Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
„Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, sagte meine alte Mathelehrerin immer. Nicht nur sie. Dieser Weisheit aus der achten Klasse scheint auch Bundesinnenminister Alexander Dobrindt gern zu folgen. Als er vor zwei Wochen den Verfassungsschutzbericht des Jahres 2024 vorstellte, muss er zunächst in recht verwunderte Gesichter geblickt haben. Denn das traditionelle Verhältnis von mehr Rechtsextremisten zu deutlich weniger Linksextremisten schien sich im vergangenen Jahr ruckartig umgekehrt zu haben.
Der Balken des linksextremen Gefährdungspotenzials war eindeutig höher, doch beim zweiten Hinsehen fiel auf: Das Bundesinnenministerium hat es mit der skalaren Vergleichbarkeit wohl nicht so genau genommen. Die Achsen der Grafik waren in einer Weise beschriftet, die die Zahl der Linksextremisten als höher erscheinen ließ als die der Rechtsextremisten – bei einer tatsächlich deutlich geringeren Anzahl.
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Diese Art der Präsentation reiht sich ein in eine Historie der Union und der selbst ernannten „bürgerlichen Mitte“, den mordenden, menschenverachtenden und deutlich gewalttätigeren Rechtsextremismus dem Linksextremismus gleichzustellen. Besonders beliebt dabei die Worthülse: Man lehne doch jeden Extremismus ab.
Denn wenn nicht beide Enden des vermeintlichen Hufeisens gleich schlimm sind, dann verliert auch die selbst ernannte Mitte ihre Legitimität.
Zunehmend könnte man jedoch den Eindruck gewinnen, dass Konservative doch dazu neigen, den einen Extremismus stärker abzulehnen als den anderen.
Laut einem mittlerweile gelöschten Instagram-Post der aktuellen Bundestagspräsidentin Julia Klöckner im Wahlkampf ist die CDU bereits nichts anderes als eine „demokratische Alternative“ zur rechtsextremen AfD. Bei Abstimmungen im Bundestag nahm die Union eine Mehrheit durch die Zustimmung der AfD-Fraktion zumindest hin. Die Berührungsangst zum extremen Rechten scheinen Teile der Union verloren zu haben.
Wer die AfD normalisiert, macht sie wählbar. Das scheinen weite Teile der Union bislang nicht zu verstehen. Denn die Union hat faktisch kein Interesse daran, dass mehr Menschen die AfD wählen – sie will ja selbst gewählt werden.
Doch in genau diese Kerbe der Normalisierung der AfD als möglichen Partner im politischen Geschäft schlägt auch Jens Spahn, wenn er sagt, man müsse die Rechtsradikalen behandeln wie jede andere Oppositionspartei.
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Wer systematisch versucht, Rechtsextremismus herunterzuspielen, indem man ihn mit Linksextremismus gleichsetzt, schafft eine Pseudobalance, die die erdrückende Gefahr vernebelt, die vom Rechtsextremismus ausgeht.
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!
Das Gedicht „Rosen auf den Weg gestreut“ von Kurt Tucholsky stammt aus dem Jahre 1931. In den Versen verhandelt der Autor die Frage, wie die nationalsozialistische Bewegung so rasch an Stärke gewinnen konnte. Er kritisiert dabei die Anbiederung an die Nazis im In- und Ausland sowie den Versuch, politisch mit den Faschisten zusammenzuarbeiten.
Ob radikalisierte Rhetorik selbst ernannter Mitte-Rechter, mutmaßlich illegale – in jedem Fall aber menschenfeindliche – Zurückweisungen an der Grenze, das Inkaufnehmen von Polizeigewalt gegen migrantisierte Menschen oder der ständige Drang, Rechts- und Linksextremismus gleichzusetzen: Die Union bereitet eine politische Kultur, in der Nazis leichter Gehör finden. In dieser Kultur setzt die bürgerliche Mitte radikal rechte Forderungen kurzerhand selbst um, im verzweifelten Versuch, die eigenen Stammwähler:innen zurückzugewinnen.
