Keine SatireDas alberne Schauspiel mit dem biometrischen Kinderpass

Auf dem Biometrie-Passfoto dürfen Kinder nicht lächeln. 2024 wird der biometrische Reisepass für Kinder zur Pflicht – und zwar ab der Geburt. Zappelnde Babys sind am besten im Liegen abzulichten. Sechsjährige müssen zur Abgabe der Fingerabdrücke vorstellig werden. Ein Erlebnisbericht.

Wie man ein Kleinkind in eine Biometrie-Schablone presst (Diffusion Bee)

Montagmorgen, 8:38 Uhr. Die Kinder sitzen vor der Sachbearbeiterin eines Bürgeramts in Berlin. Eins ist als Pferd verkleidet, das andere als Eisprinzessin. Am Morgen musste es schnell gehen, Hauptsache angezogen. In zwanzig Minuten müssen sie zur zweiten Stunde in der Schule sein, vorher muss noch ein neuer Pass beantragt werden, der alte läuft in drei Wochen ab. Also schon mal gut, dass wir überhaupt so weit gekommen sind.

Der Frau hinter der Plexiglasscheibe sind die Outfits der Kinder ohnehin egal. Sie will biometrische Daten, die man schwerer ablegen kann als ein Tierkostüm aus Polyester.

„Körpergröße?“

Mutter: „Äh, 1 Meter 17.“

„Bitte jetzt den rechten Zeigefinger hier drauflegen.“

Kind 1: „Ich soll da meinen Finger draufdrücken?“

Mutter: „Ja.“

Sachbearbeiterin: „Und jetzt bitte den linken.“

Kind 1: „Wozu ist das?“

Mutter: „…“

Sachbearbeiterin: „Fertig. Jetzt muss sie noch hier unterschreiben.“

Kind: „Ich soll unterschreiben???“

Mutter: „Sie kann noch nicht schreiben.“

Wer eine solche Szene noch nie erlebt hat: Die Situation ist genauso absurd, wie es sich hier liest. Da hat man es geschafft, einem Termin beim Bürgeramt zu bekommen. Noch dazu einen, der früh genug liegt, um die Kinder mitnehmen zu können. Denn ohne persönliches Erscheinen der Kinder bekommt man in Deutschland ohnehin keinen Reisepass. Und dann sowas.

Ohne die Abgabe der Fingerabdrücke bekommen Kinder übrigens bald keinen Pass mehr. Denn ab dem 1. Januar 2024 werden in Deutschland auch für Kinder nur noch biometrische Reisepässe ausgestellt. Das sind Pässe, in denen biometrische Daten auf einem eingebauten Funk-Chip gespeichert werden. Es sind Daten wie Fingerabdrücke und messbare Merkmale des Gesichtes, die verwendet werden sollen, um die Identität von Reisenden eindeutig festzustellen. Den einfachen Kinderreisepass ohne Chip und Biometrie, der bislang zur Auswahl stand, gibt es dann nicht mehr. Er darf nicht mehr neu ausgestellt und auch nicht verlängert werden.

Kleinste mögliche Gefährder

Ein biometrischer Pass für Kinder ab Geburt? Das strotzt so vor Unsinnigkeit, dass man an einen Schildbürgerstreich denkt. Doch es ist mitnichten einer. Der deutsche Terrorabwehrstaat meint es nämlich ernst mit der digitalen Erfassung der Körpermerkmale schon der kleinsten möglichen Gefährder. Polizei und Geheimdienste, aber auch Steuerfahndung und Zollämter sollen künftig „zu jeder Zeit“ online auf die biometrischen Bilder aus dem Pass zugreifen dürfen. Das soll nicht nur für die biometrischen Kinderbilder im Pass gelten, sondern für alle Fotos aller elektronischen Personalausweise und anderer hoheitlicher Dokumente wie dem Aufenthaltstitel sichergestellt werden.

