EU-Kommission versteckte unbequeme Piraterie-Studie zwei Jahre vor der Öffentlichkeit

Eine von der EU-Kommission im Jahr 2013 ausgeschriebene Piraterie-Studie brachte offenbar nicht das gewünschte Ergebnis und wurde deshalb nie veröffentlicht. Erst nach einer Informationsfreiheitsanfrage der EU-Abgeordneten Julia Reda ist die Studie jetzt zugänglich.

Studie unter Verschluss – CC0 stevepb

Einziges Indiz für die Existenz der Piraterie-Studie war eine Ausschreibung der EU-Kommission im Jahr 2013. Unter Berufung auf den Ausschreibungstext ließ die deutsche EU-Abgeordnete Julia Reda (Piraten/Grüne Fraktion) nachforschen und erhielt letztlich Zugang zur Studie (PDF), die 2015 fertig geworden und seither unter Verschluss gehalten wurde. Hauptgrund dafür dürfte der Umstand sein, dass die Studie keine Rechtfertigung für die Kommissionspläne zur Verschärfung des EU-Urheberrechts des damals zuständigen Kommissars Günther Oettinger liefert.

Die Studie beginnt mit der Feststellung, dass der Zusammenhang zwischen dem Konsum von illegal kopierten und legalem Erwerb von Inhalten von grundsätzlicher Bedeutung („fundamental importance“, S. 7) für die Ausrichtung der EU-Urheberrechtspolitik ist. Zur Untersuchung der Folgen von Piraterie für legale Angebote wurden vier Branchen (Musik, Film/Serien, Bücher und Games) in sechs nach Repräsentativitätskriterien ausgewählten Mitgliedsländern (Deutschland, Frankreich, Polen, Spanien, Schweden, UK) vergleichend untersucht.

Keine Verdrängungseffekte nachweisbar

Als zentrale Schlussfolgerung nennen die StudienautorInnen um Martin van der Ende, dass sich keine statistisch nachweisbaren Verdrängungseffekte zwischen illegalen und legalen Angeboten feststellen lassen (S. 7):

In general, the results do not show robust statistical evidence of displacement of sales by online copyright infringements.

Einzige Ausnahme sei eine Substitution im Bereich aktueller Blockbusterfilme, bei denen laut Studie zehn illegale Nutzungen zu durchschnittlich vier Kinobesuchen weniger und damit insgesamt zu 5 Prozent niedrigerem Umsatz führen. Mit ein Grund dafür dürfte die Preispolitik der Filmindustrie sein. Die Preise für Filme und Serien online überstiegen im Jahr 2014 im Unterschied zu den Bereichen Musik, Bücher und Games die Zahlungsbereitschaft bei weitem. Hier stellt sich natürlich die Frage, ob die größere Verbreitung von Streamingdiensten wie Netflix in den letzten Jahren nicht mittlerweile zu anderen Ergebnissen führen würde (abgesehen davon, dass es auch auf absehbare Zeit keine Vollsortiment-Anbieter geben dürfte).

Hochgradig selektive Veröffentlichung

In den anderen Bereichen gab es keine statistisch nachweisbaren Verdrängungseffekte, im Bereich von Games war sogar ein leicht positiver Trend ersichtlich: Illegale Nutzung führte demnach zu vermehrter legaler Nutzung (S. 15). Umso erstaunlicher aber, dass der Chefökonom der Kommission mit einem Kollegen bereits 2016 auf Basis der Studiendaten einen wissenschaftlichen Aufsatz veröffentlicht hat, in dem ausschließlich der statistisch signifikante Fall der Blockbusterfilme behandelt wird. Diese Vorgehensweise ist ein bemerkenswertes Beispiel für (in diesem Fall: bewusstem) „Publication Bias“, also der ausschließlichen Veröffentlichung von signifikanten Resultaten bei gleichzeitiger Zurückhaltung von nicht-signifikanten Ergebnissen. Die Herkunft der Daten wiederum wurde nur in einer kurzen Fußnote 3 wie folgt erwähnt, ohne Hinweis darauf, dass die Untersuchung viel breiter angelegt war:

The data was collected by Ecorys as commissioned by the Directorate-General for Internal Market, Industry, Entrepreneurship and SMEs of the European Commission.

