Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat am 25. Mai 2021 (Az. 58170/13, 62322/14, 24969/15) ein Urteil zur massenhaften Überwachung von Kommunikationsdaten durch den britischen Geheimdienst GCHQ gesprochen. Die Beschwerdefälle gründeten auf den Dokumenten zu geheimdienstlichen Überwachungsoperationen, die Edward Snowden ab 2013 Journalisten zur Verfügung gestellt hatte.
Wir veröffentlichen die deutsche Übersetzung des Sondervotums von Paulo Pinto de Albuquerque, der als Richter zu dieser Großen Kammer gehörte und im Rahmen des Urteils seine abweichende Ansicht erläutert und begründet.
Einleitend kommentiert der Landesbeauftragte für den Datenschutz in Baden-Württemberg, Stefan Brink, für netzpolitik.org die Grundsatzentscheidung des europäischen Höchstgerichtes vom Mai und die Kritik daran.
Grundsatzentscheidung zur Überwachung durch Geheimdienste in Europa in der Kritik
Unsere Freiheiten sind „transnational“ geworden: jenseits nationaler Grenzen garantiert, etwa mit der Europäischen Grundrechte-Charta (EU-GRCh) oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) – und durch Europäische Gerichte wie den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) geprüft und verteidigt. Das transnationale Konzert der Gerichte tönt mehrstimmig, das muss unserer gelebten Freiheit aber keineswegs zum Nachteil gereichen: 2020 urteilte so „unser“ Karlsruher Bundesverfassungsgericht zur Auslandsüberwachung des Nachrichtendienstes BND und erstreckte den Grundrechtsschutz vor deutscher Überwachung auch auf Menschen im Ausland – und nötigte so zu einer grundlegenden Reform des BND-Gesetzes.
Der EuGH urteilte währenddessen in einer ganzen Urteils-Serie („Schrems“-Urteile) zu den datenschutzrechtlichen Grenzen der Übermittlung der Daten von Europäerinnen und Europäern in die Vereinigten Staaten. Er zog damit die Konsequenzen aus GRCh und Datenschutz-Grundverordnung und sicherte die europäischen Datenschutzstandards gegenüber dem Datenhunger US-amerikanischer Sicherheitsbehörden.
Auch der EGMR zeichnet mittlerweile für eine Reihe von Grundsatzentscheidungen zur Überwachung durch Geheimdienste in Europa verantwortlich. Vor knapp drei Jahren erklärte er die Überwachungspraxis der britischen Regierung und ihres Geheimdienstes GCHQ für rechtswidrig – ein Paukenschlag! Jetzt hat die Große Kammer dieses Gerichtshofs das Urteil bestätigt und näher konkretisiert, unter welchen Voraussetzungen europäische Staaten ihren Geheimdiensten die massenhafte Datenabschöpfung aus internetbasierter Kommunikation erlauben dürfen.
Danach bleibt die Massenüberwachung der Kommunikation an sich prinzipiell möglich, allerdings nur unter klarer rechtsstaatlicher Einhegung. Gefordert wird insbesondere eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit aller Maßnahmen sowie eine unabhängige ex-ante- und ex-post-Kontrolle im Sinne einer „end-to-end“-Absicherung. Dies betrifft sowohl das massenhafte und anlasslose Abfangen von Kommunikation durch die Geheimdienste als auch deren Datenabschöpfungen bei Internet- oder Telefonanbietern als privaten Service-Providern und schließlich den internationalen Informationsaustausch der Geheimdienste untereinander.
Konkret entschied der Gerichtshof auf über zweihundert Seiten in der Rechtssache „Big Brother Watch and Others v. the United Kingdom“ zum britischen Geheimdienstgesetz nun einstimmig, dass die im Gesetz vorgesehene geheimdienstliche Massenüberwachung gegen Artikel 8 EMRK (Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) sowie Artikel 10 EMRK (Menschenrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung) verstößt; dies gilt auch für die Datenabschöpfungen bei privaten Diensteanbietern. Mit zwölf zu fünf Stimmen entschieden die Richter des EGMR allerdings auch, dass eine Rechtsverletzung im Informationsaustausch mit Geheimdiensten „befreundeter“ Staaten nicht zu sehen sei.
Dieses billigende Votum rief Kritiker aus den Reihen des Gerichts auf den Plan, die ihre abweichende Ansicht in sogenannten Sondervoten nachdrücklich präsentierten: Die Richter Lemmens, Vehabović und Bošnjak beschwören Überwachungsszenarien aus George Orwells „1984“, der portugiesische EGMR-Richter Pinto de Albuquerque lässt seine hier erstmals ins Deutsche übersetzte abweichende Meinung in den Worten gipfeln, der Straßburger Gerichtshof habe „mit dem vorliegenden Urteil gerade die Tore für einen elektronischen ‚Big Brother‘ in Europa geöffnet“.
Neben die transnationale Vielstimmigkeit der Gerichte tritt also eine innergerichtliche Vielstimmigkeit – was bei einem Spruchkörper von siebzehn Richter*innen nicht verwundern muss. Anders als bei „niederen“ Gerichten wird diese Uneinigkeit allerdings nicht vom justiziellen Beratungsgeheimnis zugedeckt, sondern tritt in Gestalt von dissenting votes (ein Richter hält das mehrheitlich gefundene Entscheidungsergebnis für unzutreffend) oder concurring opinions (ein Richter trägt das Ergebnis zwar mit, hält aber dessen Begründung für unzutreffend) vor die Augen der interessierten Betrachter.
Aus Sicht der Richtermehrheit ist ein Sondervotum immer ein unfreundlicher Akt desjenigen, der es zwar besser weiß, sich aber in den geheimen Beratungen nicht durchzusetzen vermochte. Ein Sondervotum seziert also immer die Entscheidung des eigenen Gerichts, an dessen Entstehen man beteiligt war. Nicht die Argumente überraschen daher die Mehrheit des Spruchkörpers, seine Angst vor Sondervoten rührt eher daher, dass durch sie die Frage aufgeworfen wird, warum denn die Mehrheit wider die nun offenkundigen besseren Argumente agierte. Und diese Frage ist schmerzhaft.
Das nachfolgende Sondervotum des portugiesischen Richters Paulo Pinto de Albuquerque vereint alle Qualitäten in sich, die einem solchen Votum innewohnen können: Seine unnachsichtige Forderung nach begrifflicher und gedanklicher Schärfe, seine methodische Kritik an „seinem Gericht“, dem keine vollständige strukturelle Analyse und Bewertung der Massenüberwachung gelingt, und seine schonungslose Anprangerung der Fehlannahme des Gerichtshofs, von der Unvermeidbarkeit einer pauschalen, nicht zielgerichteten, verdachtsunabhängigen Massenüberwachung auszugehen, mündet in eine sehr grundsätzliche Kritik: am Selbstverständnis der Straßburger Richterkolleg*innen, die ihren Gerichtshof gar nicht als ein wirkliches Rechtsorgan betrachteten – eine wirklich fundamentale Kritik.
Albuquerque prangert damit einen grundlegenden Wandel der Position des EGMR an, alle Menschen als potenzielle Verdächtige zu behandeln, deren Daten gespeichert, analysiert und charakterisiert werden dürfen, ja müssen. Das ähnelt, so schließt er sein Sondervotum, „eher einem Polizeistaat als einer demokratischen Gesellschaft“, und dafür werden „unschuldige Menschen früher oder später den Preis zahlen“. Klarer kann ein Sondervotum nicht für unsere Freiheit eintreten. Aber lesen Sie selbst!
Paulo Pinto de Albuquerque war von 2011 bis 2020 Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er war Vorsitzender des Ausschusses für die Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Vorsitzender der Strafrechtlichen Gruppe des Gerichtshofs und Ansprechpartner für die internationalen Beziehungen des Gerichtshofs zu Verfassungsgerichten und Höchstgerichten außerhalb Europas. Zuvor war er als führender Experte für Korruptionsbekämpfung für die GRECO (Staatengruppe gegen Korruption) des Europarats und als Experte für die Rechte von Verbrechensopfern für die Europäische Kommission tätig.
Als ordentlicher Professor an der juristischen Fakultät der Katholischen Universität Portugal in Lissabon hat er unter anderem 23 Bücher in Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Türkisch und Ukrainisch sowie 65 juristische Artikel und Buchkapitel in diesen Sprachen sowie in Chinesisch und Deutsch veröffentlicht. Seit seiner Ernennung zum Richter in Straßburg hat er 157 Gutachten verfasst, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Rechtsgebiets der internationalen Menschenrechte geleistet haben. Die Entscheidungen des Richters werden regelmäßig von Wissenschaftlern und Praktikern in den Bereichen Menschenrechte, Völkerrecht, Strafrecht, Migration und Flüchtlingsrecht zitiert. Für seine Arbeit erhielt er einen Doktortitel honoris causa der englischen Edge Hill University und die Ehrenmedaille der portugiesischen Anwaltskammer.
Teilweise zustimmende und teilweise abweichende Ansicht des Richters Paulo Pinto de Albuquerque
I. Einleitung
II. Dekonstruktion der pro-autoritate-Regelung des EGMR zur Massenüberwachung (2-18)
A. Schwammige Sprache (2-3)
B. Voreingenommene Methodik (4-12)
C. Unzureichendes Schutzsystem (13-15)
D. Vorläufige Schlussfolgerung (16-18)
III. Konstruktion einer pro-persona-Regelung zur Massenüberwachung (19-34)
A. Massenüberwachung von Kommunikation (19-29)
B. Austausch von Abhördaten mit ausländischen Geheimdiensten (30-31)
C. Massenüberwachung zugehöriger Kommunikationsdaten (32)
D. Vorläufige Schlussfolgerung (33-34)
IV. Kritik an der beanstandeten britischen Regelung zur Massenüberwachung (35-58)
A. Massenüberwachung von Kommunikation nach RIPA (35-49)
B. Austausch von Abhördaten mit ausländischen Geheimdiensten (50-54)
C. Massenüberwachung zugehöriger Kommunikationsdaten nach RIPA (55-57)
D. Vorläufige Schlussfolgerung (58)
V. Fazit
I. Einleitung
1. Ich habe mit der Mehrheit der Richter gestimmt, mit Ausnahme der Feststellung, dass in Bezug auf den Erhalt von abgehörtem Material von ausländischen Geheimdiensten kein Verstoß gegen die Artikel 8 und 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegt, also bei Daten aus der Massenüberwachung der National Security Agency (NSA) der Vereinigten Staaten im Rahmen der Programme PRISM und Upstream. Darüber hinaus stimme ich nicht mit dem Kern der Argumentation der Mehrheit hinsichtlich der Feststellung eines Verstoßes gegen die Artikel 8 und 10 überein. Der Zweck dieser Stellungnahme ist es, die Gründe für meine abweichende Meinung darzulegen.[9]
II. Dekonstruktion der pro-autoritate-Regelung des EGMR zur Massenüberwachung
A. Schwammige Sprache
2. Ich bedaure, gleich zu Beginn feststellen zu müssen, dass die Formulierungen des Gerichtshofs unzulässig vage sind, wie ich im weiteren Verlauf dieser Stellungnahme zeigen werde. Während diese Formulierungen einerseits die bewusste Absicht des Gerichtshofs widerspiegeln, dem beklagten britischen Staat einen Ermessensspielraum bei der Umsetzung des Urteils einzuräumen, zeigen sie andererseits das Zögern der Richter bei der Ausübung ihrer Rechtsprechungsfunktion. Damit schwächen sie nicht nur die Autorität des Gerichtshofs, sondern verwässern auch die Wirkung des Urteils, hier neue Standards zu setzen.
3. Da die Rechtsbegriffe des europäischen Menschenrechts in dem Sinne autonom sind, dass sie nicht strikt von der Bedeutung und Reichweite der entsprechenden innerstaatlichen Rechtsbegriffe abhängen, und in Anbetracht des neuartigen Charakters der Rechtsfragen, um die es in der vorliegenden Rechtssache der Großen Kammer geht, hätte der Gerichtshof die Bedeutung der grundlegenden im vorliegenden Urteil verwendeten Rechtsbegriffe schwarz auf weiß festlegen müssen,[10] und zwar unabhängig von ihrer Bedeutung im Gesetz RIPA (Regulation of Investigatory Powers Act 2000), im Interception of Communications Code of Practice (IC Code) oder in irgendwelchen Regelungen „unterhalb der Wasseroberfläche“, also in geheimdienstinternen Abmachungen. Aus Gründen der begrifflichen Klarheit verwende ich die nachstehend aufgeführten Begriffe mit der folgenden Bedeutung:
- (a) Der Begriff „zu überwachende Person“ umfasst natürliche und juristische Personen, einschließlich öffentlicher Verwaltung, privater Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen und aller Organisationen der Zivilgesellschaft, deren elektronische Kommunikation überwacht werden kann oder bereits überwacht wurde;[11]
- (b) „abgehörtes Material“ oder „massenhaftes Material“, um den Inhalt der elektronischen Kommunikation und der zugehörigen Kommunikationsdaten zu erfassen, die durch Massenüberwachung gesammelt wurden;[12]
- (c) „zugehörige Kommunikationsdaten“ sind die Daten, die erforderlich sind, um die Quelle einer elektronischen Kommunikation und ihr Ziel zu ermitteln, das Datum, die Uhrzeit, die Dauer und die Art der Kommunikation zu bestimmen, die verwendeten Kommunikationsgeräte zu identifizieren und das Endgerät und die Kommunikation zu lokalisieren, Daten, die unter anderem den Namen und die Adresse des Nutzers, die Telefonnummern des Anrufers und des Angerufenen sowie die IP-Adresse für Internetdienste umfassen;[13]
- (d) „Massenüberwachung“ als gezieltes und ungezieltes Abfangen elektronischer Kommunikation (und zugehöriger Kommunikationsdaten) auf Leitungskabeln unter Einsatz von starken Selektoren und Selektoren;
- (e) „Träger“ als Überbringer (in erster Linie Unterwasser-Glasfaserkabel) der elektronischen Kommunikation;
- (f) „starke Selektoren“ als spezifische (personenbezogene) Identifikatoren einer identifizierten oder identifizierbaren Zielperson, die eine Erfassung elektronischer Kommunikation an, von oder über die Zielperson ermöglichen;
- (g) „Selektoren“ als unspezifische (nicht personenbezogene) Identifikatoren;
- (h) eine „an“- oder „von“-Kommunikation als eine elektronische Kommunikation, bei der der Absender oder ein Empfänger ein Benutzer des zugewiesenen Selektors ist;
- (i) eine „darüber“-Kommunikation als eine Kommunikation, in der der zugewiesene Selektor in der erlangten elektronischen Kommunikation erwähnt wird, die Zielperson aber nicht unbedingt ein Teilnehmer der Kommunikation ist;
- (j) „externe Kommunikation“ als außerhalb des nationalen Hoheitsgebiets gesendete oder empfangene Kommunikation;[14]
- (k) „Kommunikation“ als alles, was Sprache, Musik, Töne, visuelle Bilder oder Daten jeglicher Art sowie Signale umfasst, die entweder zur Übermittlung von etwas zwischen Personen, zwischen einer Person und einer Sache oder zwischen Sachen oder zur Betätigung oder Steuerung von Geräten dienen;[15]
- (l) „Absprachen unterhalb der Wasseroberfläche“ als geheime interne Regeln und Praktiken der abhörenden Behörde.
B. Voreingenommene Methodik
4. Das methodische Vorgehen des Gerichtshofs in dieser Rechtssache ist aus zwei wesentlichen Gründen bedauerlich. Erstens war der Gerichtshof bereit, einen Fall von dieser Tragweite „auf der Grundlage begrenzter Informationen über die Funktionsweise dieser Regelungen [der Vertragsstaaten zur Massenüberwachung] zu entscheiden“[16]. So gab die Regierung beispielsweise weder die Anzahl noch den Präzisionsgrad der von ihr eingesetzten Selektoren an, auch nicht die Anzahl der abgehörten Träger oder wie genau diese Träger ausgewählt wurden oder die Art der geheimdienstlichen Berichte, die in Bezug auf die entsprechenden Kommunikationsdaten erstellt wurden. Dennoch bestand das Gericht nicht auf der Einholung dieser entscheidenden Informationen.
Das britische Gericht Investigatory Powers Tribunal (IPT) untersuchte Absprachen „unterhalb der Wasseroberfläche“[17], der britische Beauftragte für die Überwachung der Kommunikation (IC Commissioner) hatte Zugang zu „geheimem Material“[18] und sogar der britische Prüfer der Terrorismusgesetzgebung (Independent Reviewer of Terrorism legislation) untersuchte „eine große Menge geheimen Materials“[19], während der Gerichtshof dies eben nicht tat und auch nicht tun konnte. Dem Gerichtshof fehlte offensichtlich das detaillierte Material, das erforderlich gewesen wäre, um eine vollständige strukturelle Analyse und Bewertung der Massenüberwachung im Vereinigten Königreich vorzunehmen.