Zwar müssen Kinder unter sechs Jahren immerhin ihre Fingerabdrücke noch nicht abgeben. (Dabei tatschen doch gerade Babys alles so gern an.) Die Fotos, die sollen aber bitte schon bei Neugeborenen dazu geeignet sein, ihre markanten Gesichtsmerkmale als Datensatz auf dem eingebauten Chip zu speichern. Auf dass sie später problemlos überall eindeutig identifiziert werden und die Personenfahndung erleichtern können.

Bitte beachten Sie folgende Hinweise der Bundesdruckerei, wenn Sie Ihre Kinder ablichten lassen.

Das heißt: Bevor man überhaupt den Weg zu einem der mehr als 4.200 Meldeämter zur Passbeantragung antreten kann, wartet der Schrecken der biometrischen Bilderstellung: Denn das Gesichtsbild des Kleinkindes ist frei von Lächeln zu halten. Das jahrelange Training mit „Cheeese“ oder „Spaghettiiii“ konterkarierend verlangen die Fotografin und die Bundesdruckerei einen neutralen Gesichtsausdruck. Tränen sind übrigens auch verboten.

Noch absurder wird das Prozedere, wenn das Kind noch nicht auf dem Fotostuhl sitzen kann – und Anweisungen zum Unterlassen des Lächelns gar nicht versteht. Wer etwa mit dem frisch geborenen Kind verreisen und zuvor zum biometrischen Fotografieren muss: Professionelle Fotolabore empfehlen das biometrische Foto im Liegen zu machen. Kein Witz.

Spätfolgen von 9/11

Die Sinnhaftigkeit dieser biometrischen Praktiken ist nicht nur fragwürdig, sondern schlechterdings durch nichts gerechtfertigt. Wäre man zynisch, könnte man höchstens sagen, dass die eigenen Kinder immerhin die heimische biometrische Forschung und Technologiebranche fördern und hier Arbeitsplätze sichern.

Wird Gesichtserkennung für Kleinkinder durchgeführt, kann sie den anderen auch nicht erlassen werden: Alle erwachsenen Menschen werden in Deutschland anlasslos biometrisch erfasst. Fast vergessen ist mittlerweile, dass die eigentlich infame Idee, sämtliche Gesichtsbilder und Fingerabdrücke zu erfassen und zu speichern, schon auf das Jahr 2003 zurückgeht: Im US-amerikanischen Kongress wurden im Nachgang von 9/11 einseitig die Voraussetzungen des Visa-Waiver-Programms für Reisende aus Europa in die USA geändert. Wenn europäische Länder fortan eine visumfreie Einreise in die Vereinigten Staaten wollten, musste bis Ende 2004 der Pass mit digital gespeicherten biometrischen Merkmalen versehen werden, so das Diktat aus Washington. Europa startete daraufhin das bis dahin größte digitale Biometrieprojekt der Geschichte der Menschheit.

Die Idee der massenhaften digitalen Erfassung und Speicherung von Körpermerkmalen aller Menschen in Europa ist also noch älter als die der untoten Vorratsdatenspeicherung. Im Unterschied zu letzterer wurde das Vorhaben aber praktisch auch umgesetzt. Wie befürchtet wurden die Digitalsammlungen der biometrischen Merkmale wenige Jahre nach Einführung online zugänglich gemacht.

Video: Reisepässe ohne Biometrie leicht gemacht

Gefährliche Gewöhnung

Schon als damals die Idee aufkam, auch Kleinkinder biometrisch zu vermessen, wurde sie kritisiert: als unsinnig wegen sich noch stark verändernder Körpermerkmale und damit als nutzlos und teuer. Denn das gespeicherte digitale Gesichtsbild einer Vierjährigen hat wenig Ähnlichkeit mit dem einer Neunjährigen – zumindest im Sinne einer Mustererkennung, die eine Software vornimmt. Vermessen werden beim Gesicht die Abstände zwischen markanten Punkten der Kopffront, die sich bei Kindern durch Wachstum stark verändern. Da aber der Kinderreisepass sechs Jahre lang gültig ist, kann ein Schulkind ein Biometrieabbild gespeichert haben, das für Abgleiche untauglich ist.