Mit anderen Worten: während die mit öffentlichen Mitteln finanzierte Studie samt Rohdaten unter Verschluss gehalten wurden, nutzten die Ökonomen der Kommission die Daten selektiv für eine wissenschaftliche Veröffentlichung mit möglichst wenig Hinweisen auf die Herkunft der Daten und verstärkten so ein Narrativ von starken Substitionseffekten durch Piraterie.

Keine Rechtfertigung für Kommissionspläne zum Urheberrecht

Datenbasis für die gesamte Studie war eine Online-Befragung zwischen September und Oktober 2014 mit ca. 5.000 Teilnehmenden pro Land, also insgesamt knapp 30.000 Befragten (S. 12). Zur auch aus Konsumentensicht keineswegs triviale Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Angeboten wurde nach „file sharing and hosting sites“ gefragt und es wurden länderspezifisch Beispiele für illegale Angebote genannt – YouTube wurde dabei trotz substantiellem Anteil illegaler Inhalte als legales Angebot klassifiziert. Der Anteil an Befragten, die (auch) illegale Nutzung bejahten, schwankte je nach Bereich zwischen 14 bzw. 16 Prozent für Bücher und Games bis hin zu 32 bzw. 35 Prozent für Musik und Filme/TV-Serien.

Letztlich lassen sich die Ergebnisse der Studie wohl als Bestätigung jener Position lesen, die komfortable legale Angebote und faire Preise als bestes Mittel gegen Online-Piraterie ansehen. Unbrauchbar ist die Studie jedoch dafür, strengere Maßnahmen zur Rechtsdurchsetzung wie beispielsweise die von EU-Kommission und Rat angedachten Upload-Filter zu rechtfertigen. Und genau das dürfte wiederum der Grund dafür gewesen sein, warum sich die Kommission in ihrem Entwurf für die EU-Urheberrechtsreform nicht auf die von ihr selbst beauftragte und empirisch fundierte Studie stützte, sondern sie stattdessen in den Giftschrank gesperrt hat.

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13 Ergänzungen

  1. Ich dachte mir schon damals, als die Online-Befragung lief, schön blöd, wer da von der Zielgruppe mitmacht. Das kann und wird von der EU gegen euch verwendet werden.

  2. Sorry, „dass sich (…) Verdrängungseffekte zwischen illegalen und legalen Angeboten (…)“ lese ich im englischen nicht. Eher, „Urheberrechtsverletzung verdrängt Verkäufe nicht“. Finde ich nicht ganz irrelevant.
    Danke für den Artikel. Irgendwie beschleicht mich das Gefühl dem einen oder anderen Politiker geht es um etwas vollständig anderes, als die positive Erkennung und progressive Auflösung von Konflikten.

  3. Wollen wir mal hoffen, dass diese wissenschaftliche Arbeitsweise nicht Leitlinie bei anderen Themen der EU, von Bundes- und Landesministerien und auch z.B. dem Bundesamt für Risikobewertung ist! (Glyphosat, Förderung und Sinn von PPP, Feinstaub, Medikamente, Tierhaltung, etc.), ’nur‘ um die Wirtschaft „zu fördern“ oder zu erhalten.

  4. Es ist sehr schade, dass Netzpolitik.org es weiterhin nicht schafft Julia Reda in seinen Artikeln als jene Abgeordnete zu bezeichnen, die sie ist: die – wenngleich einzige – Abgerodnete der Piratenpartei Deutschland im europäischen Parlament. Das ist auch für Netzpolitik.org bezeichnend. Bei anderen Politikern, etwa „EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU)“ ist das scheinbar kein Problem. Schade, dass hier nicht sorgfältig, ausgewogen und vorurteilsfrei gearbeitet wird.

    1. Huh? Steht doch im gleich im zweiten Satz. Allerdings fehlt bei Oettinger die Parteizuordnung.

      Mein Gefühl ist, Du hast vielleicht nicht sorgfältig und vorurteilsfrei gelesen.