Es ist enttäuschend, dass die vom Gerichtshof wiederholt betonte äußerste Sensibilität des Urteilsgegenstandes nur dazu diente, auf der Notwendigkeit der „Wirksamkeit“[20] und „Flexibilität“[21] des Systems der Massenüberwachung zu bestehen, nicht aber dazu, alle relevanten Beweise zu sammeln, die für ein faktenbasiertes Urteil des Gerichtshofs erforderlich gewesen wären. Diese selbst auferlegte Beschränkung der Befugnis des Gerichtshofs zur Beweiserhebung zeigt, dass die Straßburger Richter den Gerichtshof nicht als ein wirkliches (wahrhaftiges) Rechtsorgan betrachten, mit der Befugnis, die Verfahrensbeteiligten anzuweisen, ihm uneingeschränkten und bedingungslosen Zugang zu den für den Streitgegenstand relevanten Beweisen zu gewähren.
Demzufolge stellte der Gerichtshof einige „begründete Vermutungen“ über das mutmaßliche Ausmaß des Eingriffs in die Rechte von Personen in verschiedenen Phasen des Abhörprozesses an. Das Problem, Regulierungsstandards auf Grundlage solcher „begründeter Vermutungen“ zu entwickeln, besteht darin, dass diese die Annahmen und Einstellungen der betroffenen Institutionen widerspiegeln. Und diese sind im vorliegenden Fall eindeutig. Die Argumentation der Regierung läuft auf einen einfachen Vorschlag hinaus: „Vertraut uns“. Die Mehrheit war bereit, diesen Vorschlag zu akzeptieren, mit dem Risiko, sich auf die Seite des übermäßigen Sammelns von Informationen zu schlagen.
Ich bin es nicht. Wie der Prüfungsausschuss des US-Präsidenten es ausdrückte, „dürfen Amerikaner nicht den Fehler machen, Beamten zu vertrauen“[22]. Ich würde dasselbe für Europäer sagen.
5. Zweitens führt die oben erwähnte selbst auferlegte Einschränkung der Beweisführung und der Rechtsprechung dazu, dass der Gerichtshof von der Unvermeidbarkeit der Massenüberwachung und mehr noch von der Unvermeidbarkeit einer pauschalen, nicht zielgerichteten, verdachtsunabhängigen Überwachung ausgeht, wie sie vom beklagten britischen Staat und Dritten sowohl in der vorliegenden Rechtssache als auch in der Rechtssache „Centrum för rättvisa v. Sweden“[23] geltend gemacht wird. Mit einer zirkulären Argumentation bekräftigte die Regierung, dass die Massenüberwachung mit dem Erfordernis des hinreichenden Verdachts unvereinbar sei, da sie per definitionem nicht zielgerichtet sei, und sie sei nicht zielgerichtet, weil sie keinen hinreichenden Verdacht erfordere.[24] Der Gerichtshof folgte diesem Beispiel und formulierte es in axiomatischen Worten: „Das Erfordernis eines ‚hinreichenden Verdachts‘, das sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur gezielten Überwachung im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen findet, ist im Zusammenhang mit der Massenüberwachung, deren Zweck grundsätzlich präventiv und nicht zur Ermittlung eines bestimmten Ziels und/oder einer identifizierbaren Straftat ist, weniger relevant.“[25]
Aus diesem neuen Paradigma folgt, dass der Gerichtshof von seiner ständigen Rechtsprechung abgewichen ist, nach der er „keinen Grund für die Anwendung unterschiedlicher Grundsätze in Bezug auf die Zugänglichkeit und Klarheit der Vorschriften für die Überwachung einzelner Kommunikationsvorgänge einerseits und allgemeinerer Überwachungsprogramme andererseits“[26] sah. Sowohl das deutsche als auch das britische System der Massenüberwachung wurden vom Gerichtshof bereits nach genau denselben Kriterien beurteilt, die für die gezielte Überwachung gelten: Ich beziehe mich auf die allgemeine strategische Überwachung nach dem deutschen G10-Gesetz in „Weber and Saravia v. Germany“[27] und auf die wahllose Erfassung von Telekommunikation außerhalb der Britischen Inseln nach dem Gesetz über die Überwachung der Kommunikation (Interception of Communications Act 1985) in „Liberty and Others v. the United Kingdom“[28] sowie die Erfassung großer Mengen interner Kommunikation nach dem Gesetz über Ermittlungsbefugnisse (Regulation of Investigatory Powers Act 2000) in „Kennedy v. the United Kingdom“[29]. Der Gerichtshof ist von den Grundlagen dieser Rechtsprechung ohne guten Grund abgewichen, wie ich im Folgenden zeigen werde.
6. Darüber hinaus hat der Gerichtshof die Tatsache nicht angemessen berücksichtigt, dass er die frühere Rechtsprechung in drei neueren Rechtssachen, deren Gegenstand in einem Fall indirekt und in den beiden anderen spezifisch die nicht zielgerichtete Überwachung des Fernmeldeverkehrs war, erneut bekräftigt und effektiv angewandt hat. Ich beziehe mich auf „Roman Zakharov v. Russia“[30], „Szábo and Vissy v. Hungary“[31] und „Mustafa Sezgin Tanrıkulu v. Turkey“[32]. Es ist bezeichnend, dass in der Rechtssache „Roman Zakharov v. Russia“[33] auch die Kriterien von „Weber und Saravia“ herangezogen wurden, als es um operative Durchsuchungsmaßnahmen ging, einschließlich der Beeinträchtigung der Post-, Telegraphen- und sonstigen Kommunikation, die „jede Person, die diese Mobilfunkdienste nutzt“[34], für die Zwecke der nationalen, militärischen, wirtschaftlichen oder ökologischen Sicherheit[35] betreffen könnte.
Die Große Kammer ging in dieser Rechtssache so weit, dass sie die Praxis rügte von „Abhörgenehmigungen, die keine bestimmte Person oder Telefonnummer nennen, die abgehört werden soll, sondern die Überwachung des gesamten Telefonverkehrs in dem Gebiet genehmigen, in dem eine Straftat begangen wurde“[36]. In der Rechtssache „Szábo and Vissy v. Hungary“[37] verurteilte der Gerichtshof sogar noch deutlicher die „unbegrenzte Überwachung einer großen Zahl von Bürgern“[38] zu Zwecken der Terrorismusbekämpfung und der Rettung ungarischer Staatsbürger in Not im Ausland[39]. Der Gerichtshof räumte zwar die Notwendigkeit der Massenüberwachung zur Abwehr interner und externer Bedrohungen ein, verlangte aber für jede Überwachungsmaßnahme einen „individuellen Verdacht“[40] im Lichte der Kriterien von „Weber und Saravia“[41]. In der darauffolgenden Rechtssache „Mustafa Sezgin Tanrıkulu v. Turkey“[42] rügte der Gerichtshof die Entscheidung des inländischen Gerichts, die Überwachung der telefonischen und elektronischen Kommunikation aller Personen in der Türkei zum Zwecke der Verhinderung von Straftaten terroristischer Organisationen zuzulassen, nachdem er die Rechtsprechung in den Rechtssachen „Weber und Saravia“, „Roman Zakharov“ sowie „Szábo und Vissy“ in Erinnerung gerufen und bestätigt hatte.
7. Neben der Behauptung, dass „beide Rechtssachen [‚Liberty und andere‘ sowie ‚Weber und Saravia‘] inzwischen mehr als zehn Jahre alt sind“ und die in diesen Rechtssachen betrachtete Überwachungstätigkeit „viel enger“[43] war, führte der Gerichtshof drei Gründe an, um die frühere Rechtsprechung aufzugeben[44] – alle sachlich nicht stichhaltig.
8. Das erste Argument ist, dass der „erklärte Zweck“ der Massenüberwachung „in vielen Fällen“ darin bestünde, die Kommunikation von Personen außerhalb des Hoheitsgebiets des Staates zu überwachen, „die durch andere Formen der Überwachung nicht überwacht werden könnten“[45]. Der Gerichtshof hat keinerlei Beweise dafür vorgelegt und konnte sie auch nicht vorlegen, dass die Massenüberwachung „in vielen Fällen“ in Bezug auf den „erklärten Zweck“ und erst recht nicht in Bezug auf die tatsächliche Praxis auf Personen außerhalb des Hoheitsgebiets des britischen Staates beschränkt ist. Im Gegenteil, alle verfügbaren maßgeblichen Dokumente zur Massenüberwachung, die der Gerichtshof ignoriert hat, sprechen eine andere Sprache.
Es ist unverständlich, dass der Gerichtshof angesichts des Mangels an Beweisen, die von der beklagten britischen Regierung vorgelegt wurden, die Augen vor den Tatsachenbewertungen des Europarats und der Europäischen Union verschlossen hat, die in einer Fülle von maßgeblichen Dokumenten über Massenüberwachung öffentlich zugänglich sind, die nach dem Ausbruch des Snowden-Skandals veröffentlicht wurden.
Das sind zum Beispiel die Entschließungen 1954 (2013) und 2045 (2015) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) und die Empfehlung 2067 (2015), die Erklärung des Ministerkomitees vom 11. Juni 2013 und seine Antwort auf die PACE-Empfehlung 2067 (2015), die allgemeine politische Empfehlung Nr. 11 der Europäischen Kommission gegen Rassismus, die Stellungnahme des Menschenrechtskommissars vom 24. Oktober 2013, seine Themenpapiere vom 8. Dezember 2014 und Mai 2015 sowie sein Bericht über die Mängel bei der Aufsicht über die deutschen Geheimdienste vom 1. Oktober 2015, die Entschließungen des Europäischen Parlaments vom 12. März 2014 und 29. Oktober 2015, die Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten vom 20. Februar 2014 und die Stellungnahme der Artikel-29-Datenschutzgruppe 4/2014. Er vernachlässigte auch die Resolution 68/167 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 18. Dezember 2013, die abschließenden Bemerkungen des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen (HRC) zum vierten Bericht der USA vom 26. März 2014 sowie die gemeinsame Stellungnahme des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen und der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte vom 21. Juni 2013.[46]
Am erstaunlichsten ist, dass die Mehrheit nicht einmal die verfügbaren internationalen maßgeblichen Dokumente über das britische Massenabhörsystem berücksichtigt hat, wie die Abschlussbemerkungen des Menschenrechtsrates zum siebten Bericht des Vereinigten Königreichs vom 17. August 2015[47] und das Memorandum des Menschenrechtskommissars des Europarates über Überwachungs- und Aufsichtsmechanismen im Vereinigten Königreich vom Mai 2016[48].
9. All diese Dokumente sowie die jüngsten Urteile des Gerichtshofs in „Szábo und Vissy“[49] und „Mustafa Sezgin Tanrıkulu v. Turkey“[50] und die einschlägige Rechtsprechung des EuGH[51] widersprechen der behaupteten weiten Verbreitung der Überwachung von Personen außerhalb der territorialen Zuständigkeit des Staates. Im Gegenteil, diese Behörden bestätigen, dass sich die Massenüberwachung hauptsächlich auf Personen innerhalb der territorialen Zuständigkeit des Staates bezieht.[52] Die britische Regierung hat selbst eingeräumt, dass die Zahl der Abfragen zugehöriger Kommunikationsdaten gemäß Abschnitt 8(4) des RIPA in Bezug auf Personen, von denen bekannt ist, dass sie sich im Vereinigten Königreich aufhalten – also als internes Überwachungsinstrument –, bis zu mehreren Tausend pro Woche beträgt.[53]
10. Das zweite Argument, das von der bisherigen Rechtsprechung abweicht, ist, dass die Mitgliedstaaten des Europarats die Massenüberwachung zu anderen Zwecken als Verbrechensaufklärung „einzusetzen scheinen“[54]. Die Argumentation des Gerichtshofs scheint folgende zu sein: Da die gezielte Überwachung innerhalb der Massenüberwachung „größtenteils“[55] zum Zwecke der Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten eingesetzt wird, die Massenüberwachung aber auch zum Zwecke der Sammlung ausländischer geheimdienstlicher Erkenntnisse verwendet werden könnte, bei der es möglicherweise weder ein spezifisches Ziel noch eine identifizierbare Straftat gibt, ist die Massenüberwachung nicht durch die gleichen Standards wie die gezielte Überwachung geregelt (und sollte sie auch nicht sein).[56] Dies ist ein weiteres unbewiesenes Argument des Gerichtshofs, der sich entschieden hat, auf der Grundlage des Anscheins und nicht der Fakten zu entscheiden.
11. In Wirklichkeit ist die nicht zielgerichtete Massenüberwachung in dreiundzwanzig europäischen Staaten explizit oder implizit verboten.[57] Wie die Parlamentarische Versammlung des Europarates[58] (PACE) und der Menschenrechtskommissar des Europarats[59] mit Nachdruck dargelegt haben, hat sich die wahllose Massenüberwachung der Kommunikation als unwirksam für die Terrorismusprävention erwiesen und ist daher nicht nur gefährlich für den Schutz der Menschenrechte, sondern auch eine Verschwendung von Ressourcen. Wenn es also in Europa einen Konsens über die nicht zielgerichtete Massenüberwachung gibt, dann den, dass sie verboten werden sollte, was der Gerichtshof jedoch ignoriert hat.
Nur sieben Mitgliedstaaten des Europarats betreiben solche Systeme,[60] und sie tun dies hauptsächlich zur Verhütung, Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten wie Terrorismus, Spionage, Cyberangriffen und, etwas vager, „schweren Straftaten“[61], wie die oben erwähnten maßgeblichen Dokumente des Europarats und der Europäischen Union, die Urteile „Szábo und Vissy“ sowie „Mustafa Sezgin Tanrıkulu“ des Gerichtshofs und die einschlägige Rechtsprechung des EuGH zeigen. Die Sammlung ausländischer geheimdienstlicher Erkenntnisse ist nur einer von mehreren Zwecken, und der Gerichtshof verfügt nicht über das Mindeste an statistischen oder sonstigen Belegen dafür, wie dieser Zweck verfolgt wird, sei es auf der Grundlage der Überwachung bestimmter Ziele oder auf andere Weise.
Selbst wenn man der Erörterung halber einmal annimmt, dass die Sammlung ausländischer geheimdienstlicher Erkenntnisse hauptsächlich durch nicht zielgerichtete Massenüberwachung erfolgt, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass alle Massenüberwachungen, einschließlich der Massenüberwachung zu Zwecken der Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten, nicht zielgerichtet sein sollten. Andernfalls wird die Massenüberwachung zu einem Schlupfloch, um den Schutz einer individuellen Anordnung zu umgehen, wenn eine solche Anordnung aber perfekt geeignet wäre, die fragliche Kommunikation zu erfassen. Nichtsdestotrotz schließt nichts die Möglichkeit aus, dass die Auslandsaufklärung selbst mittels Massenüberwachung verfolgt werden kann, wenn der begründete Verdacht besteht, dass die Zielperson oder die Gruppe von Personen an Aktivitäten beteiligt ist, die der nationalen Sicherheit schaden, selbst wenn es sich nicht um Straftaten handelt.[62]
12. Das dritte Argument betrifft genau diesen schmalen Grat zwischen der herkömmlichen gezielten Überwachung und den neuen Formen der Massenüberwachung, die zur gezielten Überwachung bestimmter Personen eingesetzt werden, und es ist das schwächste Argument des Gerichtshofs. Im Falle der Überwachung durch starke Selektoren argumentiert der Gerichtshof, dass „die Geräte der Zielpersonen nicht überwacht“[63] würden und daher die Massenüberwachung nicht dieselben Garantien erfordere wie die klassische gezielte Überwachung. Dies ist nicht überzeugend. Die automatische Erfassung und Verarbeitung mittels starker Selektoren, die das Erfassen elektronischer Kommunikation an, von oder über die Zielperson über die von den Geheimdiensten ausgewählten Träger ermöglichen, ist eine potenziell viel einschneidendere Form des Eingriffs in die Rechte nach Artikel 8 als die bloße Überwachung der Geräte der Zielpersonen.[64] Es ist daher irreführend zu sagen, dass „nur“ (§ 346) die Kommunikationspakete der Zielpersonen abgefangen werden, was den Eindruck erweckt, dass die Massenüberwachung auf der Grundlage starker Selektoren weniger eingreifend ist als die herkömmliche Überwachung der Geräte einer Person.