Bitte beachten Sie auch folgende Hinweise der Bundesdruckerei, wenn Sie Ihre Kinder ablichten lassen. - Fotomustertafel Bundesdruckerei

Immerhin sorgt das im Alter von fünf Monaten erstellte Birnen-Bild im Reisepass jedes Mal für Lacher bei der Passkontrolle, wenn man mit dem gerade eingeschulten Kind auf Reisen ist. Doch zum Lachen ist das Vermessen und Speichern der Kindermerkmale eigentlich nicht.

Denn es liegt eine Gefahr darin, schon Kinder daran zu gewöhnen, dass die Körpermerkmale erfasst und gespeichert werden, als sei es das normalste der Welt. Hand aufs Herz: Welche Mama nimmt sich auf dem Amt die Zeit, dem eigenen Spross die Risiken der Datenverarbeitung von besonders sensiblen menschlichen Informationen zu erläutern, wenn man eigentlich nur hofft, so schnell wie möglich wieder die Amtstube verlassen zu können, um noch rechtzeitig in der Schule zu sein? Welcher Papa kann mal eben Nachfragen korrekt parieren, wenn der Teenager wissen will, warum eine biometrische Erfassung denn sein muss? Und sind nicht längst die meisten Eltern ohnehin schulterzuckend, wenn die Kinder ein biometrisches Foto abgeben müssen?

Beschwerden ohne Erfolg

Der ganze teure Unsinn begann einst mit einer Änderung des deutschen Passgesetzes im Jahr 2002, die öffentlich kaum Widerhall fand. Der Gesetzgeber legte darin die grundsätzliche Möglichkeit an, Fingerabdrücke in den Reisepass aufzunehmen und begann das Biometrieexperiment. Ende 2004 wurde nach dem Visa-Waiver-Ultimatum der Vereinigten Staaten daraus Ernst und die unter Sicherheitsgesichtspunkten sinnlose Technologie hielt Einzug.

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In der Folge wurden mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das Pass- und später auch das Ausweisgesetz vorgebracht. Bis vor dem Europäischen Gerichtshof ging die Biometrie-Pflicht und wird demnächst dort erneut Thema. Denn seit 2021 besteht die EU-weite Ver­pflich­tung, auch in jeden neuen Per­so­nalaus­weis Finger­ab­drü­cke digital einzubringen. Den ersten Versuch, die verpflichtende biometrische Erfassung am Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre zu messen, hat der damalige Beschwerdeführer im Jahr 2013 vor dem EuGH verloren. So ging der teure Quatsch einfach weiter, jahrelang.

Im aktuell laufenden Fall ist die wichtige Rechtsmeinung der zuständigen EuGH-Ge­ne­ral­an­wäl­tin Laila Me­di­na deutlich positiv gegenüber den ob­li­ga­to­ri­schen Fingerabdrücken im Ausweis. Es ist also nicht etwa gesetzt, dass der EuGH hier grundrechtliche Grenzen ziehen wird.

Es gibt übrigens nach all diesen Absurditäten doch noch gute Nachrichten, zumindest für die Berliner Biometrieopfer: Ab November wird es einfacher, einen neuen Ausweis, Reisepass oder einen neuen elektronischen Aufenthaltstitel abzuholen. Ohne beim Bürgeramt warten zu müssen kann nämlich das Dokument mit einer PIN aus einem Automaten entnommen werden.

Das ist der Beweis: Roboter machen uns also doch das Leben leichter. Wenn man nun noch die nutzlose und viel zu teure Biometrie-Sicherheitssimulation einstampfen würde, wäre fast Licht am Ende des Digitalisierungstunnels.

11 Ergänzungen

  1. Ist das in der Einleitung eine wahre Geschichte?
    Wenn ja: Wenn für Kinder erst ab Januar Pflicht, warum hat die Mutter dann nicht der Fingerabdrucknahme von Kind 1 widersprochen?

