Interview zu Tech-Gewerkschaften und WikipediaDigitale Gewerkschaftsarbeit ist noch ziemlich neu

Wir sprechen mit Yonatan Miller, Gründer der Tech Workers Coalition Berlin, über den von der Organisation geplanten Edit-a-thon. Er erklärt, warum wir dringend bessere Wikipedia-Artikel zu Gewerkschaften im Technologie-Sektor brauchen.

Collage aus Bildern von Gewerkschaften, dem Logo von Wikipedia und der Tech Workers Coalition
Mehr Bilder wären ein Anfang für Gewerkschaften auf Wikipedia. – Hintergrund schwarz-weiß: Public Domain, Hintergrund Farbe: CC BY 2.0 Fibonacci Blue, Wikipedia-Logo: CC-BY-SA 3.0 Wikimedia Foundation, Collage: netzpolitik.org

Die Tech Workers Coalition (TWC) hilft Arbeitenden im Technologiebereich, ihre Interessen zu vertreten. Sie unterstützt sie besonders dabei, Betriebsräte zu gründen. Damit bisherige und aktuelle Bemühungen in diese Richtung nicht vergessen werden, organisiert TWC nun einen Edit-a-thon auf Wikipedia. Wir sprechen mit Yonatan Miller, dem Gründer der TWC Berlin, über das Projekt.

netzpolitik.org: Für den Anfang – was ist die Tech Workers Coalition und welche Ziele verfolgt sie?

Yonatan Miller: Die Tech Workers Coalition wurde 2014 in den Vereinigten Staaten gegründet – speziell in der Bay-Area und dem Silicon Valley – und hat sich in den letzten Jahren auf die ganze Welt ausgedehnt. Wir haben inzwischen Ortsverbände in Italien, Indien, dem Vereinigten Königreich und Deutschland.

In den USA wurde TWC speziell als Worker’s Center geplant, also nicht als Gewerkschaft, sondern geografisch orientiert. Worker’s Center gibt es normalerweise in Bereichen, die schwer gewerkschaftlich zu organisieren sind. High-Tech- oder IT-Unternehmen gehören definitiv dazu.

Für mich ist TWC ein erster Anlaufpunkt für jemanden, der oder die vielleicht noch keine so genaue Vorstellung von Arbeitnehmervertretung hat. Besonders in Deutschland ist das auch sehr kompliziert, es gibt so viele Abkürzungen und Abkürzungen von Abkürzungen. Ich stelle mir TWC als die Startseite der Arbeitnehmervertretung vor.

netzpolitik.org: Hat das bisher funktioniert? Wie lange seid ihr schon aktiv und wie groß ist die Organisation in Berlin?

Yonatan Miller: Ich persönlich lebe seit fünf Jahren in Berlin. TWC wurde im Juni 2019 gegründet und bei unserem ersten Treffen sind 30 Leute gekommen. Seitdem hatten wir zwischen 20 und 40 Leuten bei unseren monatlichen Treffen. Dann gibt es noch Trainings. Das größte Training bisher war zur Gründung von Betriebsräten, mit ungefähr 50 Leuten. Insgesamt hatten wir mehrere hundert Leute über das letzte Jahr da, sogar während Corona, während der Zoomifizierung von Treffen.

„War das jetzt Zeitverschwendung?“

netzpolitik.org: Wisst ihr, wie viele Leute nach diesen Treffen auch tatsächlich Betriebsräte gegründet haben?

Yonatan Miller: Das war für uns auch eine sehr große Frage, weil wir diese Art von Training hatten und dann, was dann? War das jetzt Zeitverschwendung? Haben wir vielleicht sogar Leute abgeschreckt?

N26 war der bekannteste Fall, in dem Leute einen Betriebsrat gegründet haben, nachdem sie bei einem unserer Trainings waren. Dann gab es noch andere Beispiele wie Cobot, ein kleineres Unternehmen für Co-Working-Software, das viele Tech-Treffen in einem Kreuzberger Co-op-Space veranstaltet.

netzpolitik.org: Bisher gibt es die TWC in Berlin. Gibt es Pläne, auch in anderen Städten in Deutschland Ortsverbände zu gründen?