    2. Ich bete, dass Reda auch nach Ihrer sattuierten Zeit im EU Parlament weiterhin in der Piratenpartei bleibt und nicht etwa umgehend die Fahnen wechselt, sobald die Honig Pfründe weg sind. Ich befürchte aber, da werden kaum ein paar Sekunden vergehen und Sie wird versuchen Ihre Karriere in einer Partei anderen Partei, vermutlich den Grünen, weiter aufrecht zu erhalten, Will der „Bundespressesprecher Piratenpartei Deutschland “ dagegen wetten ? Somit, ob da „Piratenpartei“ steht oder nicht ist pillepalle, es gibt keine Partei und erst Recht keinen Partei Einfluß bei Reda.

  5. „Diese Vorgehensweise ist ein bemerkenswertes Beispiel für (in diesem Fall: bewusstem) „Publication Bias“, also der ausschließlichen Veröffentlichung von signifikanten Resultaten bei gleichzeitiger Zurückhaltung von nicht-signifikanten Ergebnissen.“

    Tut mir leid, aber das ist kein „Publication Bias“, das ist ein schwerwiegendes wissenschaftliches Fehlverhalten, jedenfalls an deutschen Unis:

    „Als möglicherweise schwerwiegendes Fehlverhalten kommt insbesondere in Betracht:
    a) Falschangaben
    […]
    * das Verfälschen von Daten, z.B.
    durch Auswählen und Zurückweisen unerwünschter Ergebnisse, ohne dies offenzulegen, […]“

    von http://www.uni-augsburg.de/institute/kanada/hrk-def.htm oder auch https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftliches_Fehlverhalten

  6. Interessanter Artikel und wichtig diese Vorgehensweise immer wieder zu beleuchten. Für Alle denen so ein Vorgehen neu ist:

    Werft mal einen Blick auf die ganzen „kleinen Anfragen“ die durch Parteien wie die Linke getätigt wurden und werden.

    Es ist offenbar so, dass die reine Verpflichtung von Politikern, nach ihrem besten Wissen und Gewissen zu handeln nicht ausreicht.

    Sie besche**sen bei Doktorarbeiten, enthalten uns Studien vor die durch unsere Steuergelder finanziert wurden und lügen hinterher dummdreist alle an. Leider denke ich nicht, dass diese Tatsache den kommenden Sonntag zu einem besonderen Tag macht, denn das ‚M‘ gewinnt wieder (geht uns Unter- und Mittelschichtlern ja noch nicht schlecht genug).

  7. Früher war alles anders!
    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13491568.html

    Ist wie damals mit dem Feldversuch in München (in den 80’ern) mit dem Ozon.
    Geplant waren 6 Monate und abgebrochen nach etwa 2 Wochen.
    Der Grund?
    Nun, innerhalb der 1. Woche (Montag bis Freitag) war der Ozon Wert bei 100%, am Wochenende der ersten Woche, kletterte der Wert auf das Doppelte des in der ersten Woche gemessenen Wertes!
    Das Gleiche Wiederholte sich in der zweiten Woche!
    Warum war der Ozon Wert am Wochenende doppelt so hoch wie innerhalb der Woche?
    Nun, man stellte fest, das die nicht vollständig verbrannte Kohlenwasserstoffe/Stickoxyde (z.B. Stickstoffmonoxyd) der PKW mit dem Ozon reagierten ( https://de.m.wikipedia.org/wiki/Ozon ).
    Am Wochenende führen aber in München kaum noch PKW (die 80’er !!), aber viele Mähten ihre Rasen!
    Das aus den Schnittflächen austretende Methanol reagierte nur all zu gern mit diversen „Sonnenstrahlen“ und bildete massig Ozon, die wiederum nicht von diversen Stickoxyden „abgebaut“ werden konnten!
    Lustiger wird es, wenn man sieht, was bei der weiteren Reaktion heraus kommt, hui!

    Egal, der Fahrzeugbestand hat sich mehr als verdoppelt und die Luft ist trotz der Skandale in einer schon perversen Form „sauberer“ geworden, nicht falsch verstehen, die Typen, die veranlasst haben, das der Schadstoffausstoß auf der Straße nicht so wichtig sei, wie auf dem Rollenprüfstand, gehören in den Knast!

    Ich finde, das sollte auch für die Kriegstreiber aus den Reihen der Kommissionen gelten!

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.