entschieden. Das Ergebnis kann man gerade sehen: Dort gibt es aktuell dreifache Infektionszahlen und vor allem funktioniert die App dort überhaupt nicht.
Zuvorderst führt die dezentrale Speicherung zu mehr Vertrauen. Dieses Vertrauen kann bei zentralen Speicherungen sofort zerstört werden, sobald der erste Politiker den Zugriff von Sicherheitsbehörden auf die Daten fordert. Und das kommt in der Regel sofort nach der ersten Speicherung.
Da aktuell viele Gesundheitsämter schon mit der analogen Kontaktnachverfolgung mit Stift, Papier, Telefon, Fax und manchmal Excel mit vielen „Mickey-Mouse-Listen“ überlastet sind, bin ich froh, dass es bei uns noch eine digitale Alternative gibt. Mir sind auch Fälle bekannt, in denen Menschen erst durch die Warn-App mitbekommen haben, dass sie Kontakte zu positiv Getesteten hatten und ein anschließender Test ebenfalls positive Ergebnisse lieferte. Es ist schwierig zu sagen, welcher der beiden Wege besser funktioniert. Aber viele Möglichkeiten zur Kontaktnachverfolgung haben wir in der zweiten Welle gerade nicht.
Warum sind noch nicht alle Labore ans System angeschlossen?
Einige Geburtsschwierigkeiten wie schlechte Nutzer:innenführung und schlechte Erklärungen wurden mittlerweile verbessert. Andere sind geblieben. Dazu gehört vor allem die Anbindung von mehr Laboren an die App-Infrastruktur. Zum Start hatte die Bundesregierung versprochen, dass innerhalb weniger Wochen alle Labore angeschlossen wären. Vier Monate später ist das immer noch nicht der Fall. Das ist ein kleiner Skandal. Gerade die Labore von Krankenhäusern sind meist nicht angeschlossen. Die spielen natürlich eine wichtige Rolle, weil dort erst viele akut Kranke positiv getestet werden.
Für Tagesschau.de hat Kristin Becker mal die Gründe recherchiert: Klinik-Labore mit Anschlussproblemen. Ein Grund sind die erhöhten technischen Sicherheitsanforderungen an Krankenhaus-Infrastrukturen und vor allem die Übernahme der Kosten. Krankenhäuser argumentieren, dass sie das aus laufenden Etats zahlen müssten und keine zusätzliche Förderung erhielten.
Die bisherigen Kosten für die Corona-Warn-App belaufen sich bisher auf ca. 60 Millionen Euro. Die gingen mehrheitlich an die Deutsche Telekom für das Betreiben von Telefon-Hotlines, der Rest ging an SAP für die Entwicklung. Warum gibt es noch keinen Fortschritt beim Anschluss aller Labore und warum wurden die bei den Investitionen übersehen?
Neues auf netzpolitik.org
Chris Köver und Leonard Kamps schreiben über neue Recherchen zu Content-Moderations-Praktiken auf einer der größten Porno-Plattformen der Welt, die zu Missbrauch einladen: xHamster lässt Freiwillige mutmaßlich illegale Fotos moderieren.
Die populärste Pornowebseite Deutschlands verlässt sich bei der Überprüfung von möglicherweise illegalen Fotos auf ein Team von unbezahlten Freiwilligen. Sie sollen per Bauchgefühl darüber entscheiden, ob die gezeigten Frauen minderjährig sind oder missbraucht wurden.
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Julia Reda kommentiert in ihrer aktuellen edit:policy-Kolumne die drohende EU-Verordnung gegen Terrorpropaganda: Bundesregierung will Pflicht von Uploadfiltern in Terrorverordnung.
Die Bundesregierung treibt in der EU den verpflichtenden Einsatz von Uploadfiltern in der Terrorverordnung voran, mit Vorsitz im Rat der Europäischen Union.
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Ingo Dachwitz und Alexander Fanta beschreiben in ihrem zweiten Artikel zu ihren „Medienmäzen Google“-Recherchen, wie Tech-Unternehmer:innen sich bei Medien einkaufen: Milliarden von den neuen Medici.
Wenn wir über eine problematische Nähe von Tech-Unternehmen zum Journalismus sprechen, geht es nicht nur um Google. Die Technologiebranche hat sich in den letzten Jahren zu einem Gönner in Renaissancemanier für Nachrichtenmedien verwandelt. Doch die Millionen von Zuckerberg, Bezos und Co. bringen Probleme mit sich.
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Tomas Rudl zeigt, wie weit nach rechts Facebook in den USA inzwischen abgerutscht ist und welche Ursachen und Folgen das hat: Die rechte Empörungsmaschine.
Facebook ist inzwischen tief im Ökosystem des US-Konservatismus verankert. In der Führungsriege finden sich immer mehr Republikaner, im News Feed der Nutzer:innen landen mehr konservative als liberale Nachrichten. Dahinter steckt System.
Kurze Pausenmusik:
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Die Erstellung dieser Ausgabe wurde freundlicherweise von Tomas Rudl unterstützt.
