Beim Royal Court of Justice in der britischen Hauptstadt liegt seit mehr als einem Monat der Fall von Julian Assange – ein Berufungsantrag gegen seine Auslieferung in die Vereinigten Staaten. Die Entscheidung darüber steht noch aus. Update: Die Entscheidung wird am Dienstag um 11.30 Uhr verkündet.
Die US-Justiz verlangt die Überstellung des 52-jährigen Australiers, um ihm den Prozess zu machen. Assange soll rechtswidrig auf der Plattform Wikileaks geheim eingestufte Dokumente über Kriegsverbrechen und Menschenrechtsmissachtung in Afghanistan und Irak und zahlreiche Dokumente zu Hacking-Werkzeugen der CIA veröffentlicht haben. Nach dem US-Spionagegesetz (Espionage Act) droht ihm dafür eine 175-jährige Haft, über die ein Geheimgericht im US-Bundesstaat Virginia befinden würde.
Der vielfach mit Journalistenpreisen ausgezeichnete Assange wehrt sich seit Jahren gegen die Auslieferung in die Vereinigten Staaten. Ab 20. Februar führte der Royal Court of Justice in London eine zweitägige Anhörung über den Berufungsantrag durch. Assanges Anwalt Mark Summers nannte in der Anhörung die Wikileaks-Veröffentlichungen die „wichtigsten Enthüllungen über kriminelles staatliches Verhalten der USA“, die es in der Geschichte je gegeben hätte.
Wird dem Berufungsantrag der Anwälte Assanges ganz oder in Teilen stattgegeben, könnten weitere gerichtliche Schritte folgen. Sollten die Richter den Antrag aber vollständig ablehnen, kann die Auslieferung unmittelbar vollzogen werden, da der Auslieferungsbefehl schon 2022 von der damaligen britischen Innenministerin Priti Patel unterschrieben wurde.
Reporter ohne Grenzen hatte damals eine Petition gegen Patels Unterschrift gestartet und Assanges mögliche Auslieferung einen „gefährlichen Präzedenzfall für alle Journalistinnen und Journalisten“ genannt. Die NGO begleitet das Auslieferungsverfahren seit Jahren, kritisierte den Spionagevorwurf, wies immer wieder auf Rechtsverletzungen hin und betonte die grundsätzliche Bedeutung des Verfahrens für die Pressefreiheit.
Ein Verfahren nach dem Espionage Act in den USA würde den Regeln eines politischen Delikts folgen, aber wie verhalten sich die britischen Gerichte? Wir sprechen mit Lisa Kretschmer von Reporter ohne Grenzen über das Auslieferungsverfahren und auch über die Bedingungen, unter denen Presse und Zivilgesellschaft in London daran teilnehmen durften.
Lisa-Maria Kretschmer leitet das Advocacy-Referat von Reporter ohne Grenzen. Zuvor hatte sie ebenfalls für die deutsche Sektion von Reporter ohne Grenzen weltweit Rechercheprojekte zur Transparenz und Unabhängigkeit von Medien durchgeführt. Sie studierte Politische Kommunikation, Journalismus und VWL in Deutschland, den Niederlanden, Dänemark und Israel.
Ein Platz im Gericht ergattern
netzpolitik.org: Sie waren bei dem Auslieferungsverfahren im High Court in London für Reporter ohne Grenzen anwesend. Können Sie beschreiben, unter welchen Bedingungen die Vertreter der Zivilgesellschaft und der Presse dort dem Verfahren folgen konnten?
Lisa Kretschmer: Das Interesse von Presse und Zivilgesellschaft, das Verfahren zu beobachten und darüber zu berichten, war erwartungsgemäß groß. Das Gericht war auf dieses Interesse unserer Wahrnehmung nach nicht eingestellt. Der zur Verfügung gestellte Gerichtssaal war relativ klein, so dass ein Großteil der akkreditierten Presse und Zivilgesellschaft in einen sogenannten „Overflow“-Raum nebenan verlagert wurde, in den das Verfahren per Livestream übertragen werden sollte.
Doch dieser angekündigte Live-Stream kann im Vorfeld nicht getestet worden sein, es war ein technisches Desaster. Die Tischmikros waren nicht vernünftig positioniert, so dass eigentlich nur die Richter*innen zu verstehen waren, nicht jedoch die Anwält*innen, die die meiste Zeit sprachen. Teilweise fiel der Ton auch ganz aus. Selbst auf der Empore, auf der wir im eigentlichen Gerichtssaal saßen, waren Verteidigung und Staatsanwaltschaft nur mit großer Mühe zu verstehen.
