Baboucar ist aus Gambia nach Deutschland geflüchtet. Seit Oktober 2018 ist er in Tübingen. Er heißt eigentlich anders und lebt in der Europastraße, doch das erzählt Baboucar lieber niemandem: „Die Adresse ist total kaputt. Alle denken, es ist eine Katastrophe hier“, sagt er auf einem der wöchentlichen Treffen mit Ehrenamtlichen, die die Bewohner schon seit Jahren begleiten.
Die Europastraße ist die einzige der Unterkünfte in Tübingen, in der ein privater Sicherheitsdienst die Geflüchteten bewacht. Etwa 50 Asylsuchende leben dort, jeweils zu zweit auf etwa zwölf Quadratmetern. In die Europastraße werden vor allem Menschen verlegt, die „auffällig“ geworden sind. Was das heißt, weiß niemand so genau. Trotzdem geht Tübingens grüner Bürgermeister Boris Palmer nun noch einen Schritt weiter: Er hat eine Liste anlegen lassen.
In dieser Liste sollen Stadtverwaltung, Polizei und Sozialarbeiter Geflüchtete eintragen, die dann eventuell in die Europastraße verlegt werden. Was genau an den Personen auffällig ist? „Die Erfassung und die Gründe dafür werden, vor allem auch an die Betroffenen selbst, nicht rechtswirksam kommuniziert“, sagt Matthias Schuh vom Tübinger Bündnis Bleiberecht.
Problematische Geflüchtete „raus aus der Stadt“
Die Betroffenen hätten keine rechtliche Handhabe, sich gegen diese Erfassung und die daraus resultierenden Maßnahmen zu wehren. „Bekannt ist mittlerweile nur, dass auch ‚Auffällige‘ in die Europastraße verlegt werden sollen, die zuvor nicht straffällig geworden sind, die aber etwa in Konfliktsituationen in ihren vorherigen Unterkünften involviert waren.“ Dazu bräuchte es die Liste eigentlich nicht, Bewohner können sowieso als Ultima Ratio verlegt werden, wenn es beispielsweise nicht lösbare Konfliktsituationen in ihrer aktuellen Unterkunft gibt.
Ursprünglich hatte Palmer gefordert, problematische Geflüchtete in die Landeserstaufnahmeeinrichtungen zurückzuschicken. „Raus aus dem Sozialraum Stadt“, wie er in einem Facebook-Eintrag schrieb. Der baden-württembergische CDU-Innenminister Thomas Strobl lehnte Palmers Forderung ab. Es gebe kein rechtliches Instrument, das die Umsetzung dieses Vorschlages zulasse, sagte er den Stuttgarter Nachrichten.
Auch für Palmers Liste ist die Rechtsgrundlage zweifelhaft. Tübinger Flüchtlingshilfen haben den Gemeinderatsfraktionen daher einen Fragenkatalog geschickt, mit Boris Palmer als Empfänger in Kopie. Sie wollten unter anderem wissen, ob die Liste mit anderen Datenbanken verknüpft sei, nach welchen Kriterien Geflüchtete auf die Liste gesetzt werden und ob Betroffene informiert würden. Bis heute haben sie darauf keine befriedigende Antwort erhalten.
Fragen zur Liste will Palmer nicht beantworten
In einer von unterwegs getippten Mail – „kleine Fehler bitte entschuldigen“ – macht Palmer den Ehrenamtlichen daraufhin Vorwürfe: „Für politische agitation sind das geeignete Fragen. Für einen Gemeinderat als Hauptorgan der Verwaltung nicht.“ Wenn es ihnen „um echte Informationswünsche“ gehe, könnten sie die Fragen „direkt an uns“ richten. „Haupteffekt ist übrigens, dass die Abteilung sich dann nicht um Flüchtlinge kümmert, sondern um 25 fragen“, schiebt Palmer hinterher.
In einem weiteren Facebook-Beitrag listet er die Fragen zwar auf, beantwortet aber keine einzige. Stattdessen stellt er suggestive Gegenfragen: Ob die Autoren der Liste schon von Gewalttaten durch Geflüchtete gehört hätten? Die einzige Information in Palmers Text: Die Stadtverwaltung Tübingen habe den Informationsaustausch nach Rücksprache mit der Polizei „und dem Datenschutz“ aufgebaut.
