„Marco Civil“ in Brasilien soll bald kommen – Viel zu gewinnen, viel zu verlieren

marco_02_webDer „Marco Civil“ ist prädestiniert dafür, ein Signal für forschrittliche Internetpolitik zu werden. Er ist ein Grundrechtekatalog fürs Internet, der in Brasilien bereits seit 2009 diskutiert wird, nachdem der Widerstand gegen unzeitgemäße und restriktive Rechtssprechung zu Onlineproblemen wie Urheberrecht groß geworden war. Seitdem ist einige Zeit vergangen, in der die „Internetverfassung“ verschiedene Stadien durchlaufen hat. Zur Auffrischung nochmal ein kurzer Überblick:

  • September 2009: Das brasilianische Justizministerium startet mit dem “Zentrum für Technologie und Gesellschaft” eine Online-Plattform, auf der sich jeder zur Gestaltung des „Marco Civil“ äußern kann
  • April 2010: Die bis Dezember 2009 eingegangenen 800 Antworten und Kommentare werden in einem Entwurf zusammengefasst und öffentlich präsentiert
  • September 2010: Wahlen in Brasilien, die Besetzung des Kulturministeriums wechselt zu Ana de Hollanda, die sich im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Gilberto Gil wenig für ein freies und offenes Internet einsetzt – der Marco Civil liegt zunächst auf Eis
  • August 2011: Durch erneute Einführung eines restriktiven Cybercrime-Gesetzes gewinnt der Marco Civil wieder an öffentlichem Interesse und wird von der Präsidentin Dilma Rousseff in die Abgeordnetenkammer eingebracht
  • bis November 2012: Es kommt immer noch zu keiner endgültigen Abstimmung, der Entwurf wird durch massives Lobbying aufgeweicht, vor allem was Netzneutralität angeht
  • Juli 2013: Nachdem bekannt wird, dass auch Brasilien umfangreich von der NSA abgehört wird, rückt der Marco Civil wieder in den Fokus der Debatten
  • September 2013: Rousseff kündigt an, den Marco Civil in einer Schnellabstimmung verabschieden zu wollen
  • 19. März: Die Verabschiedung der Gesetze steht auf der Tagesordnung, wird jedoch auf den 1. April verschoben

Leider ist der Marco Civil, wie er zur Abstimmung steht, nicht mehr das, was er am Anfang war. Es gibt Punkte, die im Laufe der Jahre geändert wurden und zwar größtenteils zu Ungunsten von Netzneutralität, -freiheit und Privatsphäre.

 marcocivil  

 

Was wollen wir?

Die Verabschiedung des Marco Civil

 

 

Und wie wollen wir das?

Mit Privatsphäre, Freiheit und Neutralität für das Internet!!!

 

Netzneutralität

Im ersten Entwurf gab es ein klares Bekenntnis zur Netzneutralität mit einem expliziten Verbot von anlassloser Überwachung, Filterung oder Analyse von Internet-Verkehr durch Provider. Brasiliens Telkos haben durch Lobbying dafür gesorgt, dass diese Bestimmungen so weit wie möglich verschwinden um weiterhin kostenpflichtige „Premium-Dienste“ anbieten zu können. Einer der Hauptakteure und Fürsprecher für Brasiliens Telkos ist dabei der Abgeordnete Eduardo Cunha, er verkündete dreist: „Ich habe sie [die Bestimmungen FÜR die Netzneutralität] nicht gelesen und ich mag sie nicht“.

Datenschutz und freier Internetverkehr

Im Zuge der Snowden-Enthüllungen und der Überwachung Brasiliens durch die NSA entstand die Schlandnet-ähnliche Idee, Dienste im eigenen Land zu halten und ausländische Diensteanbieter wie zum Beispiel Google und Facebook dazu zu verpflichten, Daten über brasilianische Nutzer innerhalb Brasiliens zu speichern. Das löst aber die Probleme nicht, sondern führt potentiell zu noch mehr Überwachungsmöglichkeiten, zumindest für die Behörden im eigenen Land.

Die beiden obigen Punkte stellen auch die Streitthemen bei der Verabschiedung des Gesetzes im der Abgeordnetenkammer des Kongresses und in der Öffentlichkeit dar. Es gab bereits mehrere Kampagnen brasilianischer NGOs. Meu Rio hat die Aktion „Salve a Internet!“gestartet, die dem entspricht, was europäische NGOs im Vorfeld der Verabschiedung von Netzneutralitätsabstimmungen in der EU mit der Kampagne savetheinternet.eu versuchen: Dazu aufrufen, Abgeordnete zu kontaktieren und sich für Netzneutralität einzusetzen.

Wie die Diskussion ausgehen wird und ob die Netzneutralität doch noch im Marco Civil verankert wird, ist noch nicht abzusehen. Es herrscht weiterhin keine Einigung zwischen den Abgeordneten der Kongress-Kammer. Deren Präsident Henrique Eduardo Alves verweist währenddessen darauf, dass die Regelung der Netzneutralität eigentlich ausschließlich in der Kompetenz der Präsidentin liege und sie diese per Verordnung selbst regeln solle. In der Angelegenheit der inländischen Speicherung brasilianischer Nutzerdaten hat sich jedoch eine Lösung abgezeichnet: Noch letzte Woche hatte zwar der Telekommunikationsminister auf dem Mobile World Congress verkündet, man werde an den ursprünglichen Plänen festhalten, aber Präsidentin Rousseff hat mittlerweile umgeschwenkt und sich einverstanden erklärt auf die Verpflichtung zu lokalen Datencentern zu verzichten.

Dass es bei dem Termin nächste Woche tatsächlich zur Abstimmung kommt, ist angesichts der anhaltenden Uneinigkeit zur Netzneutralität unwahrscheinlich. Also noch ein wenig Zeit für NGOs, letzte Versuche zu deren Rettung zu unternehmen. Eine weitere Aktion neben der von Meu Rio ist eine Petition des früheren Kulturministers und populären Musikers Gilberto Gil. Außerdem hat die brasilianische Jugendkulturplattform YouPix Erklärungen und Neuigkeiten zum Marco Civil zusammengetragen.  Es gibt also noch Bewegung und Potential, den Marco Civil (wieder) zu einem fortschrittlichen und wegweisenden Stück Internetgesetzgebung werden zu lassen. Das Signal, das von einer generellen Verabschiedung und Existenz eines Dokuments ausgeht, das Freiheitsrechte im Internet manifestieren will, ist aber auf jeden Fall ein positives. Es steht in Konkordanz mit der Forderung nach einer „Magna Charta“ für das WWW, die Tim Berners-Lee kürzlich geäußert hatte.

Brasilien hat aller Verzögerung zum Trotz vor, den Marco Civil noch vor dem „Global Multistakeholder Meeting on the Future of Internet Governance“ auf den Weg zu bringen. Das Treffen, bei dem wichtige Themen zur Regulierung und Verwaltung des Internets in der Zukunft angesprochen werden sollen, wird Ende April in Sao Paulo stattfinden.

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