C. Unzureichendes Schutzsystem
13. Aus dieser faktisch unbegründeten Argumentation zog der Gerichtshof zwei rechtliche Schlussfolgerungen für „den in Fällen der Massenüberwachung zu verfolgenden Ansatz“[65]: Das innerstaatliche Recht muss die Art der Straftaten, die zu einer Abhöranordnung führen können, und die Kategorien von Personen, deren Kommunikation abgehört werden kann, nicht festlegen, und es ist kein hinreichender Verdacht erforderlich, um eine solche Abhöranordnung zu begründen.[66] Nach der Logik des Gerichtshofs ist, da „der Zweck [der Massenüberwachung] prinzipiell präventiv ist und nicht der Ermittlung eines bestimmten Ziels und/oder einer identifizierbaren Straftat dient“[67], keine der beiden oben genannten Schutzklauseln im innerstaatlichen Recht erforderlich, selbst wenn die Massenüberwachung auf eine bestimmte Person abzielt, die an einer identifizierbaren Straftat beteiligt ist. Somit reicht eine allgemeine verdachtsunabhängige Überwachungsanordnung aus, um eine Massenüberwachung auszulösen, sei es zum Zwecke der Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten oder zu anderen Zwecken.
14. Der Standpunkt des Gerichtshofs lässt viele Fragen unbeantwortet. Welches sind die zulässigen Gründe für eine Massenüberwachung? Ist zum Beispiel die Untersuchung von „schweren Straftaten“ ohne weitere Präzisierung ein zulässiger Grund? Wie schwer muss die zu untersuchende Straftat sein? Ist die Untersuchung des Diebstahls einer Brieftasche und eines Mobiltelefons ein zulässiger Grund?[68] Ist die Förderung von Wirtschafts- und Industriespionage im Interesse des wirtschaftlichen Wohlergehens und der nationalen Sicherheit des abhörenden Staates ein zulässiger Grund?[69] Unter welchen „Umständen“ darf die Kommunikation einer Person abgehört werden? Welcher Grad des Interesses an der Kommunikation des Einzelnen für die mit der Anordnung der Massenüberwachung verfolgten Zwecke ist erforderlich, um die Massenüberwachung der Kommunikation einer Person zu rechtfertigen? Handelt es sich um den in „Szábo und Vissy“[70] genannten Standard des individuellen Verdachts oder um das in „Roman Zakharov“[71] geforderte Kriterium des hinreichenden Verdachts? Wie kann der Gerichtshof verlangen, dass das innerstaatliche Recht „mit hinreichender Klarheit“[72] die Gründe festlegt, aus denen eine Massenüberwachung genehmigt werden kann, und die Umstände, unter denen die Kommunikation einer Person überwacht werden kann, wenn der Gerichtshof selbst nicht hinreichend klar darlegt, auf welche Art von „Gründen“ und „Umständen“ er sich bezieht?
15. Da Artikel 8 der Menschenrechtskonvention für alle Formen der Massenüberwachung einschlägig ist, einschließlich der anfänglichen Vorratsspeicherung der Nachrichten und zugehörigen Kommunikationsdaten,[73] hat der Gerichtshof richtigerweise einen „Ende-zu-Ende-Schutz“[74] etabliert. Das Problem besteht darin, dass der Gerichtshof die Rechtsnatur dieses „Ende-zu-Ende-Schutzes“ nicht klar definiert hat. Einerseits hat er zwingende Formulierungen verwendet („sollte erfolgen“[75], „sollte Gegenstand sein“[76], „sollte genehmigt werden“[77], „sollte informiert werden“[78], „muss gerechtfertigt sein“[79] und „sollte gewissenhaft aufgezeichnet werden“[80], „sollte auch Gegenstand sein“[81], „es ist zwingend erforderlich, dass der Rechtsbehelf erfolgt“[82]) und hat sie als „grundlegenden Schutz“[83] und sogar als „Mindestschutz“[84] bezeichnet. Andererseits hat er diesen Schutz in einer „Gesamtbewertung der Funktionsweise der Regelung“[85] verwässert und Kompromisse beim Schutz zugelassen.[86]
Es scheint, dass letzten Endes keine einzelne Schutzklausel zwingend ist, und die vorschreibende Sprache des Gerichtshofs entspricht nicht wirklich den nicht verhandelbaren Merkmalen des nationalen Systems. In einigen Ecken Europas werden eifrige Geheimdienste in großer Versuchung sein, die sehr laxe Art und Weise, mit welcher der Gerichtshof rechtliche Standards formuliert, auszunutzen, wobei unschuldige Menschen früher oder später den Preis dafür zahlen werden.
D. Vorläufige Schlussfolgerung
16. Nach Ansicht des Gerichtshofs muss eine unabhängige, also von der Exekutive unabhängige Behörde[87] zunächst den Zweck der Überwachung, die Auswahl der Träger[88] und die Kategorien der Selektoren[89] vor dem Hintergrund der Grundsätze der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit bewerten. Die Wahl starker Selektoren, die an identifizierbare Personen gebunden sind, ist besonders problematisch, da die Auswahl und der „Einsatz jedes solchen starken Selektors“[90] keiner vorherigen unabhängigen Genehmigung bedarf. Nach Ansicht des Gerichtshofs reicht in diesem Fall eine interne Genehmigung aus, verbunden mit der Garantie, dass die Anforderung eines starken Selektors gerechtfertigt ist und der interne Prozess „gewissenhaft“ aufgezeichnet wird.[91]
17. Darüber hinaus sollen die Ausführung der Überwachungsanordnung, einschließlich ihrer späteren Verlängerungen, sowie die Verwendung, Speicherung, Weiterleitung und Löschung der erlangten Daten von einer von der Exekutive unabhängigen Behörde überwacht werden, wobei zur Unterstützung dieser Überwachung in jeder Phase des Verfahrens detaillierte Aufzeichnungen geführt werden sollen.[92]
18. Schließlich soll die nachträgliche Überprüfung des gesamten Prozesses von einer von der Exekutive unabhängigen Behörde in einem fairen und kontradiktorischen Verfahren durchgeführt werden, mit verbindlichen Befugnissen zur Anordnung der Beendigung unrechtmäßiger Abhörmaßnahmen und der Vernichtung unrechtmäßig erlangter oder gespeicherter Daten sowie veralteter, zweifelhafter oder überflüssiger Daten.[93]
III. Konstruktion einer pro-persona-Regelung zur Massenüberwachung
A. Massenüberwachung von Kommunikation
19. Mir scheint, dass die oben genannte Regelung nicht zu einer ausreichenden Sicherstellung der Rechte aus den Artikeln 8 und 10 führt. Meiner Ansicht nach ist die Zeit reif, auf die Grundsätze der richterlichen Genehmigung, Überwachung und nachträglichen Kontrolle im Bereich der Massenüberwachung nicht zu verzichten.[94] Die richterliche Ende-zu-Ende-Kontrolle der Massenüberwachung ist schon aufgrund des extrem eingreifenden Charakters dieses Verfahrens prinzipiell gerechtfertigt. Es erschließt sich mir nicht, warum ein Rechtsstaat seinen amtierenden Richtern, nicht zuletzt seine älteren und erfahreneren Richter, nicht zutrauen sollte, über solche Fragen zu entscheiden. Es sei denn, der Gerichtshof glaubt, dass justizähnliche Einrichtungen unabhängiger sind als ordentliche Gerichte …
Meines Erachtens ist die Unabhängigkeit von justizähnlichen Einrichtungen nicht zwangsläufig gegeben. Wenn außerdem die ordentlichen Gerichte für die Genehmigung, Beaufsichtigung und Prüfung der Überwachung der Kommunikation in hochkomplexen Strafverfahren, wie zum Beispiel Ermittlungen gegen das Organisierte Verbrechen und den Terrorismus, zuständig sind, verstehe ich nicht, warum sie nicht in der Lage sein sollten, genau dieselbe Funktion in Bezug auf den Betrieb eines Massenüberwachungssystems auszuüben. Daher sollten weder die Unabhängigkeit noch die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte in Frage gestellt werden, wenn es darum geht, eine konventionskonforme Struktur von Schutzvorkehrungen in einer Massenüberwachung aufzubauen. Ein Staat, der glaubt, dass seine amtierende Justiz nicht in der Lage ist, diese Aufgaben zu erfüllen, hat ein ernstes Problem mit der Rechtsstaatlichkeit.
20. Sicherlich sollte ein gerichtliches Eingreifen kein Allheilmittel sein.[95] Es liegt auf der Hand, dass die gerichtliche Kontrolle des gesamten Prozesses sinnlos wäre, wenn die Kategorien der zu überwachenden Straftaten und Tätigkeiten sowie die zu überwachenden Personen nicht mit der notwendigen Klarheit und Präzision im innerstaatlichen Recht festgelegt wären. Folglich muss die gerichtliche Kontrolle auch die Auswahl der spezifischen Träger und starken Selektoren umfassen. Mit „spezifisch“ meine ich die einzelnen Leitungskabel als Träger und die starken Selektoren, nicht etwa „Arten“ oder „Kategorien“ davon, was für die abhörende Behörde ein Blankoscheck wäre, mit dem sie sich aussuchen kann, was ihr gefällt.
21. Im Falle eines Vier-Augen-Systems, bei dem der Richter Anordnungen prüft, die zuvor von einem Politiker oder einem Regierungsbeamten beschlossen wurden, darf sich die richterliche Kontrolle nicht auf die Möglichkeit beschränken, deren Entscheidung aufzuheben, wenn der Richter der Ansicht ist, dass der Politiker oder Regierungsbeamte irrational gehandelt hat. Dies wäre keine wirkliche richterliche Ermächtigung, da die in der Menschenrechtskonvention geforderten Prüfungen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit anspruchsvoller sind als eine bloße Irrationalitätsprüfung.
22. Wie ich in „Szábo und Vissy“ erwähnt habe, erlaubt die Menschenrechtskonvention kein „Datenfischen“ und keine „Sondierungsexpeditionen“, weder in Form einer nicht zielgerichteten Überwachung auf der Grundlage unspezifischer Selektoren noch in Form einer Überwachung auf der Grundlage starker Selektoren, die auf Kommunikation über die überwachte Person abzielt. Es ist auch nicht zulässig, das Netz der überwachten Personen durch den Einsatz unschärferer Suchbegriffe zu erweitern.[96]
Ich möchte den wesentlichen Grund in Erinnerung rufen, warum ich zu dieser Schlussfolgerung gekommen bin: Das Zulassen der nicht zielgerichteten Massenüberwachung bedeutet einen grundlegenden Wandel in der Art und Weise, wie wir die Verbrechensverhütung, die Ermittlungen und die Sammlung geheimdienstlicher Erkenntnisse in Europa betrachten, weg von der Ausrichtung auf einen Verdächtigen, der identifiziert werden kann, hin zur Behandlung aller Menschen als potenzielle Verdächtige, deren Daten gespeichert, analysiert und charakterisiert werden müssen.[97] Natürlich könnten die Auswirkungen eines solchen Wandels auf Unschuldige durch einen Jahrgang mehr oder weniger flexibler Richter und Regulierungsbehörden und eine Fülle mehr oder weniger zweckmäßiger Gesetze und Verfahrensregeln gemildert werden, aber eine Gesellschaft, die auf solchen Grundlagen aufgebaut ist, ähnelt eher einem Polizeistaat als einer demokratischen Gesellschaft. Es wäre das Gegenteil von dem, was die Gründerväter für Europa wollten, als sie 1950 die Menschenrechtskonvention unterzeichneten.
23. Daher muss jedes Ziel einer Überwachung immer auf der Grundlage eines begründeten Verdachts identifiziert oder identifizierbar sein. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, sollte die Massenüberwachung nur auf Grundlage starker Selektoren zulässig sein, die auf die Kommunikation von und zu der zu überwachenden Person abzielen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass diese Person in die rechtlich definierten Kategorien von schweren Straftaten oder Aktivitäten verwickelt ist, die der nationalen Sicherheit schaden, ohne notwendigerweise kriminell zu sein.[98]
24. Die richterliche Anordnung sollte sich auf die Genehmigung der Überwachung der Kommunikation oder zugehöriger Kommunikationsdaten erstrecken, einschließlich privilegierter und vertraulicher Daten, mit der einzigen Ausnahme von dringenden Fällen, in denen der zuständige Richter nicht sofort verfügbar ist; in diesen Fällen kann die Genehmigung von einem Staatsanwalt erteilt werden, vorbehaltlich der späteren Bestätigung durch den zuständigen Richter.
25. Das innerstaatliche Recht sollte eine besondere Schutzregelung für die vertrauliche berufliche Kommunikation von Parlamentariern, Ärzten, Rechtsanwälten und Journalisten vorsehen.[99] Da eine wahllose und verdachtsunabhängige Massenerfassung von Kommunikation den Schutz rechtlich geschützter und vertraulicher Informationen vereiteln würde, kann dies nur durch eine richterliche Genehmigung der Überwachung dieser Kommunikation wirksam gewährleistet werden, wenn Beweise vorgelegt werden, die den begründeten Verdacht stützen, dass diese Berufsangehörigen schwere Straftaten oder Handlungen begangen haben, die der nationalen Sicherheit schaden.[100] Darüber hinaus sollte jede Kommunikation dieser Berufsgruppen, die unter das Berufsgeheimnis fällt, unverzüglich vernichtet werden, wenn sie irrtümlich abgefangen wird. Das innerstaatliche Recht sollte auch ein absolutes Verbot des Abfangens von Kommunikation vorsehen, die unter das Religionsgeheimnis fällt.
26. Die richterliche Aufsicht sollte nicht mit dem Beginn der Überwachung aufhören. Wäre der tatsächliche Betrieb des Abhörsystems der richterlichen Aufsicht entzogen, könnte das anfängliche Eingreifen eines Richters leicht untergraben und jeder tatsächlichen Wirkung beraubt werden, womit es zu einer rein theoretischen, trügerischen Sicherheit würde. Im Gegenteil, der Richter sollte den gesamten Prozess begleiten, mit einer regelmäßigen und aufmerksamen Prüfung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Überwachungsanordnung unter Berücksichtigung der erhaltenen Überwachungsdaten. Ohne eine ständige Rückmeldung durch die abhörende Behörde kann der zuständige Richter nicht wissen, wie die Genehmigung tatsächlich genutzt wird.
Im Falle der Nichteinhaltung der Überwachungsanordnung sollte der Richter die Möglichkeit haben, die sofortige Einstellung der Überwachung und die Vernichtung der unrechtmäßig erlangten Daten anzuordnen. Gleiches sollte für den Fall gelten, dass die Fortsetzung des Vorgangs nicht erforderlich ist, beispielsweise weil die gewonnenen Daten für die Zwecke, die mit der Überwachungsanordnung verfolgt werden, nicht von Interesse sind. Nur ein Richter, der mit der Befugnis ausgestattet ist, solche verbindlichen Entscheidungen zu treffen, kann eine wirksame Garantie für die Rechtmäßigkeit des gespeicherten Materials bieten.
Zusammenfassend sollte der Richter berechtigt sein, eine regelmäßige Überprüfung der Funktionsweise des Systems vorzunehmen, einschließlich aller Aufzeichnungen der Überwachung und der dazugehörigen Verschlusssachen,[101] um nicht erforderliche und unverhältnismäßige Eingriffe in die Rechte nach Artikel 8 und 10 zu vermeiden.
27. Zum Abschluss sollte eine nachträgliche Überprüfung der Anwendung einer Überwachungsanordnung auch durch eine Benachrichtigung der anvisierten Person ausgelöst werden. Wenn der Benachrichtigung der Person, deren Kommunikation abgehört wurde, nichts im Wege steht, würde dieser Person ermöglicht, die Gründe einer solchen Überwachung in einem fairen und kontradiktorischen Gerichtsverfahren anzufechten.[102] Es ist daher – gelinde gesagt – höchst spekulativ, so zu tun, als ob ein System, das nicht auf der Benachrichtigung der zu überwachenden Person beruht, „sogar bessere Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren bieten könne als ein System, das auf der Benachrichtigung beruht“[103]. Niemand kümmert sich mehr um die Interessen der zu überwachenden Person als die betroffene Person selbst.