Dem Schwäbischen Tagblatt sagte Palmer: „Eine Erfordernis zur Beantwortung“ der Frageliste ergebe sich nicht, da die Fragen an die Fraktionen gerichtet worden seien. Natürlich erfülle man alle gesetzlichen Anforderungen.
Welche das sind? Darauf gibt er weiterhin keine Antwort. Auf der Liste stünden bereits zwei Dutzend „Auffällige“. Als Reaktion seien bereits Verlegungen erfolgt, sagte er dem Schwäbischen Tagblatt im Februar – nicht nur in die Europastraße, auch in Obdachlosenunterkünfte.
Die „Liste“ ist ein Outlook-Postfach
Die „Liste der Auffälligen“ ist offenbar keine Datenbank im klassischen Sinne. In einer Fragerunde während der Gemeinderatssitzung Ende März stellte sich heraus, dass die Liste aus einem Outlook-Postfach bestehe, auf das verschiedene Abteilungen in der Verwaltung Zugriff hätten – etwa im Fachbereich Soziales oder Hilfen für Geflüchtete. Die Daten würden „nicht verschickt“, sondern „lediglich gespeichert“. Auch Daten zu speichern ist ein Datenverarbeitungsvorgang, der von Datenschutzgesetzen zugelassen sein muss.
Als Rechtsgrundlage werden in der Fragerunde die Datenschutzgrundverordnung und das baden-württembergische Landesdatenschutzgesetz aufgeführt, jeweils der Artikel beziehungsweise Paragraf, der die Rechtmäßigkeit einer Datenübertragung zum Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit begründet. Einsicht in über sie gespeicherte Daten und die Möglichkeit zur Berichtigung der Daten hätten die Betroffenen nicht, so die Antwort auf eine Frage der Linken im Gemeinderat.
Daten sollen unter anderem von Sozialarbeitern, Polizei und Staatsanwaltschaft kommen. Reine Ordnungswidrigkeiten, so Sozialbürgermeisterin Daniela Harsch, würden nicht zu einer Erfassung auf der Liste führen. Stattdessen etwa „gewalttätige Auseinandersetzungen oder mutwillige Beschädigung“ in den Unterkünften.
Palmer schafft sich seinen sozialen Brennpunkt selbst
Harsch sagte, dass nur Vorkommnisse innerhalb von städtischen Flüchtlingsunterkünften zu einer Erfassung auf der Liste führen würden. Laut Palmer würden auch Vorkommnisse außerhalb der Unterkünfte berücksichtigt. Entgegen früherer Äußerungen von Palmer argumentiert die Tübinger Verwaltung mittlerweile primär damit, ihre Mitarbeiter schützen zu wollen, beispielsweise indem Sozialarbeiter sogenannte Auffällige nur noch zu zweit aufsuchen.
Ingeborg Höhne-Mack von der SPD-Fraktion in Tübingen versteht zwar, dass die Verwaltung eine Liste anlegt, kritisiert aber Palmer, „der insinuiert, dass als Konsequenz eine Zusammenziehung von dort erfassten Personen in der Anschlussunterkunft Europastraße erfolgt“. Damit werde „die Stigmatisierung von anderen Geflüchteten, die dort wohnen und sich nichts zuschulden kommen lassen, sondern sich im Gegenteil sehr um Integration bemühen, nochmals gesteigert“.
Schuh vom Bündnis Bleiberecht sagt, indem man eine Unterkunft schafft, „wo man alle reinsteckt, die irgendwie als ‚auffällig‘ erfasst werden“, schaffe man einen sozialen Brennpunkt. „In Bezug auf die Unterkunft in der Europastraße gibt es eine lange Vorgeschichte von pauschaler und rassistischer Stigmatisierung der aktuellen Bewohner durch den Oberbürgermeister“. Durch die jetzigen Maßnahmen dürfte die Wahrnehmung als Problemunterkunft noch verstärkt werden, fürchtet er.
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