Start-Up-BeiratWie das pressefeindliche Positionspapier auf die Webseite des Wirtschaftsministeriums kam

Obwohl das Ministerium in einer internen Stellungnahme den Angriff seines Start-Up-Beirats auf die Pressefreiheit erkannte, stellte es ein umstrittenes Positionspapier auf seine Webseite. Als dann ein Sturm der Entrüstung losbrach, distanzierte man sich eilig. Das zeigen Dokumente einer Informationsfreiheitsanfrage.

Peter Altmaier
Peter Altmaiers Ministerium veröffentlichte das Papier, obwohl seine Mitarbeiter die Probleme im Vorfeld erkannten. (Archivbild) CC-BY-NC-SA 2.0 World Economic Forum

Die Presse disziplinieren und verpflichten, über Börsengänge berichten, die sonst niemanden interessieren, forderte der Start-Up-Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) in einem Positionspapier. Einen Monat stand das Papier unbeachtet auf der Webseite des Ministeriums, dann brach im Juli durch einen Bericht des Handelsblattes ein Sturm der Entrüstung los. Der Beirat versuchte, zu deeskalieren: Man habe dem Ministerium aus Versehen eine alte Version des Positionspapiers geschickt. Auf diese Erklärung verwies auch das BMWi auf eine Anfrage von netzpolitik.org damals. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte.

Wir wollten wissen, was wirklich passiert ist, wie im Wirtschaftsministerium solche Positionspapiere geprüft werden – und wie sie auf der Webseite landen. Deshalb haben wir beim BMWi per Informationsfreiheitsanfrage alle Kommunikationen rund um das Positionspapier angefragt – und ein 123 Seiten starkes PDF erhalten.

Die Dokumente beweisen, dass das Ministerium die umstrittenen Punkte im Vorfeld kannte, in der internen Kommunikation problematisierte – das Papier aber trotzdem veröffentlichte. Sie zeigen auch, dass es zum Problem wurde, dass der Beirat auf der einen Seite zwar unabhängig vom BMWi agieren soll, sich Wirtschaftsminister Altmaier aber am Abend nach dem Pressebericht offenbar zur Distanzierung gezwungen sah.

Wie alles begann

Am 11. Mai 2021 sendete der Beirat das auf den 15. April datierte Positionspapier mit dem Namen „2021.04.12_Positionspapier zum Thema Börse_AF_CG_clean_AF.pdf“ ans Wirtschaftsministerium und den CDU-Abgeordneten Thomas Jarzombek. Letzterer ist im Ministerium Beauftragter für die Digitale Wirtschaft und Start-ups. Das Positionspapier enthält Forderungen, die zwei Monate später für große Aufregung sorgen werden:

  1. Verpflichtung der Presse zur Berichterstattung auch über kleine IPOs (fallen sonst bei den großen Medien ganz durchs Raster)

  2. Disziplinierung der Presse zu sachlicher, richtiger und vollständiger Information, bewehrt durch Pflicht zur unverzüglichen Gegendarstellung bei Fehlinformation

  3. Verpflichtung von Internetforen zur Offenlegung von Klarnamen der Blogger, Einführung einer Haftung von Bloggern für Falschbehauptungen und Beleidigungen

Zwei Wochen lang geht alles den üblichen, bürokratischen Weg. Verschiedene Referate sind daran beteiligt, das Papier zu prüfen. Es geht von VIB1 zu VII C3 zu IB1 und IB4.

Auschnitt Organigramm
Diese Stellen hatten mit dem Positionspapier zu tun. - Alle Rechte vorbehalten BMWi / Organigramm

Am 25. Mai schickt Frau H. aus dem Referat für Startup-Finanzierungen eine Mail, in der steht:

Zur kurzen Stellungnahme zum Punkt „Gewährleistung einer ausgewogenen Berichterstattung“ (S. 8 im Positionspapier, S. 5 im Sachstand) wäre ich für Prüfung und ggf. Ergänzung durch IB1 dankbar. IB4 bitte ich insgesamt um Durchsicht.