28. Ist es aus irgendeinem Grund, beispielsweise im Interesse der nationalen Sicherheit, nicht möglich, die Person, deren Kommunikation abgehört wurde, zu benachrichtigen, so besteht realistischerweise keine Möglichkeit, dass diese Person von der in Bezug auf sie getroffenen Überwachungsmaßnahme erfährt. In diesem Fall ist es zwingend erforderlich, dem zuständigen Richter aufzuerlegen, von sich aus (ex proprio motu, aus eigenem Antrieb) oder auf Initiative eines Dritten (etwa eines Staatsanwalts) die Art und Weise der Durchführung der Überwachungsmaßnahme zu beurteilen, um festzustellen, ob die betreffenden Daten rechtmäßig erhoben wurden und aufbewahrt oder vernichtet werden sollten; die zu überwachende Person sollte dann von einem Anwalt für den Schutz der Privatsphäre vertreten werden.
29. Nicht zuletzt sollten die personellen und finanziellen Ressourcen und Kapazitäten für die Überwachung dem Umfang der zu überwachenden Vorgänge entsprechen, da sonst das gesamte System nur eine Fassade ist, die den Ermessensspielraum der Überwachungsbehörden verdeckt.
B. Austausch von Abhördaten mit ausländischen Geheimdiensten
30. Der Gerichtshof hat einen niedrigeren Schutzstandard für die Übermittlung der mittels Massenüberwachung gewonnenen Daten an ausländische Geheimdienste festgelegt. Zum einen besteht für den übermittelnden Staat keine Verpflichtung zu prüfen, ob der Empfängerstaat über ein vergleichbares Maß an Schutz verfügt wie er selbst. Ferner ist es nicht erforderlich, vor jeder Übermittlung die Zusicherung zu verlangen, dass der Empfängerstaat bei der Verarbeitung der Daten Schutzvorkehrungen trifft, die geeignet sind, Missbrauch und unverhältnismäßige Eingriffe zu verhindern.[104] Somit hat der Gerichtshof die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass eine Massenübermittlung von Daten an einen ausländischen Geheimdienst in einem kontinuierlichen, auf einen einzigen Zweck ausgerichteten Prozess erfolgen kann.
In Anbetracht dieses äußerst willkürlichen Rahmens ist nicht klar, woraus die vom Gerichtshof geforderte „unabhängige Kontrolle“ besteht.[105] Was ist der Zweck einer unabhängigen Kontrolle, wenn es nicht erforderlich ist, die vom Empfängerstaat getroffenen Schutzvorkehrungen (auch hinsichtlich seiner Zusicherung, „die sichere Aufbewahrung des Materials zu gewährleisten und seine Weitergabe zu beschränken“[106]) vor jeder Übermittlung zu bewerten? Ist die unabhängige Kontrolle auf Fälle beschränkt, in denen „klar ist, dass Material, das besonderer Vertraulichkeit bedarf – etwa vertrauliches journalistisches Material –, weitergegeben wird“?[107] Für wen sollte dies klar sein, für den übermittelnden Geheimdienst oder für den Richter? Gibt es einen Unterschied zwischen einer unabhängigen Kontrolle und einer unabhängigen Genehmigung? Die vage Formulierung des Gerichtshofs scheint der bewussten Verwässerung der die Übermittlung selbst betreffenden spezifischen Schutzmaßnahmen zu dienen.
31. Weder sehe ich einen Grund für diese Absenkung des Schutzes durch die Konvention im Falle der Weitergabe von Massendaten noch liefert der Gerichtshof einen solchen. Nach den konsolidierten Normen des Europarats und der Europäischen Union sollte die Weitergabe personenbezogener Daten auf Drittländer beschränkt werden, die ein Maß an Schutz gewährleisten, das im Wesentlichen dem innerhalb des Europarats beziehungsweise der Europäischen Union garantierten Maß entspricht.[108] Die gerichtliche Kontrolle sollte hier genauso gründlich sein wie in jedem anderen Fall.
Diese aufmerksame gerichtliche Kontrolle ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn ein Mitgliedstaat des Europarats Daten an einen Drittstaat übermittelt, und zwar aus dem offensichtlichen Grund, dass die künftige Verwendung dieser Daten durch den Drittstaat nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt. Eine solche gerichtliche Kontrolle sollte nicht durch die „Drittparteienregel“ eingeschränkt werden, nach der es einer Geheimdienstbehörde, die Daten von einem ausländischen Geheimdienst erhalten hat, untersagt ist, diese ohne die Zustimmung des Erstanbieters an eine dritte Partei weiterzugeben.[109]
C. Massenüberwachung zugehöriger Kommunikationsdaten
32. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass die Massenüberwachung zugehöriger Kommunikationsdaten ein hohes Potenzial zum tiefen Eindringen in die Privatsphäre hat,[110] es aber versäumt, dafür das gleiche Maß an Schutz zu etablieren.[111] Einerseits verlangt er, dass „die vorgenannten Schutzmaßnahmen [vorhanden sind]“, wobei er sich auf die in Paragraph 361 des Urteils aufgeführten Maßnahmen bezieht, andererseits räumt er ein, dass es im Ermessen der Mitgliedstaaten liegt, welche spezifischen Schutzmaßnahmen im innerstaatlichen Recht verankert werden sollen, da „die Rechtsvorschriften, die […] die Behandlung [zugehöriger Kommunikationsdaten] regeln, nicht notwendigerweise in jeder Hinsicht mit denen identisch sein müssen, die die Behandlung von Inhalten regeln“.[112]
Die schwammige Aussage des Gerichtshofs ist so zweideutig, dass sie den Staaten keine wirkliche Orientierungshilfe darüber bietet, welche der „vorgenannten Schutzmaßnahmen“ – gesetzt den Fall, es gibt solche – für die Massenüberwachung zugehöriger Kommunikationsdaten zwingend vorgeschrieben sind. Folglich mindert die zögerliche Haltung des Gerichtshofs nicht die Gefahr der Erfassung des gesamten sozialen Lebens einer Person, die der Gerichtshof selbst anerkannt hat.
D. Vorläufige Schlussfolgerung
33. Ich stimme nicht zu, dass „Staaten einen weiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung haben, welche Art von Abhörsystem zu diesen Zwecken [zum Schutz der nationalen Sicherheit und anderer wesentlicher nationaler Interessen gegen ernsthafte Bedrohungen von außen] erforderlich ist, [aber] beim Betrieb eines solchen Systems der ihnen eingeräumte Ermessensspielraum enger sein muss“[113]. Wenn die Grenzen des Ermessensspielraums des Staates weit gesteckt sind, hilft auch die strengste Kontrolle des Ermessensspielraums wenig, um Missbrauch zu verhindern. Der Ermessensspielraum muss sowohl für die Ausgestaltung des Systems als auch für seinen Betrieb gleich sein, und dieser Spielraum ist sehr eng, wenn man bedenkt, dass die fraglichen staatlichen Überwachungsbefugnisse tief in die Privatsphäre eingreifen, dass die Gefahr des Missbrauchs dieser Befugnisse naturgemäß groß ist und dass – nicht zu vergessen – auf europäischer Ebene ein Konsens über das Verbot der nicht zielgerichteten Massenüberwachung besteht. Dieses Risiko wird durch einige sicherheitsbesessene Regierungen mit einem unbegrenzten Appetit auf Daten noch verstärkt, die nun über die technologischen Mittel verfügen, die weltweite digitale Kommunikation zu kontrollieren.
34. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bestimmungen im innerstaatlichen Recht hinreichend klar sein müssen, um natürlichen und juristischen Personen[114] einen angemessenen Hinweis auf die zwingenden Bedingungen und die vielschichtigen Verfahren zu geben, nach denen die Behörden befugt sind, auf Massenüberwachung zurückzugreifen; zu diesen Bedingungen und Verfahren gehören die folgenden:[115]
- (a) Die Definition der Gründe, die den Erlass einer Überwachungsanordnung rechtfertigen können, wie beispielsweise: die Aufdeckung von Aktivitäten, die eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen, oder die Verhütung, Aufdeckung oder Untersuchung schwerer Straftaten, wobei die Straftaten, die eine Überwachung auslösen können, entweder einer Liste spezifischer schwerer Straftaten oder allgemein Straftaten entsprechen müssen, die mit einer Freiheitsstrafe von vier oder mehr Jahren geahndet werden.[116]
- (b) Die Definition der zu überwachenden Personen, also der Personen oder Institutionen, deren Kommunikation abgehört werden kann, wie folgend:
- (i) striktes Verbot des Datenfischens oder von Datenexpeditionen zur Entdeckung „unbekannter Unbekannter“, einschließlich jeder Form der nicht zielgerichteten Überwachung auf der Grundlage unspezifischer Selektoren,
- (ii) striktes Verbot der Verwendung starker Selektoren, die auf Kommunikation über die zu überwachende Person abzielen,
- (iii) Zulässigkeit starker Selektoren, die auf die Kommunikation von und zu der zu überwachenden Person abzielen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass die zu überwachende Person an den oben genannten Straftaten oder Aktivitäten beteiligt ist.
- (c) Ein Katalog der Arten der elektronischen Kommunikation, die abgehört werden können, wie Telefon, Telex, Fax, E-Mail, Google-Suche, Surfen im Internet, soziale Medien und Cloud-Speicher.
- (d) Die Einhaltung des Grundsatzes der Erforderlichkeit, der verlangt, dass:
- (i) der Eingriff in die Rechte der zu überwachenden Personen in angemessener Weise den verfolgten Zwecken dienen muss und nicht weiter gehen darf, als es zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist;
- (ii) die Überwachung nur als letztes Mittel gerechtfertigt ist, also wenn keine anderen Mittel zur Erlangung von Beweisen oder Informationen zur Verfügung stehen, wenn sich andere, weniger in die Privatsphäre eingreifende Methoden als erfolglos erwiesen haben oder wenn ausnahmsweise andere, weniger in die Privatsphäre eingreifende Methoden als sehr wahrscheinlich nicht erfolgreich erachtet werden;
- (iii) die Überwachung so gestaltet sein muss, dass sie nach Möglichkeit keine Personen oder Einrichtungen ins Visier nimmt, die nicht für die oben genannten Straftaten oder Tätigkeiten verantwortlich sind; und
- (iv) die Überwachung unverzüglich eingestellt werden muss, sobald sie nicht mehr den verfolgten Zwecken dient.
- (e) Die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der verlangt, dass:
- (i) ein angemessenes Gleichgewicht im Hinblick auf den Widerspruch zwischen den Rechten der zu überwachenden Personen und den verfolgten Zwecken hergestellt werden muss, wobei der Grundsatz gilt, dass die Überwachung umso einschneidender und umfassender sein darf, je schwerwiegender die oben genannten Straftaten oder Tätigkeiten und ihre vergangenen oder künftigen Folgen sind; und
- (ii) in jedem Fall bei der Überwachung sichergestellt werden muss, dass der Wesenskern (oder ein Mindestmaß) der Rechte der zu überwachenden Personen respektiert wird, wie das Recht auf einen Kernbereich der privaten Lebensgestaltung (Intimsphäre) im Falle von natürlichen Personen. Die Überwachung muss eingestellt werden, sobald ersichtlich wird, dass sie in den Kernbereich der privaten Lebensführung eingreift.
- (f) Eine Begrenzung der Dauer der Abhörmaßnahme, die nach einer Bewertung der Ergebnisse der Maßnahme ein- oder mehrmals verlängert werden kann, wobei jedoch in jedem Fall eine Höchstdauer für die gesamte Maßnahme festgelegt wird.
- (g) durchgehende gerichtliche Aufsicht, welche umfasst:
- (i) die Genehmigung zum Abhören, einschließlich der zu überwachenden spezifischen Träger und der zu verwendenden starken Selektoren;
- (ii) die regelmäßige Kontrolle der Durchführung der Überwachungsanordnung in genügend kurzen Abständen, einschließlich der Verlängerung der Dauer der Überwachungsanordnung und der Übermittlung der gewonnenen Daten an Dritte, und
- (iii) eine nachträgliche Überprüfung des Abhörvorgangs und der abgefangenen Daten.
- (h) In dringenden Fällen kann ein Staatsanwalt eine Sonderüberwachung anordnen, die jedoch innerhalb kurzer Zeit von einem Richter bestätigt werden muss.
- (i) Das Verfahren zur Prüfung, Verwendung, Speicherung und Vernichtung der erlangten Daten, mit einer detaillierten Beschreibung des Umfangs der richterlichen Aufsicht während der Durchführungsphase und nach Beendigung der Überwachung sowie der Dokumentation der wichtigsten Schritte der Datenlöschung, soweit dies für die richterliche Aufsicht erforderlich ist.
- (j) Die zu erfüllenden Bedingungen und die zu treffenden Vorkehrungen beim Austausch abgefangener Daten mit ausländischen Nachrichtendiensten lauten wie folgt:
- (i) ein absolutes Verbot der Auslagerung von Überwachungsmaßnahmen zum Zwecke der Umgehung der nationalen Vorschriften;
- (ii) ein absolutes Verbot für eine Geheimdienstbehörde, die Daten von einem ausländischen Geheimdienst erhalten hat, diese ohne die Zustimmung des Urhebers an einen Dritten weiterzugeben, wobei diese Regel den Zugang des inländischen Richters des Empfängerstaates zu den übermittelten Daten nicht beeinträchtigen darf;
- (iii) ein absolutes Verbot des Datenaustauschs mit ausländischen Geheimdiensten, die kein Maß an Schutz gewährleisten, das im Wesentlichen dem durch die Menschenrechtskonvention garantierten gleichwertig ist;
- (iv) ein absolutes Verbot der massenhaften Übermittlung von Daten an einen ausländischen Geheimdienst oder des Empfangs von Daten von einem ausländischen Geheimdienst in einem fortlaufenden, auf einen einzigen Zweck ausgerichteten Prozess;
- (v) eine richterliche Genehmigung vor jeder Übermittlung/Empfang von Daten nach genau denselben Grundsätzen und Regeln der innerstaatlichen Massenüberwachung, einschließlich u. a. der Einhaltung der Grundsätze der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit;
- (vi) diese Regeln betreffen ohne Unterschiede sowohl angeforderte als auch unangeforderte Daten sowie „rohe“ (nicht ausgewertete Rohdaten) und ausgewertete Daten.
- (k) Die Pflicht, die zu überwachende Person zu benachrichtigen, wenn die Überwachung beendet ist, es sei denn, die Interessen der nationalen Sicherheit wären durch eine solche Offenlegung gefährdet. In diesem Fall muss der zuständige Richter befugt sein, von sich aus (ex proprio motu, aus eigenem Antrieb) oder auf Initiative eines Dritten (etwa eines Staatsanwalts) den gesamten Vorgang der Überwachung zu überprüfen, um festzustellen, ob die Daten rechtmäßig erlangt wurden und ob sie aufbewahrt oder vernichtet werden sollten, wobei die zu überwachende Person in diesem Fall von einem Anwalt für den Schutz der Privatsphäre verteidigt wird.
- (l) Besonderer Schutz in Bezug auf die Geheimhaltung der beruflichen Kommunikation von privilegierten Personen wie Parlamentariern, Ärzten, Anwälten, Journalisten und Priestern.
- (m) Die Gewährleistung, dass eine strafrechtliche Verurteilung nicht ausschließlich oder in entscheidendem Maße auf die durch Massenüberwachung erhobenen Beweise gestützt werden kann.
- (n) Diese Grundsätze gelten sowohl für die Überwachung im eigenen Hoheitsgebiet der Vertragspartei als auch für die exterritoriale Überwachung, unabhängig vom Zweck der Überwachung, vom Zustand der Daten (gespeichert oder übertragen) oder vom Besitz der Daten (Daten im Besitz der zu überwachenden Person oder im Besitz eines Diensteanbieters).
- (o) Die Verpflichtung des Staates, die Rechte des Einzelnen zu achten und zu gewährleisten, wird durch die Verpflichtung ergänzt, die Rechte des Einzelnen vor Missbrauch durch nichtstaatliche Akteure, einschließlich Unternehmen, zu schützen.