Am zweiten Tag entschuldigte sich die Richterin zwar für diese Umstände. An einer technischen Lösung hatte das Gericht über Nacht jedoch nicht gearbeitet – die Richterin empfahl, zwischenzeitlich doch erstmal lauter zu sprechen. Der Zugang für die Öffentlichkeit war also stark eingeschränkt.
netzpolitik.org: Wie schwierig war es für Sie als Vertreterin von Reporter ohne Grenzen im Auslieferungsprozess einen Platz im Gericht zu bekommen?
Lisa Kretschmer: Seit Beginn des Verfahrens war der Zugang zu den Gerichtsverhandlungen immer wieder erschwert. Teilweise standen meine Kolleg*innen stundenlang an, um einen der wenigen Plätze auf der öffentlichen Tribüne zu ergattern. Während der Pandemie drohten Sicherheitskräfte einer Kollegin, sie zu verhaften, nur weil sie in der Schlange zum Gericht stand. Eine absurde Reihe von Beschränkungen führte dazu, dass Reporter ohne Grenzen die einzige NGO war, die das gesamte Verfahren im Gerichtssaal verfolgen konnte. In keinem anderen Land, in dem wir Prozesse beobachteten, sind wir auf derartige Hindernisse gestoßen, die offensichtlich gegen die Grundsätze einer offenen Justiz und das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen.
Überraschenderweise haben wir als Reporter ohne Grenzen für die Verhandlungstage im Februar drei Akkreditierungen erhalten. Daher hatten wir einen garantierten Platz im Gerichtssaal. Andere NGOs und teilweise auch Journalist*innen berichteten uns aber auch diesmal über Probleme bei der Registrierung und baten uns, sie bei ihren Zugangsproblemen zu unterstützen.
netzpolitik.org: Wer hat den Online-Stream nutzen können?
Lisa Kretschmer: Pressevertreter*innen konnten nach vorheriger Anmeldung den Online-Stream nutzen. Doch wie nützlich dieser Zugang war, ist aufgrund der technischen Probleme fraglich.
Es geht ihm sichtlich schlecht
netzpolitik.org: Julian Assange hat weder persönlich noch online am Verfahren teilgenommen. Als Grund wurde sein Gesundheitszustand angegeben. Wissen Sie, wie es aktuell um seine Gesundheit steht?
Lisa Kretschmer: Assange hatte immer wieder darum gebeten, bei Anhörungen persönlich vor Gericht erscheinen zu dürfen. Das hatte das Gericht ihm zuletzt bei einer Kautionsanhörung im Januar 2021 gestattet. Dass er diesmal nicht einmal online anwesend war, lässt nichts Gutes für seinen Gesundheitszustand erahnen.
Schon bei einem unserer letzten Besuche im Belmarsh-Gefängnis im Januar ging es ihm sichtlich schlecht. Er hatte Schmerzen aufgrund einer gebrochenen Rippe, die er sich durch übermäßigen Husten zugezogen hatte.
Seine prekäre psychische Verfassung ist ebenfalls kein Geheimnis, sie war auch immer wieder Thema vor Gericht. Gutachter*innen bestätigten seine Depression, chronischen Angstzustände und ein posttraumatisches Stresssyndrom und schätzten ihn als suizidgefährdet ein. Trotzdem engagiert sich Assange weiterhin sehr für seinen Fall.
Julian Assange
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netzpolitik.org: Können Sie einen Einblick geben in die Haftbedingungen von Assange: Wie muss man sich die Bedingungen in der Isolationshaft im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh vorstellen?
Lisa Kretschmer: Im Belmarsh-Gefängnis wurden Assanges Besuchsrechte während der Covid-19-Pandemie über einen längeren Zeitraum ausgesetzt. Aufgrund von Covid-Infektionen war er in seinem Gefängnisblock zeitweise vollständig in seiner Zelle isoliert. Während seines Auslieferungsverfahrens wurde Assange übermäßigen Leibesvisitationen unterzogen, die offensichtlich Schikane waren. Teilweise wurden auch rechtlich geschützte Dokumente von Gefängnisbeamt*innen beschlagnahmt.
Kurz: Die Haftbedingungen bereiteten und bereiten uns große Sorge, doch sie sind nichts im Vergleich dazu, was ihn vermutlich bei einer Auslieferung in die USA erwarten würde.
netzpolitik.org: Wie wären die Haftbedingungen für ihn, falls er in die Vereinigten Staaten überstellt werden würde?