Yonatan Miller: Wir schauen uns ganz besonders Leipzig an. Dafür gibt es ein paar strategische Gründe. Es ist sehr nah an Berlin dran und es gibt Überlappungen bei den Gewerkschaften, zum Beispiel Berlin-Brandenburg-Sachsen bei der IG Metall. Und es gibt ein Amazon Fulfillment Center beim Flughafen Leipzig/Halle.

Wenn man sich Süddeutschland anschaut, gibt es da schon eine ziemlich organisierte Gewerkschaftspräsenz in der Produktion. Das ist auch eine Frage für mich: Wäre so etwas wie die Tech Workers Coalition nützlich?

netzpolitik.org: Wie waren eure Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den deutschen Gewerkschaften?

Yonatan Miller: Ich persönlich bin ein Mitglied von IG Metall. Die meisten unserer Mitglieder sind entweder bei ver.di, IG Metall oder der FAU. Im Essenslieferbereich haben wir auch Leute bei NGG.

„Die meisten Gewerkschaften in Deutschland verstehen die Notwendigkeit von dem, was wir tun“

Die Gewerkschaften in Deutschland verstehen die Herausforderungen mit jungen Leuten und im IT-Bereich. Deshalb sind sie glücklich, dass es etwas wie TWC gibt, ob bei Kollaborationen durch Kampagnen in den sozialen Medien oder ob sie sogar bei unseren Betriebsratstrainings mitmachen.
Wenn Leute fragen „Was ist der Unterschied zwischen einem Betriebsrat und einer Gewerkschaft?“, können wir einfach auf sie zeigen und sagen: „Hier ist eine Gewerkschaftssekretärin, die euch durch den Prozess zur Gründung eures Betriebsrats leiten wird.“

netzpolitik.org: Also gute Zusammenarbeit?

Yonatan Miller: Ja, gute Zusammenarbeit.

netzpolitik.org: Wie funktioniert die internationale Kooperation zwischen den Ortsverbänden in der Tech Workers Coalition?

Yonatan Miller: Wir teilen uns Kommunikationsinfrastruktur und veranstalten monatliche internationale Anrufe. Wir teilen monatliche Updates: Als Kickstarter eine Gewerkschaft gebildet hat, das war die erste Tech-Gewerkschaft in den USA, das war ein monumentaler Moment – bis zu anderen Dingen wie der Alphabet-Gewerkschaft, die internationale Bedeutung hat. Und dann reden wir über bestimmte Themen, zum Beispiel Kastendiskriminierung im Tech-Bereich.

Es gibt eine Lesegruppe in New York und San Diego, und dann eine für die Proteste der indischen Landwirte in Berlin, zusammen mit Leuten aus unserem Ortsverband in Bangalore, die bei den Protesten dabei sind. Zwischen den verschiedenen Städten gibt es da viele Verbindungen.

netzpolitik.org: Habt ihr Kontakt zu Arbeitnehmervertretungen weiter oben in der Lieferkette, etwa bei Handy- oder Mikrochipfabriken?

Yonatan Miller: Das ist eine der Herausforderungen. Die Tech Workers Coalition zieht hauptsächlich Angestellte an, die oft, aber nicht immer, in einem Büro arbeiten.

Bei der Hardwareproduktion reden wir über Arbeitende in Kobaltminen und so weiter, aber wir haben keine sehr guten Kontakte. Das ist etwas, das sich ändern muss. Ich lerne mehr und mehr, während ich mir die globalen Lieferketten anschaue. Es ist nicht so, dass jemand einfach nicht daran gedacht hat, sondern dass das sehr schwierig ist.

netzpolitik.org: Helfen die Kontakte zu den großen Gewerkschaften dabei?

Yonatan Miller: Wir lernen mehr und mehr über globale Dachverbände von Gewerkschaften. Die haben eine Art von juristischer, von politischer Übersicht über 150 und mehr Länder. Das ist für jemanden, der oder die vielleicht nicht einmal die eigenen Mitarbeiter*innen auf dem eigenen Arbeitsplatz kennt, schwer zu erreichen.