IV. Kritik an der beanstandeten britischen Regelung zur Massenüberwachung
A. Massenüberwachung von Kommunikation nach RIPA
35. In Anbetracht der obigen Ausführungen habe ich prinzipielle Einwände gegen die Massenüberwachung des Vereinigten Königreichs in der Fassung vom 7. November 2017, also vor dem vollständigen Inkrafttreten des Investigatory Powers Act 2016 (IPA), die weit über die dürftige Infragestellung durch die Große Kammer hinausgehen.[117]
36. Der Zweck der Massenüberwachung zur Aufdeckung und Untersuchung schwerer Straftaten im Sinne von Section 81(2)b RIPA ist definitiv nicht mit dem völkerrechtlichen Begriff der schweren Straftat vereinbar, da der innerstaatliche britische Begriff Straftaten umfasst, die mit einer Freiheitsstrafe von weniger als vier Jahren bedroht sind. Darüber hinaus ist der Zweck, das wirtschaftliche Wohlergehen des Vereinigten Königreichs zu schützen, soweit diese Interessen auch für die Interessen der nationalen Sicherheit von Bedeutung sind, nicht hinreichend präzise, so dass die Massenüberwachung beispielsweise für Zwecke der Wirtschafts- und Industriespionage und des „Handelskriegs“ eingesetzt werden kann.[118]
37. Die sehr allgemeinen Formulierungen in den vom Innenminister ausgestellten Anordnungen nach Section 8(4) wurden zu Recht auch vom britischen Intelligence and Security Committee of Parliament (ISC) gerügt.[119]
38. Die Unterscheidung zwischen interner und externer Kommunikation, wie in Abschnitt 20 RIPA festgelegt, ist grundsätzlich mangelhaft und grenzt die Kategorien von Personen, deren Kommunikation abgehört werden kann, nicht ausreichend ein. Der ISC kam zu dem Schluss, dass diese Unterscheidung verwirrend ist und es ihr an Transparenz mangelt.[120]
39. Die britische Regierung begründete diese Unterscheidung damit, dass „die Geheimdienste bei der Beschaffung von Erkenntnissen über Aktivitäten im Ausland nicht dieselben Möglichkeiten haben, Ziele oder Bedrohungen zu identifizieren, die sie im Vereinigten Königreich haben“.[121] Das IPT wiederholte dieses Argument und erklärte, dass „[es] schwieriger [sei], terroristische und kriminelle Bedrohungen aus dem Ausland zu untersuchen“.[122] Diese Rechtfertigung muss vor dem Hintergrund der Offenlegungen der Regierung aus dem Jahr 2014 verstanden werden, in denen eingeräumt wurde, dass die Ersuchen um massenhaftes Material an einen ausländischen Geheimdienst „anders als in Übereinstimmung mit einem internationalen Rechtshilfeabkommen“[123] gestellt wurden. Das angefochtene System der Massenüberwachung wurde also geschaffen, um die zeit- und ressourcenaufwendigen Verfahren und die „härteren“ Verpflichtungen zu umgehen, die sich aus dem bestehenden völkerrechtlichen Rahmen der Rechtshilfe ergeben, mit anderen Worten, um die Schutzvorkehrungen im Rahmen des bestehenden Systems der internationalen Rechtshilfeverträge zu umgehen und dessen fehlende Regulierung neuer transnationaler Überwachungstechnologien auszunutzen.
40. Angesichts der zunehmenden Menge an Kommunikation, die als externe Kommunikation behandelt wird,[124] und der exponentiellen Zunahme der Massenüberwachung von immer mehr Kommunikation von Personen, die sich auf den Britischen Inseln[125] aufhalten, ist die Unterscheidung zwischen externer und interner Kommunikation technisch einfach nicht durchführbar und daher bedeutungslos. Die auf der territorialen Zuständigkeit basierende Unterscheidung zwischen externer und interner Kommunikation steht im Widerspruch zur Realität des heutigen Kommunikationsflusses im Internet, wo eine Facebook-Nachricht, die innerhalb einer Gruppe von Freunden in London ausgetauscht wird, über Kalifornien geleitet wird und daher „extern“ für das Vereinigte Königreich ist.[126]
So erinnerte die Anwaltsvereinigung Law Society den Gerichtshof daran, dass vertrauliche Kommunikation zwischen Anwälten und Mandanten, auch wenn sich beide im Vereinigten Königreich aufhielten, nach der Regelung von Section 8(4) abgehört werden könne.[127] In der Praxis beinhaltet der weit gefasste Begriff der externen Kommunikation der Regierung auch Cloud-Speicher, Google-Suchen, Browsing und Aktivitäten in sozialen Medien.[128] Für viele Kommunikationsarten ist es unter Umständen nicht einmal möglich, zwischen externer und interner Kommunikation zu unterscheiden, da der Standort des beabsichtigten Empfängers nicht immer aus den zugehörigen Kommunikationsdaten ersichtlich ist. Die faktische Analyse, ob es sich bei einer bestimmten Kommunikation um eine externe oder interne Kommunikation handelt, kann im Einzelfall nur im Nachhinein vorgenommen werden.[129]
Die heutige engere Verflechtung der Lebens- und Kommunikationsverhältnisse über die Grenzen hinweg ist sicherlich kein Argument dafür, externe und interne Kommunikation unterschiedlich zu behandeln, sondern eher das Gegenteil. Dies ist natürlich nicht als Aufforderung zu verstehen, das Schutzniveau der internen Kommunikation abzusenken, sondern das Schutzniveau der externen Kommunikation zu erhöhen.
41. In dieser Hinsicht ist nicht ersichtlich, dass eine Kommunikation zwischen einer Person in Straßburg und einer Person in London einen geringeren Schutz durch die Konvention genießen sollte als eine Kommunikation zwischen zwei Personen in London. Es scheint demnach keine objektive Rechtfertigung zu geben, solche Personen unterschiedlich zu behandeln, außer der Annahme, dass Bedrohungen eher aus dem Ausland kommen und dass Ausländer weniger Vertrauen verdienen als Inländer, weil sie ein größeres Risiko für die nationale und öffentliche Sicherheit darstellen als Inländer, womit die Notwendigkeit der Überwachung von Kommunikation, die außerhalb der Britischen Inseln gesendet oder empfangen wird, gerechtfertigt wäre.[130] Dies spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie Ausländer vor Gericht behandelt werden, wenn sie ihre Rechte auf Privatsphäre geltend machen wollen.
Das britische Gericht IPT nimmt keine Beschwerden von Antragstellern außerhalb des eigenen Staatsgebiets an.[131] Diese ausländerfeindliche Weltanschauung könnte dem Geist und den Buchstaben der Konvention nicht fremder sein.[132] Die Konvention stellt das Individuum und nicht den Bürger eines Staates in den Mittelpunkt, was bedeutet, dass die Konventionsrechte als Rechte des Individuums immer dann Schutz bieten sollten, wenn eine Vertragspartei handelt und damit potenziell ein Schutzbedürfnis schafft – unabhängig davon, wo, gegenüber wem und in welcher Weise sie dies tut. Darüber hinaus sollen die Konventionsrechte die Mitwirkung der Mitgliedstaaten des Europarates in der internationalen Gemeinschaft durchdringen, insofern „die Rechtsordnung des Europarates nicht mehr mit dem traditionellen internationalen Abkommen nebeneinander stehender Egoismen verwechselt werden kann. Souveränität ist nicht mehr eine absolute Gegebenheit wie in westfälischen Zeiten, sondern ein integraler Bestandteil einer den Menschenrechten dienenden Gemeinschaft.“[133]
42. Letztlich war die RIPA-Unterscheidung für das sich entwickelnde Internetzeitalter untauglich und diente nur dem politischen Ziel, das System in den Augen der britischen Öffentlichkeit mit der Illusion zu legitimieren, dass Personen innerhalb der territorialen Zuständigkeit des Vereinigten Königreichs vom staatlichen „Big Brother“ verschont bleiben würden. In Wirklichkeit war dies nicht der Fall. Der Innenminister konnte, wenn er es für notwendig hielt, die Prüfung des ausgewählten Materials nach Faktoren bestimmen, die sich auf eine Person bezogen, die sich auf den Britischen Inseln[134] aufhielt, und eine Anordnung ändern, um die Auswahl der Kommunikation dieser Person zu genehmigen.[135] Darüber hinaus wurde der Beifang von interner Kommunikation, die nicht in der Anordnung des Innenministers identifiziert wurde, immer dann erlaubt, wenn dies notwendig war, um die externe Kommunikation zu erhalten, die Gegenstand der Anordnung war.[136] Nach Aussage der Regierung selbst ist dies „in der Praxis unvermeidlich“.[137] Dies vorausgeschickt, ist anzumerken, dass es in Bezug auf die Massenüberwachung zugehöriger Kommunikationsdaten nicht einmal eine Beschränkung auf externe Kommunikation gab.
43. Selbst wenn die Massenüberwachung als Befugnis zum Sammeln von Informationen durch Auslandsgeheimdienste[138] und nicht als Instrument zur Verhütung, Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten[139] gedacht wäre, rechtfertigte dies nicht die fehlende Regulierung oder den Umfang der Befugnisse der abhörenden Behörden. Infolge der Entwicklung der digitalen Kommunikation stellt die Schutzklausel für die externe Kommunikation jedenfalls keine sinnvolle Einschränkung mehr dar,[140] wenn sie es überhaupt jemals war. Und ich sage, dass sie dies aus den folgenden Gründen auch nie war.
44. Der Innenminister erteilte keine eigenständige Genehmigung für eine Anordnung nach Section 8(4),[141] seine Abhöranordnung war ein Blankoscheck, der die zu überwachende Person nicht benannte oder beschrieb, keine ausdrückliche Begrenzung der Anzahl der abzuhörenden Kommunikationen vorsah und keine konkreten Träger oder Selektoren benannte. Für den Fall, dass ein Ersuchen um die Kommunikation eines Journalisten, eines Arztes oder eines Geistlichen vorlag oder ein solches Eindringen in die Privatsphäre wahrscheinlich war, gab es außer den unverfänglichen Ziffern 4.28 bis 4.31 des IC Code keine besondere Bestimmung.[142] Die Wahl der Leitungskabel als Träger und die Anwendung von Selektoren, einschließlich starker Selektoren, auf externe Kommunikation unterlag der endgültigen Entscheidung der abhörenden Behörde.[143]
Im Klartext: Die Geheimdienste hatten die volle Kontrolle über das Genehmigungsverfahren und hielten den Innenminister von wesentlichen Informationen fern, was zur Folge hatte, dass er oder sie keine ordnungsgemäße Verhältnismäßigkeits- und Erforderlichkeitsanalyse durchführen konnte, sondern lediglich die Funktionsweise des Systems politisch beschönigte.[144]
45. Außerdem war der vom Innenminister herausgegebene Verhaltenskodex nicht verbindlich, so dass aus berechtigten Gründen von ihm abgewichen werden konnte. Schlimmer noch, die tägliche Arbeit der Analysten wurde durch Absprachen „unterhalb der Wasseroberfläche“ geregelt, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren, nicht einmal in kursorischer oder geschwärzter Form.[145] Dieser administrative Spielraum der abhörenden Behörde unterlief den Zweck des Legalitätsprinzips, wonach die Regeln für die Massenüberwachung eine Grundlage im innerstaatlichen Recht haben müssen und dieses Recht in seinen Auswirkungen zugänglich und vorhersehbar sein muss.
46. Die regulatorische Schwäche des Systems wurde durch den Status des britischen Beauftragten für die Überwachung der Kommunikation (Interception of Communications Commissioner, IC Commissioner) noch verschärft, der keine unabhängige Autorität war und keine wirksame Aufsicht über die Umsetzung der Abhörgenehmigung bot.[146] Wie es der ISC-Bericht von 2015 formulierte, „sind die beiden Kommissare zwar ehemalige Richter, aber in ihrer Rolle als Kommissare agieren sie außerhalb des offiziellen gerichtlichen Rahmens“. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass „eine Reihe dieser Aufgaben derzeit auf nicht-gesetzlicher Basis wahrgenommen wird. Dies ist unbefriedigend und unangemessen“.[147]
Dies ist noch längst nicht das Schlimmste an der Rechtsstellung des IC Commissioners. Rechtlich gesehen ernannte der Premierminister den IC Commissioner, der ihm Bericht erstattete und der von dem vom Innenminister bereitgestellten Personal abhängig war.[148] Außerdem handelte es sich um eine Teilzeitbeschäftigung, und der IC Commissioner konnte vom Premierminister jederzeit entlassen werden.[149] Dieser Status war offensichtlich nicht mit der Unabhängigkeit vereinbar, die für eine wirksame Überwachung der Funktionsweise der Section-8(4)-Regelung erforderlich ist. Kurz gesagt, die Kommissare waren nicht „institutionell, operativ und finanziell unabhängig von den Institutionen, die sie beaufsichtigen sollten“, wie es die Tshwane-Prinzipien verlangen.[150]
47. Selbst wenn man der Diskussion halber davon ausgeht, dass die Aufsicht des IC Commissioners im Vereinigten Königreich unabhängig war, war sie nicht wirksam, und zwar aus dem einfachen Grund, dass der Beauftragte, wenn er mit einem schwerwiegenden Fehler konfrontiert wurde, nur die Befugnis hatte, dem Premierminister einen Bericht vorzulegen, um ihn auf diesen Fehler aufmerksam zu machen und gegebenenfalls zu entscheiden, inwieweit es möglich wäre, diesen Fehler zu veröffentlichen.[151] So konnte er beispielsweise weder den Fall an das Gericht IPT verweisen noch das Opfer der übermäßigen Überwachung benachrichtigen. Der IC Commissioner versäumte es sogar festzustellen, dass die Beschwerdeführer Amnesty International und das South African Legal Resources Centre unrechtmäßig überwacht worden waren!
48. Für die Dauer der Abhör- und Aufbewahrungsfristen gab es im Gesetz keine spezifische Höchstfrist, und die Praxis konnte diese Lücke nicht schließen.[152] Die Anordnungen nach 8(4) konnten ad aeternum (auf ewig) verlängert werden.[153] Darüber hinaus unterschieden sich die Aufbewahrungsfristen zwischen den einzelnen Abhörbehörden,[154] und die „normalerweise“ geltende Höchstfrist für die Aufbewahrung gemäß Abschnitt 7.9 des IC Code (also zwei Jahre) konnte von einem leitenden Beamten der Abhörbehörde selbst außer Kraft gesetzt werden. Dies ist ein bezeichnendes Zeichen dafür, wer im britischen System der Massenüberwachung das Sagen hatte.[155]
49. Es gab keine Benachrichtigungspflicht am Ende des Abhörvorgangs.[156] In Ermangelung einer solchen Benachrichtigung war das Recht auf Zugang zu einem Gericht weitgehend aussichtslos. Dies war im Vereinigten Königreich auch faktisch so.[157] Das britische Gericht IPT wurde nur auf die Beschwerde einer Person hin tätig, die glaubte, heimlich überwacht worden zu sein, was bedeutete, dass das IPT eine rein theoretische Garantie für all jene überwachenden Personen darstellte, die keine Ahnung hatten, dass ihre Kommunikation abgehört worden war.[158] Die unzureichende Aufsicht des IPT wurde durch die Tatsache verschlimmert, dass es nicht befugt war, eine Unvereinbarkeitserklärung abzugeben, wenn es feststellte, dass primäre Rechtsvorschriften mit der EMRK unvereinbar waren, da es sich nicht um ein „Gericht“ im Sinne von Abschnitt 4 des Human Rights Act 1998 handelte; dass gegen seine Entscheidungen keine Rechtsmittel eingelegt werden konnten; und dass der Innenminister seltsamerweise befugt war, die Verfahrensregeln des IPT zu übernehmen, was in der Praxis bedeutete, dass die überwachte Einrichtung befugt war, die Regeln für das Überwachungsorgan festzulegen.[159]
B. Austausch von Abhördaten mit ausländischen Geheimdiensten
50. Es gibt keinen ausdrücklichen gesetzlichen Rahmen analog zu RIPA, der regelt, auf welcher Grundlage die britische Regierung Abhördaten aus dem Ausland nutzen kann. Erst im Januar 2016 wurde in Kapitel 12 des IC Code der Rahmen für einen solchen Austausch festgelegt.[160] Gemäß Absatz 12.5 des IC Code und der dazugehörigen Fußnote konnten Anfragen nach abgehörter Kommunikation und zugehörigen Kommunikationsdaten eines ausländischen Geheimdienstes für „Material an, von und über bestimmte Selektoren“ gestellt werden.[161] Die NSA hat die „darüber“-Sammlung im April 2017 aufgegeben, weil sie aufgrund ihrer unzulässigen massiven Überschreitung nicht rechtmäßig durchgeführt werden konnte.[162] Doch die überraschende Bereitschaft des Gerichtshofs, die „Collect-it-all“-Politik der beklagten britischen Regierung[163] zu akzeptieren, geht sogar noch über die NSA-Strategie hinaus und lässt nicht nur „darüber“-Sammelanfragen zu, sondern sogar Anfragen nach Material, das sich nicht auf bestimmte Selektoren bezieht.[164]
51. Dem Gerichtshof zufolge sollte die Weitergabe von massenhaftem Material an ausländische geheimdienstliche Partner einer „unabhängigen Kontrolle“ unterliegen, [165] der Erhalt von massenhaftem Material, das von ausländischen geheimdienstlichen Behörden gesammelt wurde, jedoch nicht.[166] Wenn die Schutzvorkehrungen in Bezug auf die direkte Überwachung durch die britischen Abhörbehörden unzureichend sind, sollten sie auch für die indirekte Überwachung durch diese Behörden als unzureichend angesehen werden, die sich aus der gemeinsamen Nutzung von abgefangenem Material Dritter ergibt; dies gilt umso mehr, wenn dieses Material von einer dritten Partei gesammelt wird, die nicht durch die Konvention gebunden ist. In Fällen, in denen die Gefahr von nicht im Einklang mit der Menschenrechtskonvention gesammeltem und gespeichertem Material größer ist und daher eine unabhängige Überwachung am dringendsten erforderlich ist, hat der Gerichtshof ohne plausible Begründung auf diesen Schutz verzichtet.[167]
In dieser Hinsicht war die von der britischen Regierung und der Mehrheit in der Großen Kammer angeführte Aufsicht des IC Commissioners und des IPT praktisch unwirksam, und zwar bei der Kontrolle des Austauschs von geheimdienstlichen Erkenntnissen aus abgefangenem Material Dritter ebenso wie bei der Kontrolle der innerstaatlichen Überwachung, da das Eingreifen des IPT von einer Beschwerde abhing und der IC Commissioner keine andere Befugnis hatte, als dem Premierminister Bericht zu erstatten, um ihn oder sie auf jeden schwerwiegenden Fehler aufmerksam zu machen.
