Schon früh wagte sich Manuel Castells an ein Megathema heran: In seiner einflussreichen Trilogie „Das Informationszeitalter“ beschrieb der spanische Soziologe den Aufstieg der Netzwerkgesellschaft in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der 1990er Jahre. Dabei konzentrierte er sich auf die Frage, wie das Netz soziale Organisation verändert. Denn aus Castells‘ Perspektive krempelt das Netz nicht nur Teilbereiche der Gesellschaft um, sondern macht sich auch im letzten Winkel nachhaltig bemerkbar.
Als Paradigma sei das Netzwerk zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen aufgestiegen, das gesellschaftliche Strukturen wie Finanzmärkte, Wirtschaftsunternehmen, Medien oder politische und kulturelle Institutionen fundamental prägt oder prägen wird. Zugrunde läge die „Logik der Netzwerke“, die gesellschaftliche Funktionen neu strukturiere und traditionelle Strukturen auflöse.
Die Transformation der Informationsproduktion, die mit der Entwicklung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien veränderte Sammlung, Verifizierung und Verarbeitung von Informationen bedinge ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die in sich verändernden, mobilisierbaren Identitäten ihren Ausdruck findet (Zusammenfassung Castells 1996: HIIG).
Reflektionen zum digitalen Wandel
Am Dienstag der vergangenen Woche war der bahnbrechende Soziologe im Berlin zu Gast. Im ausgebuchten Kino International eröffnete Manuel Castells mit einem Vortrag zu Macht und Widerstand in der digitalen Gesellschaft („Power and counter-power in the digital society“) eine neue Vortragsreihe des Alexander von Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft (HIIG) und der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB). Sie steht unter dem Motto „Making sense of digital society“ – die digitale Gesellschaft sinnvoll gestalten – und zielt auf die Entwicklung einer europäischen Perspektive auf die Transformation der Gesellschaft, so die Veranstalterinnen.
Eingeladen sind die großen europäischen Intellektuellen, die eine gesellschaftliche Debatte stimulieren sollen. Hintergrund bildet das neue Level der Digitalisierung, das mit dem Internet der Dinge und künstlicher Intelligenz seinen Einzug hält. Zur Debatte steht nichts weniger als die Zukunft von Demokratie, Arbeit und Gesellschaft.
Die Themen „Macht und Widerstand“ waren bereits Gegenstand der Trilogie zum Informationszeitalter. Demnach stellten Netzwerke die zentrale Instanz von Machtausübung dar, die andere Interessen dominieren. Von besonderer Bedeutung seien dabei einerseits die Schnittstellen zwischen den Netzwerken, andererseits die Autorität und Kompetenz, Netzwerke zu entwickeln. Diese Rolle komme nicht einzelnen Individuen zu, sondern Netzwerken von sozialen Akteuren.
Damit werde Macht als eine komplexe Menge gemeinsamer Handlungen wirksam. Dem Nationalstaat sprach Castells die Möglichkeit ab, kulturellen, wirtschaftlichen oder sozialen Wandel zu gestalten. An dessen Stelle trete der Netzwerkstaat, der mit supranationalen Institutionen, multinationalen Unternehmen, Finanzmärkten und anderen Akteuren kooperiere.
Update zur Netzwerkgesellschaft
Heute schätzt Castells die Entwicklungen teilweise anders ein. Wenngleich den Netzwerken (zum Beispiel großer Internetkonzerne wie Google und Facebook) tatsächlich große Macht zukommt, seien Staat und Kapital weiter zentrale Institutionen sozialer Organisation. Denn zeitgleich mit der Entwicklung dezentraler Informations- und Kommunikationstechnologien, die den Kampf um dominante Ideen und Werte in der Gesellschaft beeinflussen, sei es zu einer Zentralisierung von Informationen in den Händen von Regierungen und Internetunternehmen gekommen, die eine vollständige Überwachung der Gesellschaft ermöglicht.
„Technologies are only as free as they are used for freedom“, so Castells, Technologien tragen nur dann zur Emanzipation der Gesellschaft bei, wenn sie zu diesem Zweck eingesetzt werden. Sein Vortrag beleuchtete die umfassende, anlasslose Überwachung westlicher Geheimdienste ebenso kritisch wie die daten-getriebenen Geschäftsmodelle großer Internetkonzerne wie Google, die zum Schutze der Privatheit nichts sammelten außer: Name, Adresse, Standortdaten, E-Mail-Adresse, Telefonnummer, Kreditkartennummer, Browser-Verlauf, Suchanfragen sowie ausgewählte Kommunikationsinhalte.
Besonders kritisch beleuchtete Castells die Kooperation zwischen Staat und Unternehmen bei der Überwachung der Bürgerinnen und Bürger. Dem Missbrauch von Macht beziehungsweise der Ausbeutung durch Internetmonopole könne allerdings begegnet werden, beispielsweise durch entsprechende Regulierung (Datenschutz-Grundverordnung), durch Technologien digitaler Selbstverteidigung (Verschlüsselung von Kommunikation) oder durch Whistleblowing.
Zahlreiche soziale und technische Aktivitäten könnten dazu beitragen, Machtungleichgewichte wieder in Balance zu bringen. Dazu gehöre auch die Möglichkeit jedes einzelnen Individuums, Netzinhalte zu produzieren und zu veröffentlichen – beispielsweise Polizeigewalt.
Fazit
Sein Lob sozialer Bewegungen als durch moderne Technologien gestärkter Hort gesellschaftlichen Wandels beeindruckte in seiner Breite. Allerdings vernachlässigte der Vortrag neuere Möglichkeiten der Inhaltekontrolle, insbesondere durch soziale Netzwerke: Castells‘ Einschätzung nach könne zwar der Sender einer Nachricht bestraft, nicht aber die Nachricht selbst beziehungsweise die freiheitliche Kommunikation.
Diese Perspektive ignoriert jedoch nicht nur das Instrument der Netzsperren, sondern auch Maßnahmen zum Löschen von Inhalten in sozialen Netzwerken, wie sie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz vorsieht. Zudem ließ Castells Vortrag leider offen, wie sich die Frage von Macht und Widerstand im Kontext des Internet der Dinge entwickeln könnte, das er als neue Form totaler Vernetzung und Digitalisierung charakterisierte, die durch hybride, unkontrollierbare Netzwerke bestehend aus Menschen und Objekten bestimmt sei.
Fazit: Sehenswert und diskussionwürdig.
Guter Beitrag, danke. Bitte aber „anlasslose Überwachung durch westliche Geheimdienste“, sonst meint es das Gegenteil.