Die problematische Passage ist aufgefallen. Frau H.s Referat VIIC3 schreibt in der Stellungnahme dazu:

Eine ausgewogene Berichterstattung über Börsengänge sowie eine entsprechende Vorbildfunktion von Politikern ist aus fachlicher Sicht zu begrüßen, um die Aktienkultur in Deutschland zu stärken. Die Empfehlungen für entsprechende Verpflichtungen an die Presseberichterstattung aus dem Kreis der Unternehmen verwundern und sind abzulehnen.

Damit ist jedoch offenbar nicht die Publikation des Positionspapiers gemeint, denn einige Zeilen weiter heißt es:

Wir werden das Positionspapier des Beirats zum Thema Börse zeitnah veröffentlichen.

Am 7. Juni findet eine Sitzung des Beirats Junge Digitale Wirtschaft statt, die extra um eine halbe Stunde für das Positionspapier erweitert wurde. Worüber die Teilnehmer auf der Sitzung diskutierten, lässt sich aus den Dokumenten nicht ablesen. Die umstrittene Stelle gehörte jedoch nach Angabe des BMWi nicht dazu. Ein Fehler, wie sich noch zeigen wird.

Scholz & Friends stellt das Papier auf die Seite

Am 9. Juni schreibt Herr G. aus dem Referat VIB1 an eine Mailadresse der Werbeagentur Scholz & Friends, damit diese das Positionspapier veröffentlicht. Die Agentur ist seit 2020 Dienstleister für die technische und redaktionelle Betreuung der Webseite des Wirtschaftsministeriums: 

Liebes Team,
ich bitte auf der Seite des Beirats Junge Digitale Wirtschaft die beiden anliegenden Positionspapiere einzustellen.

Herr G. sendet in dieser Mail das Positionspapier mit dem Namen „2021.04.12_Positionspapier zum Thema Börse_AF_CG_clean_AF.pdf“ als Anhang mit. Und damit die Version mit der Forderung zur Disziplinierung der Presse. Eine andere Form findet sich in den Unterlagen bis dahin auch nicht. Ebensowenig wie Hinweise darauf, dass eine Überarbeitung geplant war. Nach Auskunft des BMWi lag diesem immer nur die Version vom 11. Mai vor.

Am 11. Juni bestätigt Scholz & Friends gegenüber Herrn G. die Aktualisierung der Webseite. Dann passiert einen Monat nichts. 

Einen Monat später…

Am 12. Juli 2021 um 13:57 Uhr trifft eine Presseanfrage des Handelsblatts beim BMWi ein. Sie löst hektische Betriebsamkeit aus. Da nur Mails in den Akten sind, wissen wir nicht, ob es weitere mündliche Kommunikation gab und was sie eventuell beinhaltete.

Zwei Stunden nach der Anfrage schreibt Ministeriumsmitarbeiter G. offenbar an Mitglieder des Beirates (die Namen und Mailadressen sind in den Akten geschwärzt):

uns hat zu dem Positionspapier eine Presseanfrage erreicht, in der die Vorschläge des Beirats zur Presse aufgegriffen werden (u.a., die Presse dazu zu verpflichten, über kleine IPOs zu berichten, außerdem soll eine kostengünstige Nutzung von Presseerzeugnisse für die Werbung der Emittenten eingeführt werden. Zudem soll es eine „Disziplinierung der Presse zu sachlicher, richtiger und vollständiger Information“ geben). Ich schließe nicht aus, dass Sie hierzu ebenfalls seitens der Presse angesprochen werden.

Eine falsche Version?

Gegen 17:30 Uhr veröffentlicht das Handelsblatt seinen Artikel. Das Thema geht schnell durch die Decke, das Wirtschaftsministerium wird heftig kritisiert. Noch einmal zwei Stunden später kommt um 19:37 Uhr die Antwort des Beirates an Herrn G.:

Lieber Herr G. [Name von Red. gekürzt],

Hier ist tatsächlich eine falsche Version des Papiers an Sie gegangen. Genau in diesem Punkt hatten wir das Papier nämlich noch editiert.