Die verzerrte Vorstellung des Verfassungsschutzberichts durch Dobrindt ist nur ein Glied in einer langen Kette von rhetorischen wie tatsächlichen „Ausrutschern“, zu denen sich die Union später entweder gedrängt gesehen haben oder für zu unbedarft bekennen wird. Das ist leichtsinnig, gefährlich und letztlich selbstzerstörerisch. Denn Nazis haben immer schon nur bis zu einem gewissen Punkt mit Konservativen kollaboriert.
Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Unabhängig von der Präsentation scheint der neue Verfassungsschutzbericht inhaltlich in Teilen eher nachlässig. Die Einschätzung, wie Rechtsextreme Medien nutzen, um sich zu vernetzen und ihr Gedankengut zu verbreiten, fällt spärlich aus. Während der Internetnutzung durch Linksextremisten ein eigenes Kapital gewidmet ist, behandeln die Verfassungsschützer den Punkt „Radikalisierung und Vernetzung [von Rechtsextremisten] im Internet“ auf einer halben Seite. Anderthalb, wenn man die Ausführungen zur „Attentäter-Fanszene“ dazurechnet.
Der Verfassungsschutzbericht belässt es bei den Feststellungen, Rechtsextremisten nutzten Chatgruppen als Katalysatoren, digitale Räume würden als Echokammern fungieren und Onlinesubkulturen mit einer ganz eigenen Ästhetik würden genutzt. Aha.
Dabei sollte der Verfassungsschutz eigentlich genügend Material zum Beobachten gehabt haben: Nie zuvor war Berichterstattung über sich online radikalisierende Rechte so ausführlich wie im vergangenen Jahr. Radikal rechte Accounts sind selbst in den zentralistischen sozialen Medien mittlerweile omnipräsent. Sie singen alte Wehrmachtslieder in die Kamera, zeigen sich beim Marschieren, bei Treffen oder erzählen ganz unverblümt von ihrem nationalistischen Gedankengut. Die Videos haben oft Tausende Likes, die Kommentare sind voll mit bestätigendem Zuspruch.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.
In den vergangenen Monaten gab es dazu immer wieder Berichte. So fand etwa im Oktober eine Razzia gegen die rechtsextreme Jugendgruppe „Asgard Warriors“ in NRW statt, die sich auf Snapchat vernetzt hatte. Im September berichtete der WDR über ein Netzwerk rechtsradikaler Influencer, die völlig öffentlich völkisches Gedankengut verbreiten. Im Februar letzten Jahres berichtete der Deutschlandfunk über den rechten Podcast „Hoss&Hopf“, dessen Hosts betont lässig Verschwörungsmythen teilen. Erst im Mai dieses Jahres wurden jugendliche Mitglieder der „Letzten Verteidigungswelle“ festgenommen. Und laut ARD-Recherchen beobachtet das Bundeskriminalamt bis zu dreißig Minderjährige, denen es zutraut, Terroranschläge zu verüben. Ein ausgestiegener Rechtsterrorist berichtet, er habe im Internet den ersten Kontakt zu rechtsextremer Ideologie gehabt.
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Von alledem kaum ein Wort im Bericht des Verfassungsschutzes. Es fällt schwer zu glauben, dass Presse so viel mehr über rechte Radikalisierungsprozesse im Internet weiß als ein Inlandsgeheimdienst.
Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?
Wer rechte Radikalisierung im Netz ignoriert, gibt ihr Raum. Denn anders als der Verfassungsschutzbericht suggeriert, findet Rechtsextremismus heute nicht mehr primär auf der Straße oder in Parteibüros statt, sondern auf YouTube, Telegram, Discord, TikTok und in Podcasts. Die Szene ist jung, professionell und medienerfahren. Sie verpackt Hass in ästhetische Clips, inszeniert „Männlichkeit“ als Kampfbegriff und tarnt Ideologie als Lifestyle. Wer einmal in diese Echokammern gerät, findet schnell Anschluss an eine Welt aus Verschwörungen, Gewaltfantasien und digitaler Kamaraderie.
Wohin das führen kann, haben unter anderem die Anschläge in Christchurch und auf Utoya gezeigt. Besonders der Attentäter aus dem neuseeländischen Christchurch radikalisierte sich online. Beide Täter sind heute Ikonen des rechtsextremen Attentäter-Fandoms, das weiß selbst der Verfassungsschutz. Und das ist nur folgerichtig: Denn Rechtsextremismus ist immer menschenfeindlich, in seiner Grundausrichtung wie in seiner Umsetzung gewaltvoll und tödlich.