Das ist eine Hoffnung, die ich für den Edit-a-thon auf Wikipedia habe: Es gibt genug bekannte, öffentliche Fälle von gewerkschaftlicher Organisierung im Tech-Bereich, aber wenn wir diese umfassende Definition oder dieses umfassende Verständnis davon haben wollen, muss sich das auch in der Literatur widerspiegeln.

Wikipedia ist als Medium sehr passend für die Menge dieser komplexen Informationen und auch für den Zugang in mehreren Sprachen. Nicht alle, mit denen man spricht, sprechen notwendigerweise Englisch, vielleicht gibt es da eine lokale Sprache für ein spezifisches Land. Französisch wäre so eine Lingua Franca, die ich nicht beherrsche, aber ist eine wichtige Sprache, wenn man über globale Politik sprechen will. Ich könnte wahrscheinlich nicht sagen, was Orange oder Teleperformance gerade machen, weil zu ihnen das meiste auf Französisch geschrieben wird, auch wenn es globale Konglomerate sind.

netzpolitik.org: Euer Edit-a-thon soll vom 19. bis zum 21. Februar laufen. Ihr wollt Artikel zu Gewerkschaften im Technologiebereich in der englischen Wikipedia verbessern. Zuerst einmal, was ist ein Edit-a-thon?

Yonatan Miller: Ein Edit-a-thon ist eine kurze, intensive Periode, in der wir ein Projekt gemeinsam durchziehen und danach die Ergebnisse teilen. Wegen Corona findet das nun rein online statt.

Wir haben eine Liste von Themen vorbereitet, zu denen Leute Beiträge verbessern oder ganz neue Artikel erstellen können. Das sind nur Vorschläge, sie können natürlich auch zu anderen Themen arbeiten. Nachdem Leute sich beim Wikipedia-Event angemeldet haben, können wir entweder Unterstützung liefern oder Fragen beantworten und danach eine allgemeine Übersicht veröffentlichen.

Das erzeugt ein wunderbares Erfolgserlebnis. Beinahe alle haben schon einmal Wikipedia gelesen, aber nur wenige Leute bearbeiten Wikipedia. Das wird ein Weg zu sein, das umzudrehen.
Wenn Leute im Internet nach „Was ist eine Tech-Gewerkschaft?“ oder „Was ist eine IT-Gewerkschaft?“ suchen, finden sie normalerweise die Tech Workers Coalition. Aber ich denke, dass ein Teil dieser Information auf Wikipedia besser aufgehoben und widerstandsfähiger wäre.

„Alles davon hat Geschichte.“

Die Leute sollten auf Wikipedia auch Informationen zu komplexen Themen wie Betriebsräten oder Gesetzesänderungen finden können. Manchmal denken Leute: Wenn etwas nicht auf Wikipedia ist, ist es nicht wichtig. Das ist ein Trugschluss.

In dem Rennen der letzten Jahre, über Tech-Gewerkschaften zu sprechen, gibt es ein Risiko, auf eine Weise die historischen Bemühungen in Richtung dieser oder vergangener Initiativen zu überdecken. Ob das IBM-Arbeiter*innen sind, die gegen die südafrikanische Apartheid gekämpft haben, oder die Rolle von IBM in der Shoah, oder die Herausforderungen von Diskussionen zum Outsourcing in der IT in den Achtzigern – alles davon hat Geschichte.

netzpolitik.org: Was denkst Du, warum es so große Lücken bei Themen zur Arbeitnehmervertretung auf Wikipedia gibt?

Yonatan Miller: Es hat wahrscheinlich zwei Seiten. Wikipedia ist grundsätzlich eine Plattform mit einem sehr großen Bias. Wer auch immer etwas anderes sagt, lügt sich selber an. Dass die überwältigende Mehrheit der Bearbeiter*innen weiße junge Cis-Männer ist, ist kein gutes Vorzeichen. Und dann gibt es da noch einen geografischen Bias, weshalb zum Beispiel US-Gewerkschaften, zumindest die meisten von ihnen, einen Wikipedia-Artikel mit ein bisschen Geschichte haben.

