EU-Parlament zu Roaming und Netzneutralität: Das Heraufbeschwören der Alternativlosigkeit

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Heute Morgen hat das EU-Parlament in zweiter Lesung über den Standpunkt des Rates „Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet“ debattiert. Hauptsächlich ging es dabei um das Roaming – die Verwässerung der Netzneutralität und entsprechende Änderungsantrage waren kaum Thema. Andrea und Fabian fassen hier die Debatte zusammen.

Update: Die Ergebnisse der Abstimmung über die Änderungsanträge finden sich hier.

Wichtige Dokumente zur 2. Lesung

Statements der Berichterstatterin und des Kommissars Ansip

Zu Beginn der Sitzung äußerten sich die zuständige Berichterstatterin Pilar del Castillo Vera (EPP) sowie Andrus Ansip, der Kommissar für digitalen Binnenmarkt und Vizepräsident EU-Kommission (Videoaufzeichnung).

Berichterstatterin Castillo Vera wies darauf hin, dass viele Personen, Institutionen und Start-Ups in Europa lange auf niedrigere Roaming-Gebühren warten mussten. Nun rücke der „digital single market“ in greifbare Nähe. Es gelte, ein offenes Internet ohne Diskriminierung zu gewährleisten. Damit sei Europa die einzige Region, die eine gesetzliche Netzneutralität gewährleiste.

Kommissar Ansip betonte, dass es nun keine Rechtfertigung für irgendwelche Verzögerungen gibt. Nur durch einen sofortigen Beschluss könnten Konsument*innen und Unternehmen so schnell wie möglich von gemeinsamen Regeln zur Netzneutralität und der Abschaffung zusätzlicher Roaming-Gebühren profitieren. Scheitere der Prozess, hätte dies negative Auswirkungen auf Europa, so Ansip.

Statements aus den Fraktionen

Karin Kariņš (PPE) betonte, dass der Grundsatz der Netzneutralität ein sicheres Investitionsumfeld gewährleiste, von dem auch Unternehmen profitierten. Schon sein Statement ließ die Vermutung zu, dass der Fokus der Debatte auf der halbherzigen Roaming-Abschaffung liegen werde, so auch bei Patrizia Toia (S&D). Sie wies zudem darauf hin, dass die Beschlüsse der amerikanischen Regulierungsbehörde (FCC) zur Netzneutralität keinen Gesetzescharakter haben und sich so jederzeit ändern könnten. Das Prinzip der Nicht-Diskriminierung im Entwurf ist ihres Erachtens kristallklar formuliert.

Vicky Ford (ECR) freute sich, dass bei der Handyrechnung nach dem Urlaub bald keine unangenehmen Schocks mehr eintreten. Der Beschluss werde zudem das Internet sicher, zugänglich und erschwinglich machen. Jens Rohde (ALDE) würde gerne noch weiter gehen, sieht den Vorschlag jedoch als ersten, großen Schritt für die Bevölkerung und Unternehmen.

Als erste kritische Stimme entgegnete Marisa Matias (GUE/NGL), dass so nicht erzielt werde, was das Parlament 2011 wollte: Die vorliegende Regelung der Netzneutralität sei nicht eindeutig. Viele Bürger*innen seien besorgt. Das Internet sei inzwischen Teil des Welterbes, die Neutralität anzugreifen sei ähnlich wie der Angriff auf Palmyra. Sie hoffe außerdem, dass der Roaming-Beschluss nicht wieder aufgegeben werde – wie 2014.

Michel Reimon (Verts/ALE) hat den Protest und die Kritik wahrgenommen und wird gegen den Vorschlag stimmen. Er würde gerne etwas von Günther Oettinger hören, der in der Kommission für diesen schlechten Beschluss verantwortlich sei. Der twittere zwar fleißig mit, aber sollte auch einmal lesen, was die Bevölkerung sagt, stellt Reimon fest.

Dario Tamburrano (EFDD) kritisierte die schlechte Definition des Roamings und einen Vorschlag, der in Wirklichkeit nicht für Netzneutralität sorgen werde. Wer die Warnungen von Tim Berners-Lee beherzige, müsse gegen den Vorschlag stimmen. Barbara Kappel (ENF) hoffte, dass es nach zwei Jahren der Verhandlungen zu einem Ergebnis kommt.

Redebeiträge der Abgeordneten

Es folgten weitere Redebeiträge, von denen wir hier nur diejenigen wiedergeben, die sich nicht nur für den möglichen Roaming-Beschluss feiern, sondern substantiell etwas Neues zur Debatte beigetragen haben.