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen …
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch
Das Gefährliche an dieser Strategie der Normalisierung und Aneignung radikal rechter Positionen ist nicht nur, dass sie rechtsextreme Akteure stärkt. Es ist der langsame, aber stetige Wandel der politischen Kultur. Erst das macht sie mehrheitsfähig. Wenn der demokratische Diskurs sich immer stärker an den Positionen der extremen Rechten orientiert, wird das Sag- und Machbare verschoben. Was früher unvorstellbar war, wird heute diskutiert, morgen salonfähig und übermorgen umgesetzt.
Dieser Verlauf ließ sich zuletzt allzu eindeutig bei der Durchsetzung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum beobachten. Gefahr geht also nicht nur von den radikalen Rechten selbst aus, sondern auch von einer „bürgerlichen Mitte“, die ihren moralischen Kompass über Bord wirft, um mit den Wölfen zu heulen – in der Hoffnung, nicht gefressen zu werden.
Doch das funktioniert historisch gesehen nicht. Denn nachdem sie ihnen ihren treuen Dienst geleistet und zur Macht verholfen haben, haben Faschisten nicht mit Konservativen koaliert. Sie haben sie ersetzt, verboten, verfolgt, ermordet. Wer das nicht erkennt, spielt mit der Demokratie – und verliert.
den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!
Vielen Dank für diesen Beitrag!
Ich habe gerade vor einer Woche einen dieser „Schengen-Staus“ erlebt, hervorgerufen durch eine Grenzkontrolle bei der Wiedereinreise vom Schengenland Niederlande ins Schengenland Deutschland. Eine Maßnahme die gegen das Grundgesetz und europäisches Recht verstößt, niemanden schützt und niemandem nützt außer natürlich der AfD.
Ergänzung: Selbstverständlich muss die klare Kante auch gegen das Regime in Israel gelten. Freiheit für Palästina! Für den gerechten Frieden zwischen den Nachbarstaaten Israel und Palästina!
(Dies ist ein Lackmustest für Eure Zensur-Policy. Seid Ihr solidarisch mit Faschisten?)
Da habe ich jetzt penibel nach Widersprüchen gesucht. Es ist mir nicht gelungen. Wow. 1++
Nur ein Appell: Liebe CDU-Wähler (aktiv und passiv), ihr mögt anderer Meinung sein, als ich. Doch bitte, lest euch das oben durch. Zieht die Konsequenzen daraus. Die SPD ist unter 15%. Die FDP ist weg, die Linke bedeutungslos, selbst die Grünen versuchen es mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Die CDU stellt einen Kanzler, dessen Mehrheit fragil ist und dessen Vorstellungen polarisieren.
Scheitert der, was bleibt dann? Setzt den Rechten, gar den Faschisten und den Feinden der Demokratie klare Grenzen. Jetzt! Sonst verliert nicht nur die CDU. Sonst ist Ende mit Demokratie.
Gut, ein wenig Sarkasmus kann ich mir nicht verkneifen: „Mit dem Setzen oder genauer mit dem Schließen von Grenzen kennt ihr euch doch aus“.
Hier haette etwas Recherche gut getan: Dobrindt hat diese Grafiken nicht zusammen gezeigt, auch nicht zeitich nahe. Das ist wesentlich wahrscheinlicher einfach die autmatische Skalierung als gewollte Darstellung, und letztere haette man wesentlich effektiver gestalten koennen. Er hat 3min zu Rechts- und 1min zu Linksextremismus geredet, kann man sich auf https://www.youtube.com/live/7EN4Xm5FC68?t=546 ansehen
Es hat allerdings jemand ein Meme mit beiden Grafiken untereinander gebastelt und posted, damit man sich empoeren kann.
Ich bin ganz sicher kein Freund von Dobrindt, aber hier greift mal wieder „linke“ Empoerungsdynamik ins Leere und fuehrt zu generellem Misstrauen gegenueber „linken“ Vorwuerfen. Das ist kontraproduktiv ausserhalb der „linken“ Blase.
