Corona und ClubkulturDie elektronische Tanzfessel

Wie weit darf Pandemiebekämpfung gehen und wo beginnt die Dystopie? In Stuttgart sollen im Namen der Wissenschaft Club-Besucher:innen überwacht werden. Dabei gäbe es bessere Alternativen.

Menschen in einem Club
Ein Projekt in Stuttgart will Clubbesucher:innen auf Schritt und Tritt überwachen. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Alexander Popov

Schöne neue Welt: Junge Menschen tanzen in einem Stuttgarter Club und ihre Position wird die ganze Zeit überwacht. Ob beim Tanzen, an der Bar, im Flur und vielleicht sogar beim Gang auf die Toilette. Die gesammelten Daten sollen sowohl der Wissenschaft wie auch den Clubbetreibern zur Verfügung stehen. Helfen soll das angeblich gegen Corona, um Öffnungen „smart“ zu gestalten.

Der Gemeinderat der Stadt Stuttgart entscheidet am Donnerstag über das Projekt: Besucher:innen einer Diskothek oder anderen Institutionen der Jugendkultur sollen einen Tracker im Schlüsselanhängerformat bekommen, der ihre Position überwacht und die Menschen darüber hinaus warnt, wenn sie einer anderen Person zu nahe kommen.

Laut dem Konzept werden die Schlüsselanhänger von einem RTLS (Real-Time Location System) erfasst, „so dass zu jedem Zeitpunkt die genaue Position des Besuchers“ innerhalb der Location erkannt wird. Der Leiter des Projektes, Professor Thorsten Lehr von der Universität des Saarlandes, sagt: „Ein Echtzeit‐Warnsystem meldet unverzüglich potenziell gefährliche Begegnungen durch Vibration oder Alarmton. Ermöglicht wird dies durch den Einsatz eines innovativen und hochpräzisen Ultrabreitband‐Systems, das Abstände bis auf 10 Zentimeter genau erkennen kann.“

Darüber hinaus will das Projekt in der Kontaktpersonenverfolgung „voraussichtlich mit Luca“ zusammenarbeiten. Die Luca-App steht seit Monaten wegen einer nicht abreißenden Kette von Sicherheitsmängeln in der Kritik.

Gemischte Gefühle bei Clubbetreibern

Im Bericht auf Stuttgart.de heißt es weiter: „Weil die Technologie auch Hot Spots aufzeigt, also Orte in den Gebäuden, an denen es vermehrt zu kritischen Kontakten kommt, kann der Betreiber sein Hygienekonzept sogar während der laufenden Veranstaltung verbessern.“ Das bedeutet offenbar: Wenn sich zu viele Menschen zu eng an einem Ort sammeln, schickt der Clubbetreiber seine Security dorthin und schickt die Leute weg.

Beim Stuttgarter Clubkollektiv, dem lokalen Verband der Clubs und Livespielstätten, sieht man das Projekt mit gemischten Gefühlen. Man wünsche sich zwar wissenschaftlich abgesicherte Lockerungen für die Branche, halte es aber für essenziell, dass die entsprechenden Akteure eingebunden würden. „Dies ist bei diesem Antrag bisher nicht passiert“, sagt Clubkollektiv-Sprecherin Hannah Japes gegenüber netzpolitik.org.

Grundsätzlich würde man gern „mehr über Ansteckunspotentiale und -situationen erfahren“, das Wissen allein ohne konkrete Handlungsempfehlungen sei für die Clubs jedoch nutzlos. Ebenso gebe es noch offene Fragen zu ethischen und datenschutzrechtlichen Aspekten, etwa bei Personentracking und App-Auswahl.

Fast 500.000 Euro soll das Stuttgarter Projekt kosten, es soll über neun Monate laufen. Fraglich ist, ob das Projekt bei niedrigen Inzidenzen überhaupt noch brauchbare Ergebnisse liefert, was die Erkennung von Ansteckungen betrifft.

„Verletzung der Privatsphäre“

Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC), hält das Stuttgarter Vorhaben für ein extremes Beispiel, welches übertriebenen Technikoptimismus mit Überwachungsrisiken verbinde. Niemand gehe in einen Club, um dort von einem Gerät genervt zu werden, wenn man einen Mindestabstand unterschreite.