Wie das passiert ist muss ich erst noch recherchieren. Ich entschuldige mich aber bereits für diesen blöden Fehler. Wir geben ein dementsprechendes Statement ab und übersenden zeitnah die finale, korrekte Version des Papiers. Liebe Grüße

Christoph Gerlinger
Er wird am Ende zurücktreten: Beirats-Mitglied Christoph Gerlinger (Archivbild von 2008) - Public Domain Joopi

Hier ist nun erstmals von einer „falschen Version“ des Papiers die Rede. Dem BMWi lag von Anfang an nur eine Version des Positionspapiers vor, die vom 11. Mai. Es ist die umstrittene Version, die Mit-Autor und Beiratsmitglied Gerlinger auch dem Handelsblatt zugeschickt hatte. Dass er die Forderungen gegenüber dem Handelsblatt auch noch bekräftigte, lässt zumindest Zweifel aufkommen an der Ausrede des Beirats vom „frühen Teilkonzept“, das aus Versehen verschickt wurde. 

Nach 20 Uhr schreibt Gerlinger an Herrn G. im Ministerium:

Lieber Herr G. [Name von Red. gekürzt], dürfte ich Sie bitten das Papier kurzfristig offline zu nehmen? Sobald die Änderungen vorgenommen sind können wir es dann wieder online stellen.

Um 22:40 Uhr twittert der Minister

Doch G. scheint schon im Feierabend zu sein. Derweil schlagen auf Twitter die Wellen höher, dass auf der Webseite des Ministeriums eine Einschränkung der Pressefreiheit gefordert wird. Der Deutsche Journalistenverband spricht von „völlig absurden Forderungen“ und setzt Peter Altmaier in Kopie.

Der Minister reagiert um 22:40 Uhr. Er twittert:

Pressefreiheit ist ein herausragendes Grundrecht, dessen Schutz wir verpflichtet sind. Das Positionspapier des Beirates junge digitale Wirtschaft, war mir ebensowenig bekannt wie seine Veröffentlichung auf der Homegage. Ich habe soeben die umgehende Entfernung angeordnet.

Jemand aus dem Ministerium veranlasst bei Scholz & Friends die Entfernung des Papiers. Als Herr G. das Papier am nächsten morgen offline nehmen lassen will, ist es bereits weg.

Um kurz vor 9 Uhr schickt der Beirat dann eine neue Version. Diese wird später auf die Seite genommen.

Um 10:34 Uhr schickt Christoph Gerlinger vom Beirat eine Mail an Herrn G., an Thomas Jarzombek und Wirtschaftsminister Peter Altmaier, in der er seinen Rücktritt anbietet, „um Schaden vom Beirat und dem Projekt abzuwenden“. Altmaier nimmt den Rücktritt an.

Screenshot Mails
Auszug aus der Kommunikation zum Rücktritt von Gerlinger. - Alle Rechte vorbehalten BMWi

Gerlinger tritt zurück. Für das Statement des Ministers schlägt Ministerialdirigent Breit vor:

Ich würde noch zart und ohne adressat für die geleistete Arbeit danken, in rot. Immerhin müssen ja irgendwann auch leute in solchen gremien arbeiten wollen.

Die Pressestelle baut einen Dank in Altmaiers Statement ein und verschickt eine Sprachregelung im Haus.

 

Mangelndes Problembewusstsein

Heute bezeichnet eine Sprecherin des Ministeriums gegenüber netzpolitik.org den Vorgang als „Fehler, der nicht hätte passieren dürfen“. Dass das Papier veröffentlicht wurde, begründet das Ministerium damit, dass Inhalte von Beiräten zwar fachlich bewertet, aber weder inhaltlich abgenommen noch genehmigt würden. Es handle sich dabei um „Meinungsäußerungen“ des Beirats und nicht um Positionen des BMWi.

Gleichzeitig sagt das Ministerium:

Auf der Website des BMWi können aber selbstverständlich – auch bei unabhängigen Stellungnahmen – keine Äußerungen veröffentlicht werden, die gegen verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter wie die Pressefreiheit verstoßen.

Vielleicht müsste es besser „sollen“ heißen, denn dass das Ministerium solche Äußerungen veröffentlichen „kann“, bewies es ja. Es hatte sogar den problematischen Teil mit der Einschränkung der Pressefreiheit erkannt, informierte darüber verschiedene Referate, hatte vor Veröffentlichung eine Sitzung mit dem Start-Up-Beirat, bei der das Papier sogar Programmpunkt war, ließ aber jede Chance zur Klärung aus – und veröffentlichte das Papier dann trotzdem.