Es mag ja sein, dass Dobrindt das gar nicht aufgefallen ist. Man sieht eben, was man sehen möchte. Aber eigentlich sollte der Profi sein. Auch ARD und ZDF bringen solche Schoten schonmal.
In jedem Fall gießen diese „Schludrigkeiten“ Wasser auf die Mühlen, derer, die der CDU eben dieses Wasser abgraben. Fragt sich also: warum machen sie das immer wieder?
Sind sie dumm? Oder sind sie nicht dumm? Was aber dann? Oder einfach nur fahrlässig? Welche Alternative ist für einen Minister tragbar?
„Es mag ja sein, dass Dobrindt das gar nicht aufgefallen ist. Man sieht eben, was man sehen möchte.“
Wenn er da keinen zeitlichen Zusammenhang oder direktes Nebeneinander hatte, ist das anzunehmen. Standardfehler, wenn man es dann noch als Fehler sehen wollte.
„In jedem Fall gießen diese „Schludrigkeiten“ Wasser auf die Mühlen, derer, die der CDU eben dieses Wasser abgraben.“
Nö. Hat eh‘ kaum einer bemerkt. Die sich aufregenden linken sind der CDU total egal. Tonspur und Gewichtung war mE durchaus akzeptabel. Der AfD ist das Thema ziemlich egal, denn die sehen sich im Recht und den Feind links.
„Fragt sich also: warum machen sie das immer wieder?“
Standardvisualisierung der vorliegenden Daten, und in der Vorbereitung jeweils nur im entsprechenden Kontext angeguckt. Passiert dauernd und überall, und ist jetzt auch nicht der Beinbruch für Leute, die auch nur 10s oder gar nicht hingucken.
Mücke, Elefant, aber anscheinend hat man ja nichts besseres zu tun.
„Wenn er da keinen zeitlichen Zusammenhang oder direktes Nebeneinander hatte, ist das anzunehmen. Standardfehler, wenn man es dann noch als Fehler sehen wollte.“
Das kommt ja wohl drauf an. Einen Tag redet er über Linksextremismus, einen Tag redet er über Rechtsextremismus. Ein Schelm würde hier sicherlich alles andere als einen Vergleich durch Dritte erwarten.
Davon ab, wenn wir uns abgeregt haben, wäre eine Standardisierte Darstellung von Seiten der Ministerien immer vorzuziehen, allerdings auch von Aggregatoren, also auch Presse, wenn das Ministerium mal versagen sollte.
Durchaus denkbar, dass da keinerlei Absicht hintersteckt, und man hat es getrennt, aber nicht gemeinsam betrachtend geprüft, gerade weil man nicht so wirken wollte, als biedere man sich an. Sie biedern sich aber an. Die Grafiken sind eigentlich Nebensache im Artikel. Elefant, Mücke, Schach?
https://netzpolitik.org/?s=Verfassungsschutz
Jahrelang wurde das Verbot vom Verfassungschutz von Grünen, Linken und sogar Teilen der SPD gefordert. Weil dieser sehr zweifelhaft ist. eine politische Behöre die die Gesinnung der Bürger prüfen soll. Jetzt wo sie die „richtigen“ gross rausbringt, sind sie auf einmal ok?
Wobei, wenn ich den Artikel lese kommt es mir so vor als ob Netzpolitik mittlerweile es gut findet das es eine Behörde gibt, die Gesinnungen prüft.
Kann ich nicht nachvollziehen. NP ist hier nicht einseitig oder gefärbt. Und „Gesinnungsprüfung“ von Bürgern ist schon etwas anderes, als die Überprüfung, ob eine Partei sich offen rechtsradikal gegen die Verfassung stellt.
Auch diese Kolumne scheint auf „uns und offene Grenzen oder die und den Faschismus“ hinauszulaufen.
Diese Frage sollte man mE vermeiden, denn mittelfristig beantwortet die grosse Mehrheit der Bürger sie durch die Wahl gegen offene Grenzen.
Wenn CDU und SPD die geforderte Politik machten, wäre Weidel mangels Alternativen jetzt Kanzlerin.
Das ist übrigens auch ein Aspekt eines potentiellen AfD-Verbots: das dann frei werdende Wählerpotenzial kann nur eine rechtsnationalkonservative CDU integrieren, die damit die mit Abstand stärkste Fraktion fast überall würde.