Was sonst noch passierte:
Alptraum Daten-Hack: In Finnland wurde womöglich Zehntausende Datensätze eines Psychotherapie-Zentrums abgegriffen. Jetzt werden Patient:innen und Betreiber erpresst und es wird damit gedroht, die Daten zu veröffentlichen. Dazu gehören auch Transkripte von psychotherapeutischen Sitzungen und andere sehr sensible medizinische Daten: Psychotherapeuten gehackt: Finnische Patienten und Praxen werden erpresst.
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Die Wikipedia-Community bereitet sich auf den US-Wahltag und den Ausgang vor. Bei Wired gibt es einen Einblick in die Vorbereitungen: Wikipedia’s Plan to Resist Election Day Misinformation.
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In den USA tobt eine Debatte um Zensurpraktiken auf der Zoom-Plattform. Aufhänger ist ein Fall der San Francisco University, wo ein Vortrag der palästinensichen Aktivistin Leila Khaled durch Zoom gecancelt wurde: Zoom Deleted Events Discussing Zoom “Censorship”. Das zeigt wieder die Notwendigkeit freier und offener Alternativen zu Zoom.
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Facebook geht wieder gegen Plugins vor, die helfen, Microtargeting-Ads im Wahlkampf zu sammeln. Damit erschwert der Konzern mal wieder zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Anstrengungen, das Ausmaß und die Praktiken von zielgerichteter Werbung zu dokumentieren: Facebook tries to block tool aimed at promoting transparency around political ads.
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Bei den Riff-Reportern gibt es einen Überblick über mögliche sinnvolle Maßnahmen, um die Wellen der Corona-Pandemie zu brechen: Coronakrise – Simulationen zeigen, welche Lockdown-Maßnahmen wirken.
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Der Arzt Bodo Schiffmann ist eine zentrale Figur der Corona-Leugner:innen und wirbt immer mit seiner Autorität als HNO-Arzt. Damit hat er weitgehend Narrenfreiheit, wie T-Online berichtet: Ärztekammer kann Schwindel-Doktor Schiffmann nur zuschauen.
Audio des Tages: Macht uns Lesen gesünder mit rechtsextremem Heilsversprechen?
SWR2 Wissen ging der Frage nach: „Macht uns Lesen gesünder? Studien auf dem Prüfstand“ und kommt zu dem Ergebnis: Es ist kompliziert. Aber das ist interessant.
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WDR5 hat ein Interview mit dem Soziologen Klaus Dörre geführt. Der hat untersucht, warum Teile des Arbeiter-Milieus sich von der aktuellen Politik abgewertet fühlen und anfällig für rechtsextremes Gedankengut sind: Rechtsextreme Heilsversprechen.
Video des Tages: Langzeitbeobachtung in den USA mit Friedrich Merz
In der ARD-Mediathek gibt es eine Langzeitbeobachtung über den Zustand der USA im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen als Dokumentation vom Ex-„Spiegel“-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer und dem Dokumentarfilmer Stephan Lamby: Im Wahn – Trump und die Amerikanische Katastrophe.
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Friedrich Merz spielt gerade die Trump-Strategie und versucht sich gegen ein vermeintliches CDU-Establishment mit einer Medienoffensive zu positionieren. Gestern Abend war er hintereinander in den Tagesthemen und im Heute-Journal. Eine Best-of-Version gibt es von Ubermedien auf Youtube: Der doppelte Merz – „Es geht nicht um meine Person“.
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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl
Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.
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im namen des „datenschutzes“ erfuhr die closed source loesung von apple/google incl. der durchleitung von daten durch deren infrastruktur die weihe der vertreter der „community“.
im namen der „dezentralitaet“ wurde uebersehen, dass die „federated infrastructure“ der gesundheitsaemter die eigentlich relevantere kritische infrastruktur darstellt die ins zentrum des digitalen interesses gehoert, da hier die schwelle zum lockdown sich entscheidet.
stattdesen wurde die konsumentinnen-zentriertheit des verbraucherschutzes reproduziert, bei weitgehender blindheit gegenueber einer notwendigen upgrade der backend architektur. die datenhoheit der jeweiligen gesundheitsaemter sollte der ausgangspunkt sein, nicht die neoliberal simulierte autonomie der endnutzer, sowie eine effektive pandemiebekaempfung welche das infektiosnschutzgesetz auch digital umsetzt und dabei kluge kryptographische anonymisierungs protokolle entwickelt, die nicht interessen so gegeneinander auspielt dass placebo apps daraus entstehen, die per design entscheidung am laufenden band false negatives produzieren und die gesundheitsaemter technisch umgehen.
Also zuletzt hörte ich irgendwo, dass die Kosten für einen Anschluss bei einigen Zehntausend Euro liegen!
Da fragt man sich doch, wie die Digitalstrategie aussieht, ob dann Covid-21-11 einen weiteren zertifizierten mehrere zehntausend Euro teuren Zugang erfordert, oder ob man da tatsächlich mehrere Sachen, unabhängig davon ob es überhaupt die Gegenstellen schon gibt, informationstechnisch schon mit vorbereitet…