Aber es gibt sehr wenig intersektionale Arbeitnehmervertretung oder allgemeine Übersichten von internationalen Gewerkschaften. Das ändert sich jetzt, wo mehr und mehr junge Leute sich wieder für Gewerkschaften interessieren, aber zweifellos sind global in den letzten zwanzig, dreißig Jahren die Mitgliederzahlen für Gewerkschaften gesunken und deshalb ist es keine Überraschung, wenn auch das auf Wikipedia gespiegelte Interesse abnimmt. Ich versuche natürlich, das zu ändern, aber es geht gegen den Strom.

„Digitale Gewerkschaftsarbeit insgesamt ist ziemlich neu“

netzpolitik.org: Waren Gewerkschaften bisher daran interessiert, die Repräsentation von gewerkschaftlicher Arbeit auf Wikipedia zu verbessern?

Yonatan Miller: Das mag jetzt etwas kontrovers sein, aber ich denke nicht, dass es ein Geheimnis ist, besonders wenn wir über deutsche Gewerkschaften sprechen: Es gibt manchmal eine sehr traditionelle Art, Dinge zu machen, man hat die eigene Zeitung und Broschüre. Digitale Gewerkschaftsarbeit insgesamt ist ziemlich neu, etwa auf Telegram aktiv zu sein oder einen TikTok-Kanal zu haben.

Sowas wie Wikipedia ist chaotisch, es ist nichts, was man kontrollieren kann. Wirklich alle können deine Bearbeitungen rückgängig machen, es ist definitiv keine streng kuratierte Plattform. Wikipedia ist auch nicht dafür gedacht, als Plattform für Aktivismus benutzt zu werden; es ist nicht dafür gedacht, die großen Fehler der Welt richtigzustellen. Aber es gibt genug verlässliche Sekundärinformationen, die der Gewerkschaftsbewegung helfen können.

netzpolitik.org: Gerade Bearbeitungen mit Interessenkonflikten in der Wikipedia sind schwierig, aber so etwas wird immer passieren. Ich denke, Gewerkschaften könnten sich da einklinken und sagen: „Nun gut, wir haben offensichtlich einen Interessenkonflikt, weil das die Sache ist, für die wir kämpfen, aber wir denken trotzdem, dass ihr von uns profitieren könntet.“ Allein die Bildarchive der großen Gewerkschaften wären ein unglaublicher Gewinn für Wikipedia.

Yonatan Miller: Da stimme ich völlig zu, ich denke, Archive könnten viel helfen und ich denke auch, dass es eine sehr wirksame Art ist, die eigenen Errungenschaften hervorzuheben.

Meine Hoffnung wäre auch, dass sich das Bild von Gewerkschaftsarbeiter*innen in Zukunft nicht nur auf den Bauarbeiter mit diesem Helm in einem Schwarzweißfoto beschränkt. Das ist ein Teil davon, aber nicht alles.

netzpolitik.org: Ich habe neulich auf Commons nach etwas gesucht, es gab hoch aufgelöste Farbfotos. Dann habe ich nach etwas zu Gewerkschaften gesucht – sofort die klassischen Schwarzweißfotos von vor hundert Jahren.

Yonatan Miller: Seitdem ist wohl nichts passiert. War eine nette Idee.

netzpolitik.org: Eine letzte Frage: Wirst du nach dem Edit-a-thon weiter Artikel zu gewerkschaftlicher Arbeit auf Wikipedia verbessern?

Yonatan Miller: Auf jeden Fall. Ich denke, besonders während der Corona-Pandemie ist das Interesse an Gewerkschaften stark angestiegen und ich denke, wir haben eine Verantwortung – ich denke, dass ist eins der wichtigsten Projekte, die gerade am Laufen sind.

Es ist ziemlich toll, dass wir ein Team von Leuten auf der ganzen Welt haben, die sich gegenseitig helfen, ob es um kambodschanische Gewerkschaften geht oder die Geschichte der Solidaritätsfaust. Das ist echt fantastisch.

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