Thierry BretonDer Konzernchef als Marktwächter

Thierry Breton war bis vor wenigen Tagen Chef des IT-Konzerns Atos. Ab Dezember soll er als Binnenmarktkommissar der wichtigste Digitalpolitiker der EU werden. Das ist umstritten.

Thierry Breton
Thierry Breton CC-BY 4.0 EC – Audiovisual Service

Thierry Breton ist ein Insider. Der 64-jährige Franzose war Firmenchef von France Télécom und führte bis vor wenigen Tagen den IT-Konzern Atos. Dazwischen war er von 2005 bis 2007 Minister für Wirtschaft, Finanzen und Industrie unter dem konservativen Präsidenten Jacques Chirac. Mehr Establishment geht in Frankreich nicht.

Der französische Präsident Emmanuel Macron nominierte Breton nun für das Amt des Binnenmarktkommissars. Der Atos-Konzern macht millionenschwere Geschäfte mit den EU-Behörden. Ist das für seine neue Rolle als Kommissar ein Bonus oder ein Ausschlussgrund?

Am Donnerstag muss sich Breton einer Anhörung im EU-Parlament stellen. Macrons Wunschkandidatin Sylvie Goulard fiel nach ihrer Anhörung durch. Auch Frankreichs zweiter Wahl könnten Vorwürfe von Interessenkonflikten zu schaffen machen.

Geschäft am „Grenzmauer-Markt“

Atos ist mit 110.000 Beschäftigten einer der größten IT-Konzerne Frankreichs. Das Unternehmen bietet Clouddienste und Datenanalyse an.

Ein wichtiger Kunde ist die Europäische Union – etwa ist Atos an einem System für den Abgleich biometrischer Daten im EU-Visa-Informationssystem (VIS) beteiligt.

Der französische Konzern mischt auf dem „Grenzmauer-Markt“ mit, schreibt das Transnational Institute in einem Bericht. Rahmenverträge mit EU-Institutionen, an denen Atos neben anderen Firmen beteiligt ist, belaufen sich demnach auf rund 200 Millionen Euro.

Atos‘ Umgang mit den sensiblen Informationen in EU-Datenbanken ist umstritten. Zuletzt berichtete die Nachrichtenseite EU Observer, die britischen Behörden hätten – offenkundig als Vorbereitung auf den EU-Austritt – Daten aus dem Schengener Informationssystems (SIS) kopiert und auf britischem Boden in von Atos betriebenen Datenzentren gespeichert.

In Deutschland gab es vor zwei Jahren Ärger für Atos, nachdem Markus Drenger vom Chaos Computer Club auf Schwachstellen in dem von dem Konzern entwickelten elektronischen Anwaltspostfach aufmerksam machte. Atos verlor zuletzt den Auftrag.

Das elektronische Anwaltspostfach war jedoch nicht das einzige Projekt, das Atos für deutsche Behörden durchführte. Der Konzern ist verantwortlich für IT-Systeme des BAMF, für IT-Projekte der Bundeswehr und erhielt zahlreiche Rahmenverträge.

Breton als „Konzernkommissar“

Lobbywächter warnen vor Breton als „dem Konzernkommissar“. Ein Bericht der NGO Corporate Europe Observatory weist auf das intensive Lobbying von Atos in Brüssel hin. Konzernvertreter hatten laut Lobbyregister 22 hochrangige Treffen mit der EU-Kommission seit 2014.

Breton traf Kommissionschef Jean-Claude Juncker sogar zweimal persönlich. Bei den Meetings im Februar 2015 und im März 2016 debattierten sie Cybersicherheit, 5G sowie das „Internet der Dinge“ – und Atos‘ Geschäft mit Clouddiensten.

Beim Treffen 2016 sprachen Juncker und Breton über die Entwicklung der europäischen Wissenschaftscloud – ein möglicher Großauftrag für Atos. „Dieses europäische Großprojekt erfordert die Beteiligung öffentlicher und privater Akteure bei der Finanzierung und Entwicklung seiner Anwendungen“, heißt es in einer Darstellung des Treffens, die die EU-Kommission auf Anfrage an netzpolitik.org schickte.

Der Konzern deklariert indes Lobbyausgaben von weniger als 50.000 Euro im Jahr, obwohl er zumindest zwei Lobbyisten in Brüssel beschäftigt und nach Angaben von Corporate Europe Observatory auch externe Lobbyfirmen bezahlt.