52. Die absurden Konsequenzen der Argumentation der Mehrheit werden in folgendem Beispiel noch deutlicher: Wenn ein Londoner eine Nachricht auf Twitter an einen anderen Londoner sendet und diese Kommunikation über einen Server in den Vereinigten Staaten übertragen wird, akzeptiert das Gericht, dass das Abfangen dieser Nachricht und der zugehörigen Kommunikationsdaten durch den britischen Geheimdienst GCHQ die Garantie einer unabhängigen Genehmigung verdient, wenn sie das Vereinigte Königreich über ein Kabel in Richtung Vereinigte Staaten verlässt. Wenn aber die NSA dieselbe Nachricht am anderen Ende desselben Kabels abfängt und dem GCHQ eine Kopie oder die dazugehörigen Kommunikationsdaten übergibt, gilt diese Garantie der unabhängigen Genehmigung nicht.
Es ist völlig willkürlich, wenn es für dieselben Daten einen unterschiedlichen Rechtsschutz gibt, der nur auf dem zufälligen Standort desjenigen beruht, der die erste Abhörung durchgeführt hat. Das Fehlen eines gesetzlichen Schutzsystems für die Verwendung von Abhördaten aus dem Ausland, das den gleichen Schutz bietet wie dasjenige, das für im Inland erhobene Abhördaten gilt, bedeutet, dass das britische Recht nicht ausreicht, um vor Willkür und Missbrauch zu schützen.[168]
53. Darüber hinaus galten, gemäß 12.6 des IC Code, die Abschnitte 15 und 16 des RIPA nicht für das gesamte von ausländischen Geheimdiensten erhaltene Material, das aus einer Massenüberwachung stammen könnte, sondern nur für angefordertes Überwachungsmaterial oder für Material, „das sich selbst als Produkt einer Überwachung identifiziert“, so dass die Auslösung der innerstaatlichen Garantien des Empfängerstaates (des Vereinigten Königreichs) von einer Entscheidung des ausländischen Geheimdienstes abhing.
54. Die Darstellung des Austauschs von massenhaftem Material mit anderen Parteien wäre unvollständig, ohne ein weiteres bemerkenswertes Detail zu erwähnen. Es sollte hinzugefügt werden, dass 7.3 des IC Code die Weitergabe von abgehörtem Material an andere Parteien in Übereinstimmung mit der bloßen Bequemlichkeit des Dienstes erlaubt – ein verblüffend einfaches Kriterium. Das „Need-to-know-Prinzip“[169] ist das logische Gegenteil der Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfungen: Der Grundsatz, dass nur so viel des abgehörten Materials offengelegt werden darf, wie der Empfänger benötigt, ist das Gegenteil dieser Prüfungen. Die Anwendung dieser Offenlegungsbefugnis unterliegt nicht einer objektiven gesetzlichen Schwelle, sondern wird lediglich durch den verfolgten Zweck geleitet und möglicherweise fehlgeleitet.
So überwiegen rein opportunistische Erwägungen bei der Bewertung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des zusätzlichen Eingriffs in die Rechte der zu überwachenden Person, der durch die Weitergabe des abgehörten Materials an andere Parteien erfolgt. Mit einfachen Worten: Die Kommunikation des Einzelnen wird wie ein Besitz des Staates behandelt, eine Ware, die der Staat nach eigenem Ermessen mit anderen Parteien teilen kann, um „zu sehen, ob der Heuhaufen eine Nadel enthält“.[170]
C. Massenüberwachung zugehöriger Kommunikationsdaten nach RIPA
55. Schließlich galt Abschnitt 16(2) des RIPA nicht für die Massenüberwachung zugehöriger Kommunikationsdaten, was bedeutete, dass jeder Auswerter einen starken Selektor verwenden konnte, der sich auf eine Person bezog, von der bekannt war, dass sie sich auf den Britischen Inseln aufhielt, ohne dass eine vorherige Genehmigung durch den Innenminister erforderlich war, und – noch schlimmer – dass die abgefangenen Daten für „mehrere Monate“ gespeichert werden konnten, wenn und solange dies erforderlich war, um „unbekannte Unbekannte“ zu entdecken.[171] In der Praxis wurde das Abhören und die Verarbeitung zugehöriger Kommunikationsdaten nur durch die Speicherkapazität der abhörenden Dienste begrenzt. Tatsächlich ist in RIPA keine Befugnis zum Sammeln ausländischer Nachrichten verankert, da sich die technologische Entwicklung zu einer inländischen Überwachungsbefugnis gewandelt hat, und das ist der Grund, warum die Regierung jetzt so tut, als wenn die Schutzklausel für die Britischen Inseln in Abschnitt 16 des RIPA für die Vereinbarkeit mit der Menschenrechtskonvention nicht „notwendig“ sei.[172]
56. Auch das Machbarkeitsargument[173] der britischen Regierung überzeugt mich nicht. Es ist durchaus möglich, dass ein Richter, zu gegebener Zeit, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit eines Antrags auf Genehmigung der gezielten Überwachung der zugehörigen Kommunikationsdaten einer Person in jedem einzelnen Fall beurteilt, ohne dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass die Verwendung dieser Daten untergraben wird.[174] Wenn dieses Genehmigungsverfahren für die gezielte Erfassung von Journalisten und anderen Fachleuten, deren zugehörige Kommunikationsdaten rechtlich privilegiert sind, eingerichtet werden kann, wie der Gerichtshof einräumt,[175] warum kann es dann nicht auch für die gezielte Erfassung der zugehörigen Kommunikationsdaten der Normalsterblichen eingerichtet werden? Solche Genehmigungssysteme, die in großem Maßstab funktionieren, sind durchaus möglich. Der Punkt ist, dass Eingriffe in die Privatsphäre in großem Umfang ein System von Schutzvorkehrungen in ebenso großem Umfang erfordern.
57. Trotz des Ausmaßes des Eindringens in die Privatsphäre sowohl innerhalb als auch außerhalb der Britischen Inseln ist die Duldung dieser Praktiken durch den Gerichtshof unverständlich, wenn man bedenkt, dass der Gerichtshof selbst 16(2) als „die wichtigste gesetzliche Schutzmaßnahme zur Begrenzung der Auswahl von abgehörtem Material für die Prüfung“ betrachtet.[176]
D. Vorläufige Schlussfolgerung
58. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Tatsache, dass der Umfang der Überwachungstätigkeit in den Fällen „Weber und Saravia“ (2006) und „Liberty und andere“ (2008) viel geringer war als heute, den Gerichtshof nicht dazu veranlassen sollte, weniger hohe Anforderungen an das erforderliche Maß an den heutigen Schutz der Persönlichkeitsrechte zu stellen. Die exponentielle Zunahme der Überwachungsaktivitäten im letzten Jahrzehnt und der dadurch ausgelöste öffentliche Aufschrei rechtfertigen eine strengere Überwachung der Aktivitäten der Geheimdienste, um die Demokratie zu bewahren und die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen. Und nicht das Gegenteil.
Wenn das Risiko eines staatlichen Missbrauchs zunimmt, sollten auch die Schutzmaßnahmen der Menschenrechtskonvention und die entsprechenden innerstaatlichen rechtlichen Sicherheiten zunehmen, nicht abnehmen.[177] Mit anderen Worten: Die Maßstäbe des Gerichtshofs sollten heute strenger sein als 2006 oder 2008. Das ist aber das genaue Gegenteil von dem, was in diesem Urteil steht. In dem vorliegenden Urteil hat sich der Gerichtshof der faktischen Existenz der allgemeinen Massenüberwachung gebeugt und dabei gefährlicherweise angenommen, dass sie zulässig sein sollte, wenn sie nützlich ist. In einer demokratischen Gesellschaft ist Nützlichkeit aber nicht gleichbedeutend mit Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Wie es Richter Brandeis in „Olmstead v. United States“[178] formulierte, „ist es auch unerheblich, dass das Eindringen [in die Telefonüberwachung] der Strafverfolgung diente. Die Erfahrung sollte uns lehren, dass wir am meisten auf der Hut sein müssen, die Freiheit zu schützen, wenn die Regierung wohltätige Zwecke verfolgt“.
V. Fazit
59. Dieses Urteil verändert das in Europa bestehende Gleichgewicht zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und den Interessen der öffentlichen Sicherheit grundlegend, indem es die nicht zielgerichtete Überwachung des Inhalts elektronischer Kommunikation und zugehöriger Kommunikationsdaten und – was noch schlimmer ist – den Austausch von Daten mit Drittländern zulässt, die über kein den Staaten des Europarats vergleichbares Maß an Schutz verfügen. Diese Schlussfolgerung ist umso mehr gerechtfertigt, als der EuGH den pauschalen Zugriff auf die Inhalte elektronischer Kommunikation entschieden abgelehnt hat,[179] und mit Blick auf seinen offenkundigen Widerstand gegen die allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten[180] und seine Schranken für den Datenaustausch mit ausländischen Geheimdiensten, die kein im Wesentlichen dem in der Charta der Grundrechte garantiertes Maß an Schutz gewährleisten.[181] In all diesen drei Punkten bleibt der Straßburger Gerichtshof hinter dem Luxemburger Gerichtshof zurück, der nach wie vor der Leuchtturm für die Rechte auf Privatsphäre in Europa ist.
60. Im Guten wie im Schlechten, und ich glaube mehr im Schlechten als im Guten, hat der Straßburger Gerichtshof mit dem vorliegenden Urteil gerade die Tore für einen elektronischen „Big Brother“ in Europa geöffnet. Wenn dies die neue Normalität ist, die meine gelehrten Kollegen in der Mehrheit für Europa wollen, kann ich mich ihnen nicht anschließen, und dies sage ich mit einem enttäuschten Herzen, mit der gleichen Bestürzung, wie jene, die hervorgeht aus Gregorio Allegris „Miserere mei, Deus“.
Gregorio Allegri „Miserere mei, Deus“ (Gott, sei mir gnädig).
Fußnoten
- Dies ist das zweite Mal, dass ich eine separate Stellungnahme über Massenüberwachung verfasst habe. In „Szábo and Vissy v. Hungary“, Nr. 37138/14, 12. Januar 2016, hatte ich die Gelegenheit, meine Ansichten darüber zu äußern, auf welch dünnes Eis sich die ungarische Politik bei der Massenüberwachung begeben hatte und welch unangenehme Konsequenzen es hätte, sollte dieses Eis brechen. In Anbetracht der in der Großen Kammer geführten Diskussion und nach sorgfältiger Abwägung aller gegensätzlichen Argumente kann ich nunmehr versichern, keinen Millimeter von meiner früheren Position abgewichen zu sein. Vielmehr bin ich mittlerweile noch stärker davon überzeugt, dass das, was ich im Jahr 2016 geschrieben habe, nach wie vor hochaktuell ist. Die vorliegende Stellungnahme ist daher im Kontext dessen zu lesen, was ich vor fünf Jahren geschrieben habe.
- Eine gelungene Anwendung dieses Verfahrens findet sich beispielsweise im Fall „Rohlena v. the Czech Republic [GC]“, Nr. 59552/08, 27. Januar 2015.
- Auf nationaler Ebene ist der Begriff ähnlich definiert. Siehe Abschnitt 20 des RIPA.
- Auf nationaler Ebene ist der Begriff anders definiert. Siehe Abschnitt 20 des RIPA.
- Auf nationaler Ebene ist dieser Begriff enger gefasst. Siehe Abschnitt 20 des RIPA. Eine Definition des Begriffs „Kommunikationsdaten“ findet sich dort in Abschnitt 21 (4), (6) und (7).
- Diese Definition/Auslegung ist vergleichbar mit der in Abschnitt 20 des RIPA.
- Dieser Begriff ist verankert in Abschnitt 81 des RIPA, den auch der Gerichtshof anwenden kann.
- Randnummer 323 des Urteils.
- Randnummern 33 und 50 des Urteils.
- Randnummer 136 des Urteils.
- Randnummer 424 des Urteils.
- Randnummer 353 des Urteils.
- Randnummer 354 des Urteils.
- „Liberty and Security in a Changing World“, Bericht und Empfehlungen der Untersuchungsgruppe des US-Präsidenten zur Nachrichten- und Kommunikationstechnologie (Review Group on Intelligence and Communications Technologies), 12. Dezember 2013, S. 114.
- „Centrum för rättvisa v. Sweden“ (Nr. 35252/08), bei dem die Entscheidung am selben Tag erging wie das vorliegende Urteil. Es fällt auf, dass die Regierungen Frankreichs, der Niederlande und Norwegens sich genau auf diesen Punkt konzentriert haben: Ihrer Ansicht nach ist es nicht gerechtfertigt, die Massenüberwachung mit einem begründeten Verdacht zu verknüpfen (Randnummern 301, 305 und 309 des Urteils).
- Siehe den mündlichen Vortrag der beklagten britischen Regierung in der Anhörung der Großen Kammer am 10. Juli 2019: „Diese beiden Elemente [begründeter Verdacht und anschließende Benachrichtigung] sind grundsätzlich unvereinbar mit einem System, dessen Einsatz nicht von der Existenz klar definierter Überwachungsziele abhängt. Die Anwendung gemäß Abschnitt 8(4) ist ihrem Wesen nach eine nicht zielgerichtete Maßnahme. Sie dient der Aufdeckung unbekannter Bedrohungen der nationalen Sicherheit und schwerer Verbrechen. Ein begründeter Verdacht kann demnach einfach nicht Bestandteil dieser Regelung sein. Ein solches Erfordernis würde ihren Nutzen erheblich einschränken […]“. Die Argumentation läuft letztlich auf die Frage des „Nutzens“ der verdachtsunabhängigen Massenüberwachung hinaus.
- Randnummer 348 des Urteils.
- „Liberty and Others v. the United Kingdom“, Nr. 58243/00, § 63, 1. Juli 2008.
- „Weber and Saravia v. Germany“ (dec.), Nr. 54934/00, §§ 95 und 114, ECHR 2006‑XI.
- „Liberty and Others“, wie oben zitiert, §§ 63-65.
- „Kennedy v. the United Kingdom“, Nr. 26839/05, §§ 158-60, 18. Mai 2010.
- „Roman Zakharov v. Russia“ [GC], Nr. 47143/06, §§ 231 und 264, ECHR 2015.
- „Szábo and Vissy“, wie oben zitiert.
- „Mustafa Sezgin Tanrıkulu v. Turkey“, Nr. 27473/06, 18. Juli 2017.
- „Roman Zakharov“, wie oben zitiert, §§ 231 und 264.
- Ebd., §§ 175-178.
- Ebd., §§ 31, 246-248.
- Ebd., § 265. In den Fällen, in denen eine „Bereichsüberwachung“ genehmigt wurde, ging es eindeutig um eine potenzielle Massenüberwachung.
- „Szábo and Vissy“, wie oben zitiert.
- Ebd., § 67.
- Ebd., § 63.
- Ebd., § 71.
- Ebd., § 56.
- „Mustafa Sezgin Tanrıkulu“, wie oben zitiert, §§ 56 und 57.
- Randnummer 341 des Urteils. Die Behauptung berücksichtigt nicht die bereits erwähnten Fälle „Roman Zakharov“ und „Szábo und Vissy“.