„Das Tracking davon, wer mit wem zusammen steht oder tanzt, verletzt die Privatsphäre der Besucher:innen.“ Inzwischen sei klar, dass Abstandsregeln keinen signifikanten Beitrag zur Infektionsvermeidung leisten würden. „Solche Regeln auch noch mit einer Überwachungstechnologie durchzusetzen, ist der falsche Ansatz.“

Rieger fordert stattdessen, dass Clubs Zuschüsse bekommen, um ihre Innenräume mit Be- und Entlüftungsanlagen auszurüsten, die dem Stand der Wissenschaft für eine starke Reduktion des Aerosol-Infektionsrisikos entsprechen.

Eine weitere Alternative, die in anderen Städten getestet werden sollen, sind beispielsweise PCR-Pool-Tests vor dem Clubbesuch. Diese können eine Infektion im Club dann nahezu ausschließen.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

6 Ergänzungen

  1. Es gab auf einem Doku-Kanal (Nachrichten-Sender) mal einen Bericht über Forschung zu Effektiver Evakuierung. Z.b. bei Sinkenden Schiffen (Beispiel: Estonia). Dort wurden Räume und Menschansammlungen nur Simuliert und ich erinnere mich nur an ein Teilergebnis das eine kleine Änderung (breitere Türen meine ich) stau’s vermied und die Zeit minimierte. Mit der hier angesprochenen Technologie könnte man diese Simulationen auch mit Echten Menschenmengen durchführen. Denn ich denke nicht alle Menschen sind in solchen Fällen Rational und ein Echter Test könnte andere Ergebnisse liefern. Wenn die Teilnehmer quasi Statisten sind die nur zu dem Zeitpunkt die Tracker tragen ist das auch anonym und m.E. nicht datenschutzproblematisch. Wenn es denn wg. Pandemie überhaupt machbar wäre…

    Aber mal so gefragt: Sind die o.g. Tracker denn überhaupt Personalisiert? Vielleicht mittels am Eingang erfassten negativen Corona-Test? Wenn nicht, wo ist das Datenschutzrisiko wenn man maximal erkennen kann das Summe X an Trackern mit den IDs(Tabelle Y) an einem Ort (Tresen?) enger beieinander stünde.
    Diese Info erhielte man auch über eine Videokamera, allerdings nur auf einen Ort und nicht Live verfolgbar (außer es käme noch gesichtserkennung hinzu).

    Braucht man eine Personalisierung wirklich? Den Forschungszweck erreicht man m.E. auch ohne und dann sehe ich kein Problem.

  2. Weshalb nutzt man nicht die Corona Warn – app, die genau für solche Zwecke entwickelt wurde. Und seit kurzen auch die Möglichkeit bietet, sich etwa bei Club-Besuchen ein zu checken?

    Im Gegensatz zu Anhängern hat die App zudem die Möglichkeit, Warnungen aus zu spielen, wenn jemand später positiv getestet werden sollte.

    Die Möglichkeit, (akustische) Warnungen aus zu geben bei potentiell gefährlichen Kontakten (zu lange zu wenig Abstand) wäre eine sinnvolle Ergänzung für die CWA, die allerdings auch für weniger als 500000 Euro zu implementieren sein sollte.

  3. Ich bin Stadtrat der PIRATEN in Stuttgart und werde mit den anderen Mitgliedern unseres 60-köpfigen Gemeinderats darüber heute entscheiden. Warum dieses Konzept mindestens starkes Unbehagen auslöst, wurde hier schon erklärt.

    Ein paar Ergänzungen nach der interessanten Sitzung des Verwaltungsausschusses gestern mit Fragerunde an Prof. Lehr und Prof. Ehehalt (Leiter Stuttgarter Gesundheitsamt) kann ich machen:

    1. es gibt definitiv zuwenige wissenschaftliche Studien zu solchen Infektionsthemen seit Beginn der Pandemie, was einer der Hauptgründe für dieses Projekt ist.

    2. selbstverständlich wird dies nur in Clubs versucht werden, die eine nach Pandemie-Maßstäben ausreichende Belüftung haben (die Luft muss stets unter 600 ppm CO2 liegen, Luftfeuchtigkeit auch nicht weit über 50%).

