Amnesty zu neuen Polizeigesetzen: „Diese Entwicklung nicht einfach hinnehmen“

Derzeit wird in vielen Bundesländern über ein neues Polizeirecht gestritten. Katharina Nocun hat mit Maria Scharlau, Expertin für Polizei und Menschenrechte bei Amnesty International, über die Risiken der neuen Gesetze gesprochen.

Zwei Polizisten beobachten im bayerischen Erlangen Passanten. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Markus Spiske

Wir veröffentlichen hier ein Interview, das die Bürgerrechtlerin und Aktivistin Katharina Nocun mit der Polizeiexpertin von Amnesty International, Dr. Maria Scharlau, geführt hat. Das Interview erschien zuerst in Nocuns Blog kattascha.de und erscheint hier als Gastbeitrag.

Katharina Nocun: In NRW ist vor kurzem ein neues Polizeigesetz verabschiedet worden. Was sind aus Deiner Sicht die Hauptkritikpunkte?

Dr. Maria Scharlau: Bisher galt der Grundsatz, dass die Polizei nur eingreifen durfte, wenn eine konkrete Gefahr bestand. Das ist etwa der Fall, wenn sich eine Person so verhält, dass man sagen kann: „Es steht unmittelbar bevor, dass sie Gewalt ausübt.“ Neu und kritikwürdig an den Polizeigesetzen ist, dass diese quasi zur Wahrsagerei auf Seiten der Polizei ermutigen.

Maria Scharlau ist Expertin für Polizei bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. - Alle Rechte vorbehalten privat

Zukünftig darf die Polizei anhand von vagen Anhaltspunkten sagen: „Wir glauben, dass diese Person in absehbarer Zukunft eine Straftat begeht.“ Da geht es dann nicht mehr wie bei der „konkreten Gefahr“ um das, was unmittelbar bevorsteht, sondern um die Wahrscheinlichkeit einer Straftat in „überschaubarer Zukunft“: Was ist darunter zu verstehen? Wochen? Monate? Jahre? Das Problem ist, dass die vagen Voraussetzungen für solche Annahmen wirklich mit allem und nichts gefüllt werden können. Und diese sehr vagen Anhaltspunkte können zu tiefgreifenden Maßnahmen führen – von der elektronischen Fußfessel über die Quellen-Telekommunikationüberwachung (Staatstrojaner), bis hin zu Kontakt- und Aufenthaltsverboten. Letzteres bedeutet, dass man beispielsweise seinen Stadtbezirk nicht verlassen oder ein bestimmtes Gebiet nicht mehr betreten darf.

Diese Vorverlagerung der Befugnisse für sehr einschneidende polizeiliche Maßnahmen ist eins der Hauptprobleme. Das öffnet der subjektiven Auslegung durch die Polizei Tür und Tor. Es ist nirgends geregelt, was das für Anhaltspunkte sein können oder müssen. Wir haben die Sorge, dass die Teilnahme an einer Versammlung, die Mitgliedschaft in einem Verein oder eine Meinungsäußerung im Netz schon ausreichen könnten – Verhalten, das unter besonderem menschenrechtlichen Schutz steht.

In NRW ist jetzt für die bloße Feststellung der Identität ein Polizeigewahrsam von bis zu sieben Tagen möglich. Man muss sich klarmachen, was das bedeutet. Jemand, gegen den kein Strafverdacht vorliegt, kann dann sieben Tage lang festgehalten werden. Das ist so eine Art „Lex Hambacher Forst“. Dort haben sich Aktivist*innen die Fingerkuppen mit Sekundenkleber verklebt, wodurch keine Identitätsfeststellung mehr möglich war. Ein Vertreter der Polizei hat bei einer Anhörung gemeint: „Das können wir uns nicht bieten lassen.“ Es geht also nicht darum, eine Straftat aufzuklären. Es geht nicht darum, eine Gefahr zu beseitigen. Sondern es geht darum, dass man es sich „nicht bieten lassen“ kann, dass jemand seine Identität nicht preisgibt. Hier sieht man besonders eindrücklich, wie das Gefühl dafür verloren geht, wann der Staat in die Grundrechte von Menschen eingreifen kann – und wann nicht.