- Randnummern 344-346 des Urteils.
- Randnummer 344 des Urteils.
- Eine ausführliche Analyse dieser Dokumente findet sich in meiner oben zitierten Stellungnahme zum Fall „Szábo and Vissy v. Hungary“.
- UN-Dokument CCPR/C/GBR/CO/7.
- CommDH (2016)20.
- „Szábo and Vissy“, wie oben zitiert, § 66: „Es besteht für praktisch jede Person in Ungarn die Möglichkeit, einer geheimen Überwachung unterzogen zu werden.“
- „Mustafa Sezgin Tanrıkulu“, wie oben zitiert, § 7.
- Randnummern 209-241 des genannten Urteils. Ich beziehe mich hier auf die Rechtssachen „Digital Rights Ireland Ltd“ (zur Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung, die „einen Eingriff in die Grundrechte praktisch der gesamten europäischen Bevölkerung darstellt“), „Maximilian Schrems“ (zur Kritik an Rechtsvorschriften, die es Behörden gestatten, „pauschal auf den Inhalt elektronischer Kommunikation“ zuzugreifen), „Privacy International“ (zu nationalen Rechtsvorschriften, die elektronische Kommunikationsdienste verpflichten, Verkehrs- und Standortdaten an Geheimdienste weiterzugeben, und zwar mittels allgemeiner und unterschiedsloser Übermittlung, die „alle Personen, die elektronische Kommunikationsdienste nutzen“, betrifft) und „La Quadrature du Net and Others“ (zur Kritik an Rechtsvorschriften, die Anbieter verpflichten, Verkehrs- und Standortdaten „allgemein und unterschiedslos“ zu speichern). Die ersten beiden Fällen betrafen die Verarbeitung personenbezogener Daten zu Strafverfolgungszwecken, die letzten beiden Fälle die Bewertung heimlicher Überwachung durch Geheimdienste.
- Es wird nachstehend ausführlich erörtert, dass die auf der territorialen Zuständigkeit beruhende Unterscheidung zwischen interner und externer Kommunikation nicht geeignet ist, die Massenüberwachung Letzterer zu rechtfertigen.
- Siehe die Stellungnahme der beklagten britischen Regierung an die Große Kammer am 2. Mai 2019, S. 42 („einige Tausend in jeder beliebigen Woche in Bezug auf Personen, von denen bekannt ist oder angenommen wird, dass sie sich allein im Vereinigten Königreich aufhalten“).
- Randnummer 345 des Urteils.
- Ebd.
- Es sei darauf hingewiesen, dass die französische und die niederländische Regierung ebenso wie die Kammer darauf bestanden haben, dass es falsch war anzunehmen, dass die Massenüberwachung einen größeren Eingriff in die Privatsphäre darstellt als die gezielte Überwachung (Randnummern 300 und 306 des Urteils).
- Wie der Untersuchungsbericht des Gerichtshofs selbst zu Albanien, Andorra, Österreich, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, der Tschechischen Republik, Griechenland, Irland, Island, Italien, Liechtenstein, Moldawien, Monaco, Montenegro, Nordmazedonien, Polen, Portugal, Rumänien, San Marino, Serbien, der Türkei und der Ukraine feststellt. Somit geben die Randnummern 242-246 des Urteils kein korrektes Bild der europäischen Landschaft wieder.
- PACE Resolution 2031 (2015).
- Memorandum des Menschenrechtskommissars des Europarats zu Überwachungs- und Kontrollmechanismen im Vereinigten Königreich, CommDH (2016)20, Mai 2016, S. 10.
- Randnummer 242 des Urteils.
- Randnummer 345 des Urteils. Ich beziehe mich hier auf die Kritik, die der EuGH an dieser Definition einer „schweren Straftat“ geübt hat (siehe Randnummer 212 des Urteils).
- Siehe den Bericht der Venedig-Kommission über die demokratische Kontrolle von Geheimdiensten, 2015, S. 9, 25 und 26 („es müssen konkrete Tatsachen vorliegen, die auf eine Straftat/ein sicherheitsgefährdendes Verhalten hindeuten, und die Ermittler müssen einen ‚wahrscheinlichen Grund‘ respektive einen ‚begründeten Verdacht‘ haben oder eine vergleichbare Voraussetzung erfüllen“), und das Memorandum des Menschenrechtskommissars des Europarats, oben zitiert, S.6.
- Randnummer 346 des Urteils.
- Wie der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache „Digital Rights Ireland“ (siehe oben, Randnummer 55) erklärt hat, ist „die Erforderlichkeit von […] Schutzmaßnahmen dort umso größer, wo […] personenbezogene Daten einer automatischen Verarbeitung unterliegen“.
- Punkt (c) (iii) der Beurteilung des Gerichtshofs.
- Randnummer 348 des Urteils.
- Ebd.
- Das Beispiel entstammt der Rechtsprechung des EuGH (siehe Randnummer 220 des vorliegenden Urteils).
- Das Beispiel leitet sich aus der scharfen Kritik ab, die in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2014 zum NSA-Überwachungsprogramm der Vereinigten Staaten, im Bericht der Venedig-Kommission (siehe oben, S. 18) und im Memorandum des Menschenrechtskommissars des Europarats (siehe oben, S. 8) geäußert wurde.
- „Szábo and Vissy“, oben zitiert, § 71.
- „Roman Zakharov“, oben zitiert, §§ 260, 262 und 263.
- Randnummer 348 des Urteils.
- Randnummer 330 des Urteils.
- Randnummer 350 des Urteils.
- Ebd.
- Ebd.
- Randnummer 351 des Urteils.
- Randnummer 352 des Urteils.
- Randnummer 355 des Urteils.
- Ebd.
- Randnummer 356 des Urteils.
- Randnummer 359 des Urteils.
- Randnummer 350 des Urteils.
- Randnummer 348 des Urteils.
- Randnummer 360 des Urteils.
- Vgl. zum Beispiel Randnummer 330 in fine (am Ende) des Urteils.
- Auch wenn die Formulierung des Gerichtshofs nicht einheitlich ist und manchmal auf den Begriff der unabhängigen Behörde und ein anderes Mal auf den Begriff der unabhängigen Einrichtung verweist, scheint kein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Begriffen zu bestehen.
- Randnummer 352 des Urteils.
- Randnummer 354 des Urteils.
- Randnummer 355 des Urteils.
- Ebd. Wie es der oben zitierte Bericht der Venedig-Kommission auf S. 28 ausdrückt, „sind die internen Kontrollen unzureichend“. Somit wird in Randnummer 199 des Urteils der Standpunkt der Venedig-Kommission falsch wiedergegeben.
- Randnummer 356 des Urteils.
- Randnummer 359 des Urteils.
- Bericht der Venedig-Kommission, wie oben zitiert, S. 32 („Für europäische Staaten ist für Einzelfälle die richterliche Vorabgenehmigung vorzuziehen“). Somit verfälscht Randnummer 197 des Urteils die Botschaft der Venedig-Kommission. Der Menschenrechtskommissar des Europarats schlug ebenfalls vor, die richterliche Vorabgenehmigung einzuführen (Memorandum, oben zitiert, § 28).
- Der Umstand, dass die richterliche Genehmigung an sich noch keinen ausreichenden Schutz gegenüber Rechtsmissbrauch bieten muss, stützt keineswegs die Schlussfolgerung, sie sei nicht notwendig. Es sei festgehalten, dass die richterliche Vorabgenehmigung durch den IPA (Investigatory Powers Act) eingeführt wurde, doch ist dies nicht der Rahmen, um ex professo den durch vom IPA eingeführten Standard der richterlichen Überprüfung zu erörtern, da nicht das Gesetz aus dem Jahr 2016 zur Verhandlung steht.
- Vgl. alle internationalen Autoritäten, zu „Szábo und Vissy“ in dieser Stellungnahme angeführt, oben zitiert.
- Daher bin ich der Auffassung, dass die massive Erfassung der Daten unschuldiger Personen, die der Gerichtshof im vorliegenden Urteil akzeptiert, in Konflikt zu den anerkannten Grundsätzen folgender Urteile steht: „S. and Marper v. the United Kingdom“, Nr. 30562/04 und 30566/04, § 135, 4. Dezember 2008; „Shimovolos v. Russia“, Nr. 30194/09, §§ 68 und 69, 21. Juni 2011; „M.K. v. France“, Nr. 19522/09, § 37, 18. April 2013; und insbesondere „Mustafa Sezgin Tanrıkulu v. Turkey“, oben zitiert, §§ 57-59.
- Dies ist der universelle Standard, wie er in der Sammlung der Vereinten Nationen über bewährte rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen und Maßnahmen zur Gewährleistung der Achtung der Menschenrechte durch Geheimdienste bei der Terrorismusbekämpfung, einschließlich deren Aufsicht, vom 17. Mai 2010 (A/HRC/14/46) zusammengestellt wurde: „Verfahren 21. Das innerstaatliche Recht legt die Arten von Erhebungsmaßnahmen fest, die den Geheimdiensten zur Verfügung stehen; die zulässigen Ziele geheimdienstlicher Erhebungen; die Kategorien der Personen und Aktivitäten, die Gegenstand geheimdienstlicher Erhebungen sein können; die zur Rechtfertigung des Einsatzes geheimdienstlicher Erhebungsmaßnahmen erforderliche Verdachtsschwelle; die Einschränkungen des Zeitraums, innerhalb dessen geheimdienstliche Erhebungsmaßnahmen eingesetzt werden können sowie die Verfahren zur Genehmigung, Beaufsichtigung und Überprüfung des Einsatzes geheimdienstlicher Erhebungsmaßnahmen.“
- Anders als „Sanoma Uitgevers B.V. v. the Netherlands“ [GC], Nr. 38224/03, §§ 90-92, 14. September 2010, vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), Überwachung durch Geheimdienste: Grundrechtsgarantien und Rechtsbehelfe in der EU, Band II: Erfahrungsberichte und rechtliche Neuerungen („Surveillance by intelligence services: fundamental rights safeguards and remedies in the EU, volume II: Field perspectives and legal updates“), 2017, S. 12: „Die EU-Mitgliedstaaten sollten spezifische rechtliche Verfahren einführen, um das Berufsgeheimnis von Gruppen wie Parlamentsmitgliedern, Mitgliedern der Judikative, Rechtsanwälten und Medienschaffenden zu schützen. Die Umsetzung dieser Verfahren sollte von einer unabhängigen Stelle überwacht werden.“
- Bericht der Venedig-Komission, oben zitiert, S. 26.
- Dies ist der universelle und europäische Standard, wie er in der oben zitierten Zusammenstellung der Vereinten Nationen aufgeführt ist („Verfahren 25. Es gibt eine unabhängige Institution, die die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Geheimdienste überwacht. Diese Einrichtung hat Zugang zu allen Akten der Geheimdienste und ist befugt, die Offenlegung von Informationen gegenüber den betroffenen Personen sowie die Vernichtung von Akten oder darin enthaltenen personenbezogenen Daten anzuordnen“), sowie FRA, „Surveillance by Intelligence Services“, wie oben zitiert, S. 11 („Die Mitgliedstaaten sollten den Aufsichtsgremien auch die Befugnis zur Einleitung eigener Ermittlungen sowie einen ständigen, uneingeschränkten und direkten Zugang zu den für die Erfüllung ihres Mandats erforderlichen Informationen und Dokumenten gewähren“).
- „Szábo und Vissy“, wie oben zitiert, § 86. Der Logik von „Szábo und Vissy“ zufolge ist dies eine weitere Mindestanforderung, die über die Kriterien von „Weber und Saravia“ hinausgeht. Zu den Vorteilen des Meldeverfahrens „zur Eindämmung von Überbeanspruchung“ siehe den Bericht der Venedig-Kommission, oben zitiert, S. 35, und die Berichte des Menschenrechtskommissars des Europarats zu Deutschland, 2015, S. 17, sowie dem Vereinigten Königreich, 2016, oben zitiert, S. 5.
- Randnummer 358 des Urteils.
- Randnummer 362 des Urteils.
- Ebd.
- Ebd.
- Ebd.
- Die Mehrheit ignoriert die Tatsache, dass Artikel 2 des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten bezüglich der Aufsichtsbehörden und des grenzüberschreitenden Datenverkehrs (SEV Nr. 181) besagt, dass die Vertragsparteien ein angemessenes Schutzniveau für die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittländer gewährleisten müssen und Ausnahmen nur dann zulässig sind, wenn berechtigte überwiegende Interessen vorliegen. In den Erläuternden Bemerkungen zu diesem Übereinkommen wird hinzugefügt, dass Ausnahmen restriktiv ausgelegt werden müssen, „so dass die Ausnahme nicht die Regel wird“ (§ 31). Es ist wichtig zu erwähnen, dass dieses Protokoll von 44 Staaten ratifiziert wurde, einschließlich acht Nichtmitgliedern des Europarates. Das Vereinigte Königreich hat es nicht ratifiziert. Zusätzlich zu dieser Norm des Europarats lässt die Europäische Union nur die Übermittlung personenbezogener Daten in ein Drittland zu, das ein Schutzniveau bietet, das im Wesentlichen dem in der Europäischen Union gewährleisteten gleichwertig ist (§ 234 des Urteils).
- Bericht der Venedig-Kommission, wie oben zitiert, 2015, S. 34 („Die Urheber- oder ‚Drittstaatenregelung‘ sollte für die Aufsichtsbehörde nicht gelten“), sowie FRA, „Überwachung durch Geheimdienste“, wie oben zitiert, 2017, S. 13 und 106 („Ungeachtet der Drittstaatenregelung sollten die EU-Mitgliedstaaten erwägen, den Aufsichtsbehörden uneingeschränkten Zugang zu im Rahmen internationaler Zusammenarbeit übermittelter Daten einzuräumen. Dies würde die Überwachungsbefugnisse auf alle Daten ausweiten, auf die Geheimdienste zugreifen können beziehungsweise die von selbigen verarbeitet werden“).
- Randnummer 342 des Urteils.
- Letztlich war der Gerichtshof empfänglich für die Drohung der britischen Regierung, nämlich „falls von den Mitgliedstaaten, die Massenüberwachungssysteme betreiben, verlangt würde, denselben Schutz auf RCD [zugehörige Kommunikationsdaten] anzuwenden wie auf Inhalte, so wäre das anzunehmende Ergebnis schlicht eine Verwässerung des Schutzes von Inhalten“. (Stellungnahme der beklagten britischen Regierung vor der Großen Kammer am 2. Mai 2019, S. 42).
- Randnummer 364 des Urteils in Kombination mit Randnummer 361.
- Randnummer 347 des Urteils.
- In der oben zitierten Rechtssache „Liberty and Others“ waren alle Beschwerdeführer Nichtregierungsorganisationen, die geltend machten, dass ihr Recht auf Schutz ihrer Korrespondenz verletzt worden sei. Diese Rechte sind auch im vorliegenden Fall betroffen.
- Zu diesem Zweck habe ich, abgesehen von den in Absatz 8 schon genannten Stellen, auch die oben genannte Zusammenstellung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2010, den oben genannten Bericht der Venedig-Kommission aus dem Jahr 2015 und den oben genannten Bericht der FRA aus dem Jahr 2017 in Betracht gezogen.
- Artikel 2 (b) des UN-Übereinkommens gegen die grenzüberschreitende Organisierte Kriminalität definiert „schwere Straftaten“ als Handlungen, deren Höchststrafmaß mindestens vier Jahre Freiheitsentzug oder eine schwerere Strafe beträgt. Der Erläuternde Bericht zur Empfehlung Rec(2005)10 des Ministerkomitees folgt diesem Verweis.
- Randnummer 270 des Urteils. Das bedeutet, dass ich, ebenso wie die Große Kammer, die durch den IPA und den neuen IC Code von 2018 eingeführten Änderungen nicht in Betracht gezogen habe. Sie lagen diesem Gericht nicht vor.
- Vgl. die interessante Diskussion zwischen den Parteien während der Anhörung der Großen Kammer am 10. Juli 2019 zu genau diesem Punkt. Der Gerichtshof hat unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Konkretisierung von Gründen der nationalen Sicherheit vertreten (vgl. „Iordachi and Others v. Moldova“, Nr. 25198/02, Rdnr. 46, 10. Februar 2009, sowie „Kennedy v. the United Kingdom“, oben zitiert, Rdnr. 159).
- Randnummer 146 des Urteils.
- Randnummer 145 des Urteils.
- Vgl. Stellungnahme der beklagten britischen Regierung vor der Großen Kammer vom 2. Mai 2019, S. 9.