Die Angaben von Atos seien klar irreführend und zeigten einmal mehr die Missachtung der Konzerne für die Transparenzvorschriften der EU, urteilen die Lobbywächter. Sie fordern die EU-Abgeordneten auf, Breton als Kommissar abzulehnen.

Danach sieht es erstmal nicht aus. Das Rechtskomitee des EU-Parlament gab nach Prüfung möglicher Interessenkonflikte grünes Licht für Breton, wenngleich nur mit einer Stimme Mehrheit.

Breton hat indes auch Fürsprecher. Immerhin habe er als früherer Konzernchef viel Erfahrung in der Wirtschaft, urteilt der österreichische Journalist Erich Möchel. „Seine Biografie sieht nämlich aus, als hätte er zeitlebens auf diesen Posten hingearbeitet.“

Breton habe France Telekom und weitere französische IT-Konzerne saniert, schreibt Möchel. Positiv bemerkt er auch, dass Breton in den 1980ern drei Science-Fiction-Romane veröffentlichte, die sich allesamt mit dem Thema Cyberkrieg beschäftigten.

Nach eigenen Angaben verkauft Breton bereits seine Anteile an Atos. Ihr Börsenwert belief sich auf rund 40 Millionen Euro sowie 5,7 Millionen Euro für Aktien einer Tochterfirma.

Ruf nach EU-Champions

In der EU-Kommission von Ursula von der Leyen soll Breton für den digitalen Binnenmarkt zuständig sein. Ihr Missionsbrief gibt ihm die Verantwortung dafür, Europas „technologische Souveränität zu steigern“ und Schlüsselvorhaben wie neue Leitlinien für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz sowie ein Gesetz zur Plattformregulierung voranzutreiben.

Breton dürfte durchaus klare Ideen für die künftige EU-Netzpolitik haben. In einem Interview mit der Zeitung Les Echos im Juli sprach Breton, damals noch kein Kommissarskandidat, sondern Konzernchef, über Cyberkrieg, Künstliche Intelligenz und digitale Industriepolitik.

In dem Interview sagte Breton, Europa müsse ähnlich wie China, Russland oder sogar die USA das Internet regulieren. „Auf der einen Seite sprechen sie sich für eine offene Welt aus, aber auf der anderen setzen sie Regeln innerhalb ihrer Grenzen. Das ist natürlich das, was wir auf europäischer Ebene machen müssen.“

Wie er klarstellt, meint Breton hauptsächlich den Umgang mit persönlichen Daten. Europäische Daten müssten in Europa bleiben und allein europäischem Recht unterliegen, betont er.

Breton wünscht sich europäische Digitalgiganten nach dem Vorbild von Google und Facebook. Bisher sei Europas Digitalpolitik und Industriepolitik vom Wettbewerbsrecht bestimmt worden, dies habe „einige industrielle Katastrophen verursacht“ – offenkundig eine Anspielung auf die Entscheidung von Kommissarin Margrethe Vestager, die Fusion von Siemens mit Alstom aus kartellrechtlichen Gründen zu blockieren.

„Es ist daher notwendig, dass die neue EU-Kommission die Entwicklung wesentlicher europäischer Akteure vorantreibt, die es der gesamten Industrie von gestern ermöglicht, auf einem ebenen Spielfeld mit jener von morgen zu konkurrieren“, sagte Breton.

Die Schaffung von EU-Digitalgiganten verhindert laut dem französischen Ex-Finanzminister zudem die zu hohe Besteuerung von Kapital. Die französische Vermögenssteuer sei „de facto eine Waffe gegen Start-ups“, klagt Breton in einem Video-Interview mit Le Figaro.

Ein englischsprachiges Transkript des Interviews verschwand inzwischen von der Website Bretons, es ist aber noch über die Wayback Machine abrufbar.

In schriftlichen Antworten an das EU-Parlament gab sich Breton diese Woche weitaus weniger markig. Immerhin gelobte er darin Transparenz und Respekt gegenüber dem Parlament, inhaltlich ließ er sich aber kaum Neues abringen.

Am Donnerstag müssen die Abgeordneten entscheiden, ob der bisherige Konzernchef tatsächlich einen guten Marktwächter und politischen Gestalter abgeben kann. Als Kommissar könnte Breton die Netzpolitik der kommenden Jahre entscheidend prägen.

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