Der lakonische Umgang mit dem Positionspapier im Ministerium und die Kenntnis des Ministers erst beim Skandal zeigen, dass die Wichtigkeit solcher Papier im Ministerium selbst nicht besonders hoch eingestuft wird. Einen Monat dauerte es, bis jemand die strittige Stelle öffentlich thematisierte. Dass dies erst geschah, nachdem das Beiratsmitglied Gerlinger das Schriftstück offensiv beim Handelsblatt beworben hatte, spricht Bände über die fehlende Außenwirkung. Darüber kann nicht hinwegtäuschen, dass der Minister den Beirat einmal als „wichtigen Impulsgeber“ bezeichnete.

Impulse hat der Vorfall auf andere Art gesetzt: Als Reaktion will das Ministerium nun „Prozesse aufgearbeitet und interne Abläufe verbessert“ haben, heißt es gegenüber netzpolitik.org. So solle in Zukunft die „Prüfung der Einhaltung von selbstverständlichen Standards, wie fachliche Richtigkeit, aber natürlich vor allem auch Konformität mit dem gesetzlichen Rahmen“ sichergestellt werden. Veröffentlichungen auf der Webseite müssen nun immer über den Tisch der Öffentlichkeitsarbeit. 


Informationsfreiheitsanfragen kosten Geld. Allein für diese Anfrage wollte das Ministerium 220 Euro haben. Deine Spende hilft, die Kosten der Anfragen zu decken und solche Recherchen auch in Zukunft zu ermöglichen.

5 Ergänzungen

  1. „Allein für diese Anfrage wollte das Ministerium 220 Euro haben.“

    FRECHHEIT!
    Für was?
    Für ein PDF?
    123 Seiten?

    Ist das Ding garantiert vollständig?

    Im real Life würde ich meinen, die haben den Schuß nicht gehört.

  2. Noch ein Nachtrag, weil ich das so unglaublich und unfassbar finde:

    In den 123 Seiten PDF sind das Positionspapier mit jeweils 11, bzw. später mit 10 Seiten drin. Das sind also schließlich gutgehend 40 Seiten, zudem noch die eine oder andere ohne Inhalt.
    Die Antwort auf die IFG-Anfrage muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen.
    Wenn es wenigstens in der vorgegeben Zeit gelaufen wäre – aber nein…

    Was die Thematik des Datum angeht:

    „Dem BMWi lag von Anfang an nur eine Version des Positionspapiers vor, die vom 11. Mai.“
    Nein.
    Es gibt nur eine Version vom 15.4.2021. Selbst die korrigierte Version ist mit selbem Datum versehen.

    Habt ihr gut gemacht!

    1. Ja, das mit dem 15.4. habe ich im Text drin gehabt, aber rausgenommen, weil da schon so viele Daten und Uhrzeiten für Verwirrung gesorgt haben.

  3. Zitat: „Allein für diese Anfrage wollte das Ministerium 220 Euro haben.“

    ‚Haben wollen‘ ist etwas anderes als ‚in Rechnung stellen‘. Und es muss noch lange nicht bedeuten ‚haben wir bezahlt‘.

    Habt ihr tatsächlich 220 Euro für ein PDF bezahlt?

    Und wenn dem so wäre, so würde ich doch dafür kämpfen, dass bei erfolgreichen Widerlegungen von Falschbehauptungen die Kosten zu Lasten der Staatskasse gehen.

    1. @ Unverhältnismäßige Rechereche-Abgaben: [sic!]
      „‚Haben wollen‘ ist etwas anderes als ‚in Rechnung stellen‘.“
      Du täuscht Dich. Beides ist nur haben wollen.

      Mit Ablauf des Zahlungsziel kommt die Veröffentlichung – die Frage ob gezahlt wurde, stellt sich nicht.
      220 Euro für – schlussendlich tatsächliche irgendwo um die 70 Seiten – in Rechnung stellen und das mit der Begründung(!) ist eine Unverfrorenheit, die genau darauf auszielt endlich aufzuhören Fragen zu stellen.

      Sonntag ist Wahltag.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.