    3. wir waren uns einig, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die bislang (und möglicherweise auch auf Dauer) gefährlichste SARS-CoV2-Variante Delta (oder B1.617.2, zuerst in Indien massiv aufgetreten und jetzt auch in Großbritannien, hat dort Alpha (B1.1.7, die bei uns noch dominiert) als vorherrschende Variante abgelöst), eine vierte Welle auslösen wird, die möglicherweise zur Schlimmsten bisher überhaupt werden wird – nur eine vollständige Impfung hilft gegen diese Variante, die erste Impfung ist nahezu nutzlos.

    4. auch Außenveranstaltungen werden als möglicher Untersuchungsgegenstand erachtet, sind jedoch noch nicht konkret geplant.

    5. es wird ein Mischkonzept geben aus Pseudonymisierung (getrennte Identifikationslisten) und Anonymisierung, geplant ist die Löschung der zur Identifikation nötigen Daten zwei Wochen nach Erhebung (Anlass Infektionsverfolgung fällt dann weg).

    6. die Clubs müssen sich aktiv um die Teilnahme bewerben – tut es keiner, hat sich das Projekt von selbst erledigt.

    7. Clubbesucher werden um eine Einwilligung der Kontaktverfolgung ersucht, obwohl diese streng genommen nicht erforderlich wäre (Infektionsschutz und wissenschaftliche Zwecke können hier Ausnahmen begrüngen) – die Freiwilligkeit ist natürlich nicht gegeben, da ansonsten der Club via Hausrecht keine Zutrittserlaubnis erteilen wird.

    8. gefährlich ist daran m.E. v.a. die Gewöhnung an präzise Ortsüberwachung; in Verbindung mit der Sehnsucht der Clubgänger nach so langer Schließung ist zu erwarten, dass mindestens 90% das mitmachen werden, um überhaupt mal wieder rein zu dürfen.

    9. ob solche „Menschenversuche“ (man könnte die Teilnehmer polemisch Laborratten nennen) ethisch zu rechtfertigen sind, ist natürlich auch eine valide Frage – allerdings sind auch Impfstofftests auf Versuche mit lebenden Menschen angewiesen.

  4. Nun ja. Es gibt ein Virus. Was machen wir in diesem Land? Wir zoomen auf das Virus. Jeden Tag schlechte Nachrichten. Manchen gefällt das nicht, so hat z.B. das ZDF mittlerweile sowas wie „Good News“ im Portfolio – https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/good-news-blog-100.html

    Aber, was wenn man nun nicht mehr auf das Virus zoomt, sondern auf die Virus-Varianten?

    Da wird es widersprüchlich.

    Einerseits heißt es: Gefährlicher. Ansteckender.

    Andererseits ist die Mortalität von „Delta“ (bei einem Verbreitungsgrad von ca. 20%) um den Faktor 10 geringer als die Mortalität von „Alpha“ (bei einem Verbreitungsgrad von ca. 80%). Max. 2% vs. max. 0,2% (Quelle: https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/994839/Variants_of_Concern_VOC_Technical_Briefing_16.pdf – Table 2)

    Das deckt sich dann auch wieder mit einem Interview vom ZDF, das im letzten Jahr über ZDF Info lief, nachdem ein Wissenschaftler die Erwartung geäußert hat, dass das Virus mit der Zunahme von Mutationen gleichzeitig an Stärke verlieren werde.

    Wenn es wirklich so ist, dass die Delta-Variante die dominante Variante wird, dann bedeutet das (so lese ich die Statistik), dass die Mortalität um den Faktor 10 zurückgeht!

  5. Vielleicht habe ich die Studie auch falsch gelesen. In der Einleitung heißt es:

    „by combining genotyping and sequencing,more than80% of cases in England now have a variant test undertaken•the most recent data show thatthe Delta variant comprises91% of sequenced cases•deaths are now presented for those cases whichhave completed the28-day follow-upperiod–the crudecase fatality rate remains lowerfor Delta than other variantsat present; however,mortality is a lagged indicator, which means that the number of cases who have completed 28 daysof follow up is very low–therefore,it is too early to provide a formal assessment ofthe case fatality of Delta, stratified by age,compared to other variants “

    So ganz schlau werde ich daraus im Moment nicht. Offenbar macht Delta 91% der untersuchten Fälle aus (d.h. die Angabe „Case Proportion“ muss etwas ganz anderes meinen). Dann denke ich, dass die „Case Fatality“ bei Delta niedriger ist („at present“), aber für einen Vergleich mit anderen Virus-Varianten ist es (insgesamt oder in Bezug auf das Alter der Verstorbenen?) noch zu früh

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.