Lisa Kretschmer: Er würde vermutlich in ein US-Hochsicherheitsgefängnis eingeliefert werden und in Haft auf seinen Prozess warten. 2021 hatte die zuständige britische Bezirksrichterin seine Auslieferung mit der Begründung abgelehnt, dass die harten Isolationsbedingungen, denen er im US-Gefängnissystem ausgesetzt wäre, sein Leben gefährden würden. Diese Entscheidung wurde erst in der Berufung aufgehoben, nachdem die USA diplomatische Zusicherungen über eine humane Behandlung gegeben hatten.
Doch es ist fraglich, wie ernst diese Zusicherungen sind: Sie sind rechtlich nicht bindend, haben nur einen begrenzten Geltungsbereich und Assange hätte im Falle einer Verletzung möglicherweise keine Rechtsmittel. So sehen das im Übrigen auch die UNO-Sonderberichterstatterin über Folter, Alice Jill Edwards, und Amnesty International.
Zwischenzeitlich wurde außerdem bekannt, dass die CIA plante, Assange zu entführen und zu ermorden. Eine Auslieferung würde bedeuten, dass er genau den Leuten in die Hände fiele, die ein Attentat auf ihn geplant haben. Assange würde dann vor dem US-Bundesbezirksgericht für das östliche Virginia angeklagt, wo die Geschworenen vermutlich vorwiegend Mitarbeitende der CIA, der NSA, des Pentagons und anderer nationaler Sicherheitseinrichtungen oder deren Familienangehörige wären. Im Falle einer Anklage stünde nicht nur eine 175-jährige Haftstrafe, sondern auch die Todesstrafe zur Diskussion.
netzpolitik.org: Bereits lange vor der Anhörung war durch eine journalistische Recherche öffentlich bekannt geworden, dass es Pläne von CIA-Mitarbeitern gegeben hat, Assange aus dem Verkehr zu ziehen oder gar zu ermorden. Assanges Anwälte haben diese Pläne in der Anhörung angesprochen. Wie hat sich das Gericht damit befasst, wie reagierten die Vertreter der US-Regierung?
Lisa Kretschmer: Die US-Anwält*innen erwähnten den Artikel kurz und wiesen ihn zurück, lieferten aber nichts Neues, um ihn zu widerlegen.
Klassifizierte Informationen zu veröffentlichen, gehört zur journalistischen Arbeit
netzpolitik.org: Die Auslieferung verlangen die Vereinigten Staaten wegen der Veröffentlichung von diplomatischen und militärischen Dokumenten über die Plattform Wikileaks, die Assange mitgründete. Er solle sich daher wegen Spionage und Computermissbrauchs verantworten. Wie bewertet Reporter ohne Grenzen diese Vorwürfe?
Lisa Kretschmer: Es gehört zur journalistischen Arbeit, auch klassifizierte Informationen zu veröffentlichen, wenn sie von öffentlicher Bedeutung sind. Kriegsverbrechen aufzudecken, über von Staaten verübtes Unrecht kritisch zu berichten, ist von der Pressefreiheit gedeckt. Anstatt diese Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, ist Assange nun unter Berufung auf ein über einhundert Jahre altes Spionagegesetz angeklagt. Dieses erlaubt es den Angeklagten nicht einmal, zu ihrer Verteidigung vorzubringen, dass sie im öffentlichen Interesse gehandelt haben – was bei Assange eindeutig der Fall war.
netzpolitik.org: Haben die Vertreter der Vereinigten Staaten in der zweitägigen Anhörung etwas Neues vorgebracht, um das Auslieferungsbegehren zu unterstreichen?
Lisa Kretschmer: Nein, nichts nennenswert Neues.
netzpolitik.org: Ist Assange aus Ihrer Sicht ein Journalist?
Lisa Kretschmer: Assange und Wikileaks haben sich aus mehreren Gründen um die journalistische Berichterstattung verdient gemacht. Die Veröffentlichung der geleakten Geheimdokumente durch Wikileaks war die Grundlage für eine weltweite Berichterstattung über Kriegsverbrechen der USA. Wikileaks hat außerdem einen Weg für den Umgang mit riesigen Datenmengen aufgezeigt. Dass bei großen Recherchen Redaktionen international kooperieren und Informationen gemeinsam auswerten, wie später zu den Panama- oder Paradise-Papers, ist mittlerweile fast selbstverständlich geworden.