Im Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen sind manche Passagen auf die Proteste rund um den Hambacher Forst zugeschnitten. (Symbolbild) - CC-BY-NC 2.0 Aktion Unterholz

Katharina Nocun: Infolge der Proteste in vielen Bundesländern haben einige Landesregierungen Nachbesserungen angekündigt. Da hieß es häufig: „Dann führen wir eben an der einen oder anderen Stelle einen Richtervorbehalt ein.“ Ist das zufriedenstellend?

Dr. Maria Scharlau: Der Richtervorbehalt ist kein Allheilmittel. Natürlich ist es im Sinne der Gewaltenteilung, wenn vorher ein Richter auf eine polizeiliche Maßnahme schaut und sein OK gibt. Diese zusätzliche Schwelle bewirkt, dass die Polizei vieles überhaupt erst einmal verschriftlichen und begründen muss. Aber die Justiz ist personell nicht so ausgestattet, dass Richter sich dafür viel Zeit nehmen können. Man darf den Richtervorbehalt nicht überschätzen. In Berlin wurde in den letzten zehn Jahren kein einziger Antrag auf Telekommunikationsüberwachung abgewiesen. Das heißt, das ist eigentlich ein Routinegeschäft. Man sollte nicht denken, dass eine Maßnahme verhältnismäßig wird, nur weil ein Richtervorbehalt vorgesehen ist.

Katharina Nocun: In NRW und anderen Bundesländern wird darauf gedrängt, den Einsatz von Tasern auszuweiten. In einigen Bundesländern ist es bereits zulässig, dass die Polizei solche Elektroschockpistolen einsetzt. Wie steht Amnesty zum Einsatz von Tasern?

Dr. Maria Scharlau: Der Taser wird derzeit als Allzweckmittel gepriesen. Vor allem im Vergleich zu Schusswaffen. Eine aktuelle Studie von Amnesty in den Niederlanden hat gezeigt, dass die Polizisten dort in 80 Prozent der Fälle den Taser gegen Unbewaffnete oder gegen Menschen, die schon Handschellen trugen, eingesetzt haben. In den meisten Fällen wäre also kein Schusswaffeneinsatz erlaubt gewesen. Das heißt, der Taser hat dort zu mehr Gewalteinsatz geführt.

Es besteht die große Gefahr, dass gerade Menschen mit Herzproblemen, Schwangeren oder älteren Menschen schwerwiegende Folgen drohen – bis hin zum Tod. In einem Bundesland, das den Taser per Gesetz schon eingeführt hatte, gehört er trotzdem noch nicht zur Ausstattung. Einfach, weil die Polizei noch darauf wartet, dass ausreichend Defibrillatoren in den Polizeiautos verfügbar sind. Auf den Webseiten der Hersteller sieht man zum einen Werbung, die behauptet, dass es eine ungefährliche Waffe sei, und gleichzeitig sehr signifikante Warnhinweise mit Risiken bis hin zum Herzstillstand. Diese Risiken werden regelmäßig unterschätzt.

Abgesehen davon ist es natürlich eine sehr teure Anschaffung. Man müsste die Leute vor dem Einsatz entsprechend schulen. Das sind halt auch immer so Entscheidungen, die getroffen werden, als hätte man bei der Polizei unendlich viel Personalschulungszeit und Geld.

Katharina Nocun: In Bayern wurden die neuen Möglichkeiten für die Vorbeugehaft bereits gegen Geflüchtete eingesetzt. Stichwort „Hambacher Forst“: Siehst Du die Gefahr, dass einst für die Terrorbekämpfung eingeführte Maßnahmen am Ende ganz andere Gruppen treffen werden?