Henna Virkkunen (PPE) versicherte, dass ISPs mit dem Beschluss nur aus technischen, nicht aus kommerziellen Erwägungen Geschwindigkeiten regulieren können. Petra Kammerevert (S&D) kritisierte, dass der Text gerade keine Netzneutralität biete: Er enthalte weitläufige Ausnahmen und keine hinreichende Eingrenzung der Spezialdienste. Für die Abschaffung des Roamings würden wir so einen hohen Preis zahlen.

Julia Reda (Verts/ALE) fragte sich, warum der EU-Ministerrat weder eine Beschreibung noch das Wort „Netzneutralität“ in den Beschluss aufgenommen hat. Das Internet bleibe so weiterhin langsam und teuer. Sie verwies außerdem auf die Warnungen von Barbara van Schweick und Lawrence Lessig und bat um die Annahme der entsprechenden Änderungsanträge.

Für Jean-Luc Schaffhauser (ENF) stellt der Beschluss eine Illusion dar, so lange es kein europäisches Internet [sic] gebe. Auch wenn sich Marlene Mizzi (S&D) nicht vollkommen zufrieden zeigt, sei es in Zeiten von Europaskepsis wichtig, den Bürger*innen mit der Abschaffung des Roamings einen Gewinn zu hinterlassen.

Juan Carlos Girauta Vidal (ALDE) bedauerte, dass der EU-Ministerrat die Definition der Netzneutralität zurückgewiesen hat. Für Marco Zullo (EFDD) ist jede Einigung ein bisschen besser als gar nichts, Gilles Lebreton (ENF) unterstützt die Änderungsanträge. Hans-Olaf Henkel (ECR) plädierte bei der Gelegenheit für die Abschaffung des Euros. Sabine Verheyen (PPE) ist nicht zufrieden mit der Aufweichung des Beschlusses aus der ersten EP-Lesung und ist enttäuscht, dass niemand vom Rat diese im Parlament begründet. Edouard Martin (S&D) hätte einen klareren Text bevorzugt, will dafür aber nicht „wieder alles aufs Spiel setzen“.

Abschluss

Auch die „Catch the Eye“-Session, in der weitere Redebeiträge aufgenommen werden, brachte keine neuen Erkenntnisse. Zum Abschluss forderte Kommissar Ansip die Abgeordneten auf, die Debatte nicht mit Änderungsanträgen zu verzögern – nicht nur auf Monate, sondern gleich auf Jahre. Zuletzt wies Berichterstatterin Castillo Vera darauf hin, dass heute eine wichtige Entscheidung getroffen wird. Wie recht sie hat!

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Eine Ergänzung

  1. Hm, rein praktisch betrachtet, verstehe ich das Gesamtpaket nicht.
    Aber rein theoretisch ist es jetzt so, dass meine Videoaufzeichnung
    durch den Landrat des Rhein-Neckar-Kreises in Walldorf an der Filmsäule
    (heißt offiziell Blitzersäule) nun schneller an die Kasse vom Landrat geleitet wird, oder?
    Ich habe zum Beispiel drei jpg. Dateien zugesendet bekommen und kann mir nun aus der
    Videoaufzeichnung das schönste Foto aussuchen. Wer es nicht glaubt kann gerne selbst testen.
    Das Filmaufzeichnungsgerät steht nach der Abfahrt Walldorfer Kreuz in der Nähe der
    Druckerpresse Heidelberg und einer großen Softwarefirma.
    Meine Dateien lauten: G04_505650304044_15401500150F1.jpg , G04_505650304044_15401500150K1.jpg und G04_505650304044_15401500150U1.jpg
    Wenn Netzneutralität beschlossen wurde, müsste die öffentliche Überwachung der Strassen durch Video-Blitzer-Säulen nun weiter ausbaufähig sein, oder?
    Weiß jemand wo man sich bewerben muss – das hat Potential, oder?
    Aber mir ist nicht ganz klar, auf welcher rechtlichen Basis der Landrat des RNK hier agiert.
    Hat das Europaparlament die öffentliche Videoüberwachung beschlossen,
    oder der Deutsche Bundestag?
    Hoffentlich war es nicht der Baden-Württembergische Landtag – Schwaben ist alles zuzutrauen.
    Für Rückmeldung wäre ich dankbar. Ich habe nämlich das Problem, dass es aktuell zu viele Bilder werden, die der Landrat hier knipst :-)
    – Ich finde das Thema sehr brisant, schließlich haben LKW-Fahrer lange darum gerungen wie ihre LKW-Maut erfasst wird. Aus diesem Grund verstehe ich die Filmaufnahmen an öffentlichen Strassen und mit Einblick in Vorgärten (bei uns im Ort) nicht. – BIG BROTHER IS WATCHING YOU – GERMANY 2064 – 1984

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