- Randnummer 51 des Urteils, welches der Gerichtshof in Randnummer 375 bekräftigt.
- Randnummern 36 und 116 des Urteils, welche sich auf Paragraph 12.2 des IC Code beziehen.
- Randnummer 47 des Urteils.
- Wie die beklagte britische Regierung es ausdrückte: „Die Tatsache, dass elektronische Kommunikation jeden Weg nehmen kann, um ihr Ziel zu erreichen, bedeutet zwangsläufig, dass ein Teil der Kommunikation, die über ein Träger zwischen dem Vereinigten Königreich und einem anderen Staat fließt, aus ‚interner Kommunikation‘ bestehen wird: d. h. Kommunikation zwischen Personen, die sich auf den Britischen Inseln befinden.“ (Vgl. Stellungnahme der beklagten britischen Regierung vor der Großen Kammer vom 2. Mai 2019, S. 9).
- Randnummer 75 des Urteils.
- Randnummer 321 des Urteils. Vgl. zudem das IPT-Urteil „Belhadj & Others v the Security Service & Others“, IPT/13/132-9/H.
- Randnummer 75 des Urteils. Diese Rechtspraxis scheint Paragraph 6.5 des IC Code zu widersprechen.
- Die beklagte britische Regierung hat dies selbst zugegeben. (Vgl. Stellungnahme der beklagten britischen Regierung vor der Großen Kammer am 2. Mai 2019, S. 37).
- Es reicht nicht aus zu argumentieren, dass, da die britische Gesetzgebung „verhindert, dass abgehörtes Material nach einem Faktor ausgewählt wird, der sich ‚auf eine Person bezieht, von der bekannt ist, dass sie sich derzeit auf den Britischen Inseln aufhält‘, jede sich daraus ergebende unterschiedliche Behandlung nicht direkt auf der Staatsangehörigkeit oder der nationalen Herkunft, sondern vielmehr auf dem geographischen Standort beruht“, wie es das Urteil der Großen Kammer getan hat (§ 517), und zwar aus dem offensichtlichen Grund, dass die überwiegende Mehrheit der Personen, von denen bekannt ist, dass sie sich derzeit auf den Britischen Inseln aufhalten, britische Staatsbürger sind, und umgekehrt die Mehrheit der Personen außerhalb der Inseln Ausländer sind. Die vorteilhaftere Behandlung von Staatsangehörigen wurde auch von der FRA festgestellt (Überwachung durch Geheimdienste, siehe oben, S. 45: „Wenn Geheimdienste eine Überwachung im Inland durchführen, sind die geltenden rechtlichen Garantien im Vergleich zu denen, die für die Überwachung im Ausland gelten, verbessert“).
- IPT, „Human Rights Watch & Ors v SoS for the Foreign & Commonwealth Office & Ors“, 16. Mai 2016: „In Bezug auf jegliche behauptete Annahme, dass ein Verhalten, das unter Abschnitt 68(5) des RIPA fällt, von oder im Namen eines der Geheimdienste durchgeführt wurde, muss ein Beschwerdeführer nachweisen, dass es eine Grundlage für eine solche Annahme gibt, um aufzuzeigen, dass für ihn ein potenzielles Risiko besteht, einem solchen Verhalten ausgesetzt zu sein. Darüber hinaus muss ein solcher Antragsteller in Bezug auf eine entsprechende Beschwerde nachweisen, dass er sich einen wesentlichen Teil der Zeit im Vereinigten Königreich aufhält oder aufgehalten hat.“
- Der Bericht der Venedig-Kommission (oben zitiert, S. 17) übt dieselbe Kritik „aus grundsätzlichen Erwägungen“, ebenso wie der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Förderung des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung, der sich auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte beruft (siehe Rdnr. 313 des Urteils).
- Randnummer 22 meiner Erörterung von „Mursić v. Croatia“ [GC], Nr. 7334/13, 20. Oktober 2016.
- Absatz 16(3) des RIPA.
- Paragraph 6.2 des IC Codes.
- Absatz 5(6)(a) des RIPA sowie Paragraph 6.6 des IC Codes.
- Stellungnahme der beklagten britischen Regierung vor der Großen Kammer am 2. Mai 2019, S. 37.
- Nach Paragraph 6.2 des IC Code, „Abhören nach Absatz 8(4) ist eine Maßnahme der Informationsbeschaffung“.
- Absatz 81 des RIPA definiert die Verhütung und Aufdeckung von Straftaten, nicht aber die Ermittlung.
- Der Bericht der Venedig-Kommission, oben zitiert, S. 11, bringt denselben Punkt an.
- Das britische Parlament hat in seinem ISC-Bericht aus dem Jahr 2015 die mangelnde Unabhängigkeit des Innenministers bestätigt, bevor der IPA im Jahr 2016 neu geschaffen wurde.
- Den geltenden Bestimmungen von Abschnitt 8(4) nach für Material, welches zur Prüfung ausgewählt wird und vertrauliche Informationen darstellt (Absatz 4.32 des IC Code). Die beklagte britische Regierung räumt nun ein, „dass Ersuchen um Kommunikationsdaten zur Identifizierung journalistischer Quellen einer gerichtlichen Genehmigung unterliegen sollten“ (Antwort des Vereinigten Königreichs auf das Memorandum des Menschenrechtskommissars des Europarats über Überwachungs- und Kontrollmechanismen im Vereinigten Königreich, S. 24).
- Randnummern 146-147 des Urteils.
- Dies war auch die Schlussfolgerung des ISC-Berichts aus dem Jahr 2015 (siehe Randnummer 147 des Urteils). Es überrascht daher nicht, dass im Jahr 2016 zwar 3.007 Abhörbefehle ausgestellt, jedoch lediglich fünf dieser Anträge vom zuständigen Minister abgelehnt wurden (Randnummer 170 des Urteils). Die Zahlen sagen alles: Besagter Minister war nur dazu da, die Anträge abzustempeln.
- Randnummer 33 des Urteils.
- Siehe § 347 des Kammerurteils und § 26 der gesonderten Stellungnahme des Richters Koskelo, dem sich der Richter Turković anschließt, der darauf hinweist, dass das britische System in der Tat hinter dem deutschen Schutzsystem zurückbleibt, das zur Zeit von „Klass and Others“ sowie „Weber und Saravia“ bestand.
- Bedauerlicherweise wurde dieser Abschnitt des ISC-Berichts 2015, auf den in Randnummer 142 des Urteils Bezug genommen wird, von der Mehrheit übersehen.
- Paragraph 57 des RIPA 2000.
- Die vom Beschwerdeführer in der Anhörung vor der Großen Kammer am 10. Juli 2019 vorgebrachte Kritik ist berechtigt: Ein einzelner pensionierter Richter, der in Teilzeit und mit einem kleinen Sekretariat arbeitet und eine bescheidene Stichprobenanalyse durchführt, „kann nicht hoffen, eine sinnvolle Aufsicht auszuüben“.
- Zu diesen Grundsätzen und ihrer Rolle innerhalb des Europarats siehe meine gesonderte Stellungnahme im oben zitierten Urteil „Szábo und Vissy“.
- Wie von der beklagten britischen Regierung in der Anhörung vor der Großen Kammer am 10. Juli 2019 eingeräumt.
- Wie von der beklagten britischen Regierung beschrieben (Randnummer 403 des Urteils). Es scheint, dass sogar die internen Richtlinien nicht eingehalten werden (Randnummer 59 des Urteils).
- Paragraphen 6.22 bis 6.24 des IC Code.
- Randnummer 176 des Urteils.
- Erstaunlich ist, dass die Mehrheit in Randnummer 405 des Urteils es lediglich für „wünschenswert“ hält, dass die von der beklagten britischen Regierung vor der Großen Kammer beschriebene Praxis im Gesetz verankert wird.
- Mit dem IPA wurde eine Verpflichtung für den IC Commissioner eingeführt, zu prüfen, ob ein schwerwiegender Fehler vorliegt und ein öffentliches Interesse an der Benachrichtigung des Einzelnen besteht, allerdings ist diese Vorschrift im vorliegenden Fall nicht Gegenstand des Gerichts. Diese Entscheidung für das IPA ist ein Eingeständnis, dass das vorherige System unzureichend war, und es bleibt abzuwarten, ob die im IPA vorgesehene Lösung ausreichend ist.
- Verschärft wird dies durch den NCND-Grundsatz („neither confirm, nor deny“) der Regierung, der „eine Person daran hindert, jemals zu erfahren, ob er oder sie Ziel einer Überwachung war“ und „Überwachungsentscheidungen vor einer wirksamen Kontrolle abschirmt“, wie der Menschenrechtskommissar des Europarats feststellte (Memorandum, oben zitiert).
- So verkennt die Schlussfolgerung der Mehrheit, es handele sich beim IPT um „einen robusten Rechtsschutz für jeden, der den Verdacht hat, dass seine oder ihre Kommunikation abgehört wurde“ (§ 415), den offensichtlichen Mangel des Systems: seinen fiktiven Charakter für diejenigen, die keinen Grund zur Annahme haben, dass sie einer geheimen Überwachung unterworfen worden sind.
- Absatz 69(1) des RIPA.
- Die beklagte britische Regierung sagte, dass „das Gesetz bereits vor der Veröffentlichung von Kapitel 12 des Code infolge der Offenlegung ‚zugänglich‘ war“, wobei sie sich auf die Offenlegung vom Oktober 2014 bezog (siehe ihre Bemerkungen vor der Großen Kammer vom 2. Mai 2019, S. 49). Dies zeigt, dass selbst die Regierung zugibt, dass das Gesetz vor diesem Zeitpunkt nicht zugänglich war.
- Randnummer 116 des Urteils.
- Randnummer 263 des Urteils.
- Mit den Worten der beklagten britischen Regierung in der Anhörung vor der Großen Kammer am 10. Juli 2019: „Insoweit die eigentliche Frage also lautet, ob Sie viele Daten haben, auch nach dem Ende Ihres Filterungsprozesses, lautet die Antwort auf diese Frage ‚ja‘, und das ist eine ganz schön gute Sache, wie wir meinen.“
- Randnummern 502 und 503 des Urteils.
- Randnummer 362 des Urteils.
- Randnummer 513 des Urteils.
- Leider ignorierte der Gerichtshof die Position des Menschenrechtsausschusses in seinen Abschließenden Bemerkungen zum Vereinigten Königreich aus dem Jahr 2015, UN Doc. CCPR/C/GBR/CO/7, 17. August 2015, Rn. 24, wo er seine Besorgnis über das „Fehlen ausreichender Schutzmaßnahmen in Bezug auf die Erlangung privater Kommunikation von ausländischen Sicherheitsbehörden und die Weitergabe persönlicher Kommunikationsdaten an ebendiese Behörden“ zum Ausdruck brachte.
- Dies ist genau das, was die Venedig-Kommission fordert (siehe Randnummer 201 des Urteils).
- Paragraph 7.3 des IC Code (vgl. Randnummern 96 und 390 des Urteils).
- Mündliche Ausführungen der beklagten britischen Regierung in der Anhörung der Großen Kammer vom 10. Juli 2019.
- Randnummern 422-423 des Urteils.
- Siehe die mündlichen Ausführungen der beklagten britischen Regierung während der Anhörung in der Großen Kammer am 10. Juli 2019. Auf diese Weise könnte die abhörende Behörde über eine Massengenehmigung in den Besitz von Inhalten gelangen, die sie über eine individuelle und gezielte Genehmigung nach Abschnitt 8 hätte erlangen müssen, und könnte somit das oben zitierte Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache „Kennedy v. the United Kingdom“ umgehen.
- Randnummer 420 des Urteils.
- Mein Urteil beruht auf meiner eigenen Erfahrung als Strafrichter in hochkomplexen Strafsachen, in denen die Polizei häufig die Überwachung riesiger Mengen zugehöriger Kommunikationsdaten beantragt hat.
- Randnummer 450 des Urteils.
- Man vergleiche und stelle die §§ 420 und 421 gegenüber. Beachten Sie, dass die Formulierung in § 420 „die wichtigste gesetzliche Schutzmaßnahme“ lautet, während sie in § 421 auf „eine wichtige Schutzmaßnahme“ abgeschwächt wird. Die ungenaue Formulierung in § 421 ist verwirrend, aber noch beunruhigender ist der Mangel an Substanz. Die schiere Manipulation der Sprache ist ausschlaggebend für die unterschiedliche Gewichtung der in den §§ 381 und 382 aufgeworfenen „Bedenken“ im Bereich der Massenüberwachung zugehöriger Kommunikationsdaten durch das Gericht. Das i-Tüpfelchen ist offensichtlich die „Gesamtwürdigung“, die es dem Gerichtshof erlaubt, zu jedem beliebigen Ergebnis zu gelangen (siehe meine Analyse dieses Kriteriums der „Gesamtgerechtigkeit“ in meinen Stellungnahmen zu „Muhammad und Muhammad v. Romania“ [GC], Nr. 80982/12, 15. Oktober 2020, und „Murtazaliyeva v. Russia“ [GC], Nr. 36658/05, 18. Dezember 2018).
- „Szábo and Vissy“, oben zitiert, § 70: „Die von der bestehenden Rechtsprechung des Übereinkommens zu Überwachungsmaßnahmen geforderten Sicherheiten müssen verbessert werden, um das Problem solcher Überwachungspraktiken anzugehen.“ Auch in der PACE-Entschließung 2045(2015) wird auf die Notwendigkeit einer verstärkten Kontrolle der Massenüberwachung hingewiesen.
- 277 US 438.
- Randnummer 226 des Urteils.
- Randnummern 211, 217, 239-241 des Urteils.
- Randnummer 234 des Urteils.
Übersetzt mit www.deepl.com/ von Constanze Kurz und Holly Hildebrand, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Gastautors.
Das Urteil – und wohl auch die Minderheitsmeinung – übersehen den wichtigsten Punkt: Was nämlich vor dem „Informationsaustausch mit Geheimdiensten „befreundeter“ Staaten“ passiert. Oder passieren kann: Das nämlich europäische Geheimdienste bei „befreundeten“ Geheimdiensten Überwachungen in Auftrag geben, die ihnen verboten sind.
Denn die wenigen Regeln, die etwa US-Überwachungsmaßnahmen einschränken, gelten nur bei Maßnahmen, die US-Bürger betreffen. Für Überwachungen im Rest der Welt gibt es keinerlei Einschränkungen.
So haben US-Geheimdienste die Bundeskanzlerin ausspioniert und behalten sich ausdrücklich vor, das auch weiterhin zu tun.
Sind die Richter tatsächlich der Ansicht, dass es legitim wäre, wenn der BND eine Kopie der Daten anforderte? Wohlgemerkt ohne Wissen und Genehmigung der Kanzlerin oder des Bundestages?
Und – das Urteil verbietet das ausdrücklich nicht – sind die Richter der Ansicht, dass der BND ein Ausspionieren der Kanzlerin oder des Bundestages oder von Richtern bei „befreundeten Geheimdiensten“ in Auftrag geben darf? Direkt durch eine Aufforderung oder indirekt durch eine „unschuldige“ Frage, ob denn entsprechende Daten vorlägen?
Ein Geheimdienstkontrolle findet effektiv nicht statt, wie die NSA- und NSU-Untersuchungsauschüsse gezeigt haben, und die lapide, nachträgliche Information der Regierung über den Einsatz israelischer Massenüberwachungssoftware bei unseren Geheimdiensten. Nicht auf Nachfrage von Kontrollinstanzen, sondern nachdem Medienberichte die Information publik gemacht.
Haben die Richter mit ihrer Zustimmung zum “ Informationsaustausch mit Geheimdiensten „befreundeter“ Staaten“ effektiv den Geheimdiensten effektiv alle Grenzen für die Überwachung durch Geheimdienste abgeschafft?
Für mich der Schlüsselsatz im Fazit:
„In dem vorliegenden Urteil hat sich der Gerichtshof der faktischen Existenz der allgemeinen Massenüberwachung gebeugt und dabei gefährlicherweise angenommen, dass sie zulässig sein sollte, wenn sie nützlich ist.“
Das höchste Gericht der EU beugt sich also den Tatsachen, die von Geheimdiensten – unter stiller Duldung der Politik – entgegen Recht und Gesetz geschaffen wurden! Was „nützt“ ist also erlaubt. Das wirft bei mir Fragen auf:
– Wo bauen wir denn jetzt das europäische Guantanamo?
– Werden Folterknechte verbeamtet?
– Ab wann kommen die Geheimgerichte, mit geheimen Richtern und Zeugen, die geheime Urteile fällen – und dann verschwinden Menschen (s. China, Philipinen, Kolumbien, …).