Dr. Maria Scharlau: Das ist tatsächlich eines der großen Probleme, die Amnesty sieht. Die Gesetzesbegründungen in den Ländern berufen sich stets auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2016 zum alten BKA-Gesetz. Darin hat das Bundesverfassungsgericht eine Vorverlagerung von Befugnissen bei „drohender Gefahr“ zwar zugelassen, aber eben nur für terroristische Gefahren, für den Schutz von „überragend wichtigen“ Rechtsgütern wie Leib und Leben oder Bestand des Bundes, etc. Das Bundesverfassungsgericht hat sich im BKA-Urteil außerdem nur zur Überwachung geäußert und nicht zu Maßnahmen, die in den Handlungs-Kausalverlauf eingreifen, wie beispielsweise elektronische Fußfesseln oder Aufenthaltsverbote. Und obwohl sich die neuen Polizeigesetze auf dieses Urteil berufen, gehen sie weit darüber hinaus. In Bayern wird als ein Schutzgut „Sachen von besonderem öffentlichen Interesse“ genannt. Aber was ist damit gemeint? Letztendlich geht es hier nur um Eigentumsschutz. Dafür werden aber trotzdem invasive Maßnahmen zugelassen, wie sonst nur bei Terror-Gefahr. Das führt dazu, dass auch ein sehr viel größerer Personenkreis betroffen sein kann.

Man darf sich da nichts vormachen. Natürlich können sich solche Maßnahmen auch gegen unliebsame Gruppen im weitesten Sinne richten. Es kann sein, dass schon die Teilnahme an einer friedlichen Protestaktion als Anhaltspunkt genommen wird. Die Bewertung liegt dann wirklich sehr stark im Ermessen der Polizei. Es gab tatsächlich bereits einen Fall, wo genau so etwas passiert ist: Im Juni 2018 wurde in Bayern jemand mit einem politisch linken Hintergrund in Gewahrsam genommen, von dem angenommen wurde, dass er zum Bundesparteitag der AfD fahren würde. Nur weil die Polizei angab: „Der hat diverse Straftaten geplant.“ Und das ist eben genau das, was uns Sorgen bereitet. Am Ende bietet dieses Gesetz auch viel Spielraum, um unliebsamen Protest zu unterbinden.

Spielräume für Protest werden enger. (Symbolbild) - CC-BY-ND 2.0 Konrad Lembke

Katharina Nocun: Bei der letzten Demo gegen das brandenburgische Polizeigesetz in Potsdam gab es auch einen Redebeitrag von Geflüchteten. Dabei ging es um verdachtsunabhängige Kontrollen im Rahmen der Schleierfahndung. Es wird befürchtet, dass Racial Profiling dadurch häufiger stattfinden wird…

Dr. Maria Scharlau: …diese Sorge haben wir auch in unserer Stellungnahme zu dem nordrhein-westfälischen Polizeigesetz angebracht. Es ist einfach eine Tatsache, dass die Polizei People of Color überdurchschnittlich häufig kontrolliert. In NRW gibt es die Möglichkeit zu verdachtsunabhängigen Kontrollen, um zum Beispiel den unerlaubten Aufenthalt zu unterbinden. Hierdurch werden Polizisten quasi dazu aufgefordert, sich zu fragen: „Wer könnte hier keinen Aufenthaltstitel haben?“ Betroffen von Kontrollen werden sicherlich keine blonden jungen Frauen oder Rentnerinnen sein. Da wird man schon nach den „einschlägigen Personen“ Ausschau halten.

Für die Betroffenen ist es wahnsinnig demütigend, immer wieder in der Öffentlichkeit kontrolliert zu werden. Nachher stellt sich ja kein Polizist hin und sagt: „Das ist übrigens eine verdachtsunabhängige Kontrolle und diese Person hat sich nicht rechtswidrig verhalten.“ Die Öffentlichkeitswirkung bleibt also bestehen. Das hat einen verheerenden Effekt auf ganze Communities, die sich unter Generalverdacht gestellt fühlen. Am Ende verstärkt das natürlich die bereits in der Gesellschaft existierenden Stereotype. Wenn man in einem Zug sitzt und in einem Großraumabteil wird eben nur die eine Schwarze Person kontrolliert, dann werden viele Leute – vielleicht auch unbewusst – denken: „Das war ja klar.“
Leider haben Polizei und Landesregierungen sehr wenig Verständnis für dieses Problem. „Das gibt’s nicht, das machen wir nicht“, heißt es oft. Man beschäftigt sich überhaupt nicht damit, dass es auch etwas geben kann, was man vielleicht gar nicht intendiert. Das wird alles weggeschoben.