    1. Hab das so verstanden:
      – ab 1.1.24 sowieso nur noch normaler Reisepass – dieser kann idR verlängert werden, was Kosten spart.
      – Kinderreisepässe waren immer nur ein Jahr gültig – und werden ab 2024 nicht mehr ausgestellt/verlängert, weil sie abgeschafft werden.

      So ist es bei häufigen Reisen sicher die bessere Entscheidung gleich den normalen Reisepass fürs Kind zu beantragen, dann muss man den kompletten Zirkus im nächsten Jahr nicht nochmal machen.

    2. Mir stellt sich da eher die Frage wieso man sich dann nicht erst noch den kinderreisepass ausstellen lässt, der ist trotzdem 1 Jahr gültig 🤷‍♀️

      1. Wären die Links zur Bundesdruckerei nicht im Artikel würde ich auf einen Artikel des Postillon wetten. Krasse Scheiße.

  2. Leider nicht ganz korrekt recherchiert.
    Bei Fotos von Kindern bis 4 Jahre müssen die Fotos nicht biometrische sein, sollten aber von vorne Aufgenommen und Augen offen sein.
    Der „normale “ Reisepass gilt 1O Jahre und konnte noch nie verlängert werden.
    Hingegen konnte der Kinderreisepass um eine Seite mit aktuellem Foto kostengünstig ( 6,-€) ergänzt werden, was jetzt wegfällt.
    Sobald das Kinderbild nicht mehr mit dem Original übereinstimmt muss tatsächlich ein komplett neuer und mit 34,5o € nicht gerade günstiger Pass gemacht werden.
    Ich bin Fotograf und muss mich damit täglich auseinandersetzen.
    PS: Fotografen machen die Bilder, nicht Fotolabore!

    1. Der Reisepass unter 24 Jahre kostet 37,50€ statt 60€ und ist auch nur 6 Jahre gültig.
      Kinderreisepässe vorallem die Verlängerungen werden im Ausland von einigen Ländern nicht anerkannt, daher werden die Pässe ua abgeschafft.

    2. also darf die familie mit 5 kindern ab jetzt 172€ extra einplanen wenn sie im nicht-eu-ausland ihren jahresurlaub machen wollen. nice!

  3. “ Europa startete daraufhin das bis dahin größte digitale Biometrieprojekt der Geschichte der Menschheit.“
    Ich denke da hängt Europa Indien, China oder auch den USA noch weit hinterher.
    Einfach die schon teilweise 5-10 Jahren Dokus zu Aadhaar anschauen.

    1. Aadhaar startete rund ein Jahrzehnt später, seit dem Jahr 2012 im praktischen massenhaften Ausbau. (Deswegen steht da „bis dahin“.)

    2. Vielen Dank für den Artikel, den ich leider zu spät gelesen habe. Wir waren mit unseren 8 jährigen Kind im Bürgerbüro und wollten einen Reisepass für ihn beantragen. Nachdem er seine Fingerabdrücke abgeben sollte, haben wir das erst für optional gehalten und dankend abgelehnt. Doch leider war das weder optional noch ein Scherz.
      Ich bin immer noch fassungslos, wie weit die Bürokraten es treiben können, ohne das es zum Aufschrei der Bevölkerung kommt. Bei der Erkennungsdienstlichen Erfassung meiner Kinder ist der Punkt erreicht.

  4. Mir war das mit dem Fingerabdruck im Reisepass und den Fluggastdatenübermittlungen schon vor 10 Jahren zu blöde. Wenn jemand in einem Land leben muss, das solche Daten für die Einreise benötigt, dann erkläre ich den Einladenden freundlich, warum sie mit meinem Besuch nicht zu rechnen brauchen. Wer sich denkt: „diese Kröte schlucke ich noch, das ist aber die letzte“, dem wird bald die nächste Kröte zum Schlucken gegeben. Sehen wir ja nun seit Jahrzehnten. Wenn alle mitmachen, und wenn nur mit Bauchschmerzen, wird sich nichts bessern.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.