Assanges Verurteilung würde das Signal aussenden, dass Medien und Journalist*innen, die im öffentlichen Interesse berichten, jederzeit staatliche Verfolgung befürchten müssen. Für uns ist daher unerheblich, ob die Person Assange als Journalist, als Herausgeber oder als journalistische Quelle eingeordnet wird, denn es geht um nichts weniger als die weltweite Pressefreiheit und unser aller Recht auf Information.
netzpolitik.org: Warum ist der Fall so wichtig für die Pressefreiheit?
Lisa Kretschmer: Assanges Verurteilung würde den Weg für die Verfolgungen anderer Journalist*innen und Medien ebnen, die über sensible Themen wie Geheimdienste, nationale Sicherheit und Kriegsverbrechen berichten. Die USA kämen mit der Anschuldigung durch, die Enthüllungen von Wikileaks hätten nichts mit Journalismus zu tun, sondern mit Spionage und Terrorismus. Das wäre zum einen ein schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit der westlichen Welt in Sachen Pressefreiheit. Es wäre außerdem ein deutliches Zeichen der Abschreckung und würde sich letztlich auf unser Recht auswirken, auch über diese Themen informiert zu werden.
Assange ist kein amerikanischer Staatsbürger, er hat nie in den Vereinigten Staaten gelebt und keine nennenswerten Verbindungen zu den USA. Er ist australischer Staatsbürger und lebte und arbeitete in London, als die US-Regierung ihr Verfahren gegen ihn eröffnete. Würde Assange ausgeliefert, müssten Journalist*innen und Whistleblower*innen jederzeit befürchten, dass ein ausländischer Akteur sie auch im europäischen Rechtsraum aufgrund ihrer investigativen Arbeit anklagen und eine Auslieferung fordern kann.
netzpolitik.org: Bisher steht die Entscheidung des High Courts noch aus. Falls Assange nach der Entscheidung über den Berufungsantrag in die Vereinigten Staaten überstellt werden kann, könnte sein Fall noch vor den Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg kommen. Hätte das aufschiebende Wirkung?
Lisa Kretschmer: Wird Assanges Berufungsantrag komplett abgelehnt, könnte seine Auslieferung unmittelbar bevorstehen. Da in Großbritannien dann keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stünden, könnte er eine Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen.
Eine solche Individualbeschwerde hat allerdings keine aufschiebende Wirkung. Sie hemmt weder den Vollzug des letztinstanzlichen Urteils noch die eigentliche Auslieferungsverfügung. Allerdings könnte Assange einen Antrag nach Art. 39 der Verfahrensordnung des EGMR auf Anordnung einer einstweiligen Maßnahme stellen und damit eine aufschiebende Wirkung erreichen. Würde das Gericht diese bewilligen, wäre sie für das britische Gericht und die britische Regierung bindend. Die Anordnung einer solchen einstweiligen Maßnahme ist zumindest rechtlich möglich.
Entscheidend wäre dann auch, wie sehr die britische Regierung darauf Rücksicht nimmt. In der Zeit zwischen dem Antrag und der Anordnung durch den EGMR könnte sie versuchen, Assange schnell auszuliefern und so faktisch zu verhindern, dass die einstweilige Maßnahme ihre aufschiebende Wirkung entfalten kann. Und selbst wenn die Anordnung schnell genug ergeht, könnten die britische Regierung ihn ausliefern. Das wäre allerdings ein Verstoß gegen die Verpflichtungen, die sich für Großbritannien als Vertragspartei der Europäische Menschenrechtskonvention ergeben und damit ein Verstoß gegen das Völkerrecht.
netzpolitik.org: Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen!
Danke schön für Eure Info! Ich möchte gern an den Hoffnungsschimmer glauben :
https://orf.at/stories/3352249/
… aber das könnte Wunschdenken sein bei mir.
FYI
https://edition.cnn.com/2024/03/20/politics/justice-department-plea-discussions-assange/index.html
Ja, „at one point in the case“, but no „recent talks“, und ist auch egal, denn morgen wissen wir mehr. (siehe Update oben)
>> gebrochenen Rippe, die er sich durch übermäßigen Husten …
Was sind das für Zustände?
Weshalb ist Herr Assange überhaupt in einem Hochsicherheitsgefängnis untergebracht, statt in einem normalen Untersuchungsgefängnis mit Haftbedingungen, die einem nicht rechtskräftig verurteilten Verdächtigen angemessen wären?