Katharina Nocun: Befürworter der neuen Polizeigesetze reagieren auf Kritik gerne mit Allgemeinplätzen: „Vertrauen Sie der Polizei. Die wissen ja, wie es gemeint ist.“ Aber wie sieht das in zehn Jahren aus? In mehreren ostdeutschen Bundesländern ist die AfD aktuellen Umfragen zufolge stärkste Kraft. Was wäre, wenn wir eines Tages eine Regierung mit rechtsextremer Beteiligung hätten?

Dr. Maria Scharlau: Ich habe bei den Debatten über die neuen Polizeigesetze häufig gehört: „Man sollte der Polizei nicht so misstrauen!“ Es geht aber darum, dass es klare Regelungen geben muss und dass eine Kontrolle stattfindet – und zwar unabhängig davon, welche Regierung und welche Polizeiführung wir gerade haben. Bei einem Gesetz mit vielen unbestimmten Rechtsbegriffen kann z. B. ein Gericht eine polizeiliche Maßnahme nur noch sehr begrenzt überprüfen. Dann besteht die Kontrolle nämlich häufig nur aus der Frage: „Konnte der Polizist das plausiblerweise annehmen?“ In einer Demokratie müssen staatliche Institutionen, insbesondere Träger des Gewaltmonopols, transparent und nachvollziehbar handeln. Menschen haben in Institutionen vor allem dann Vertrauen, wenn man sieht, dass es rechtsstaatlich zugeht – und dass Kontrolle möglich ist.

Wenn man jetzt das Ganze noch überträgt auf eine Situation, in der Menschen oder Parteien an die Regierung kommen, die vielleicht gar kein Interesse daran haben, den Rechtsstaat auf lange Sicht beizubehalten, dann wird es natürlich umso gefährlicher. In jeder Anhörung habe ich gehört, wie mindestens ein Sachverständiger gemahnt hat: „Sie machen hier erstmal ein Gesetz für die Ewigkeit.“ Ein Polizeigesetz muss jeder Landesregierung standhalten und jedem personellen Wechsel in den Institutionen. Bei einem Fachgespräch zum Musterpolizeigesetz hatte auch ein Polizeigewerkschafter gesagt, er wolle dafür nicht die Hand ins Feuer legen, dass die Polizei in zehn Jahren oder unter einer anderen Regierung immer noch die Gleiche wäre.

Katharina Nocun: Wo können wir noch Einfluss nehmen und was kann ein jeder von uns tun, um diese Entwicklung aufzuhalten?

Dr. Maria Scharlau: Man kann sich informieren, mitmachen, sich engagieren, bei den Bündnissen oder auch bei Amnesty. In Sachsen soll das neue Polizeigesetz bereits Ende Januar verabschiedet werden. Am 26. Januar wird es deshalb eine Demo in Dresden geben. Brandenburg ist noch im Gesetzgebungsverfahren, genauso wie Niedersachsen. Weitere Bundesländer haben angekündigt, ihre Gesetze zu überarbeiten, darunter auch Hamburg, Bremen, Saarland und Berlin. Dort gibt es aber noch keine konkreten Gesetzesentwürfe.

Ich finde es wichtig, dass Menschen an diesen Prozessen teilhaben. Es lohnt sich, hinter die Kulissen zu schauen. Wichtig ist, die eigenen Rechte zu kennen. Jeder kann sich bei den eigenen Abgeordneten melden und kritisch nachfragen: „Wie kann das sein, dass so etwas verabschiedet wird?“ Das wichtigste ist, sich zu informieren, was in den Gesetzen wirklich drinsteckt. Und diese Entwicklung nicht einfach hinzunehmen.

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