Rechtsschutz gegen die strategische Fernmeldeüberwachung: Ein „blinder Fleck“ im Rechtsstaat?

Dieser Gastbeitrag von Peter Schantz ist eine Besprechung des BVerwG-Urteils vom 28. Mai 2014 und erschien zunächst in der Fachpublikation „Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht“ (NVwZ), Heft 13/2015, S. 873–877. Veröffentlichung hier in leicht gekürzter Form mit freundlicher Genehmigung des Verlages C. H. Beck und des Autors. Peter Schantz ist Jurist, Liberaler und war einer der Anwälte im Beschwerdeverfahren beim Bundesverfassungsgericht gegen den Staatstrojaner, das zum Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme führte. Er arbeitet im Bundesjustizministerium. Der Gastbeitrag gibt ausschließlich seine persönliche Auffassung wieder.

Nicht nur die NSA, sondern auch die deutschen Nachrichtendienste verfügen über weitreichende Instrumente zur Informationsgewinnung. Hierzu gehört insbesondere die strategische Fernmeldeüberwachung auf der Grundlage des G-10-Gesetzes (G-10). § 5 I G-10 ermächtigt den Bundesnachrichtendienst (BND), die Telekommunikation zwischen Deutschland und dem Ausland auf Stichworte zu durchsuchen, um Erkenntnisse über die Bedrohung Deutschlands durch einen Angriff, Terrorismus oder bestimmte Formen organisierter Kriminalität zu gewinnen.

Gegenstand einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 28.5.2014 war die Rechtmäßigkeit der strategischen Fernmeldeüberwachung des BND im Jahr 2010. Das BVerwG verneinte bereits die Zulässigkeit der Feststellungsklage; der Kläger habe, so das BVerwG, nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit dargelegt, durch die Überwachung betroffen zu sein. Die Argumentation des BVerwG läuft darauf hinaus, dass ein unbescholtener Bürger keinen fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen diese heimliche Überwachungsmaßnahme erlangen kann. Es droht ein „blinder Fleck“ im Rechtsstaat.

Überblick über die strategische Fernmeldeüberwachung

Ziel der strategischen Überwachung „internationaler Kommunikationsbeziehungen“ ist die „Sammlung von Informationen über Sachverhalte, deren Kenntnis notwendig ist, um die Gefahr“ eines Angriffs oder eines terroristischen Anschlags auf die Bundesrepublik Deutschland, der Proliferation von Kriegswaffen sowie verschiedener Erscheinungsformen organisierter Kriminalität (illegale Einwanderung, Geldwäsche, Drogenhandel, Geldfälschung) „rechtzeitig zu erkennen und einer solchen Gefahr zu begegnen“ (§ 5 I 3 G-10). Es ist also weder ein konkreter Tatverdacht noch eine Gefahr erforderlich. Im Ergebnis reicht eine nahezu immer gegebene „kaum konturierte allgemeine Bedrohungslage“ (Matthias Bäcker) aus.

Den Umfang der Überwachung bestimmt sich nach der Anordnung des Bundesministeriums des Innern (BMI), die das BMI auf Antrag des BND mit Zustimmung der G-10-Kommission erlässt (§ 5 I 1 und 2, § 10 I G-10). Das BMI legt in seiner Anordnung fest, auf welche Regionen und Übertragungswege sich die Überwachung erstrecken darf, auf welche Stichworte die Kommunikation durchsucht werden darf (§ 10 IV 1 G-10) und welcher Prozentsatz der gesamten Übertragungskapazität aller Übertragungswege, auf die sich die Anordnung bezieht, überwacht werden darf (max. 20 Prozent, § 10 IV 2 und 3 G-10).

Der Ablauf der strategischen Fernmeldeüberwachung lässt sich in mehrere Schritte unterteilen:

  • 1. Schritt: Der Zugriff des BND auf den Datenstrom erfolgt entweder bei einem Telekommunikationsunternehmen (§ 2 G-10) oder mittels eigener Einrichtungen ohne dessen Mitwirkung (§ 10 VI 2 G-10). Der BND erhält „eine vollständige Kopie der Telekommunikationen […], die in den angeordneten Übertragungswegen übermittelt werden“ („Full-Take-Ansatz“, siehe BT-Drs. 17/9640, S. 4). Weil die Kommunikation in Glasfaserkabeln bereits technisch nur vollständig überwacht werden kann, spielt die Begrenzung auf 20 Prozent der Übertragungskapazität daher nur bei der Auswahl der jeweils überwachten Übertragungswege eine Rolle.
  • 2. Schritt: Die strategische Fernmeldeüberwachung darf sich nur auf „internationale Telekommunikationsbeziehungen“ zwischen Deutschland und dem Ausland erstrecken. (§ 5 I 1 G-10). Es müssen daher zunächst rein innerstaatliche Telekommunikationsbeziehungen separiert werden. Nach welchen Kriterien und Methoden dies geschieht, wird von der Bundesregierung nicht offengelegt (siehe BT-Drs. 17/9640, S. 6 und BT-Drs. 17/14739, S. 14ff.). Eine Unterscheidung nach rein formalen Kriterien ist heute kaum mehr möglich: Zum einen kann etwa eine E-Mail heute von jedem Ort der Welt abgerufen und versandt werden, ohne dass dies von außen sichtbar wäre. Zum anderen verlaufen Übermittlungswege im Rahmen moderner Telekommunikation nicht gradlinig, sondern richten sich nach den verfügbaren Kapazitäten und den damit verbundenen Kosten. Eine E-Mail von Berlin nach München kann daher auch ihren Weg über das Ausland nehmen. Eine Unterscheidung anhand der Top-Level-Domain des E-Mailproviders oder dessen IP-Adresse dürfte ebenfalls zufällig und damit ungeeignet sein, weil auch viele deutsche Nutzer ausländische E-Mailanbieter nutzen. Auch andere Informationen, die im Rahmen einer E-Mail übertragen werden können bieten nur grobe Anhaltspunkte.
  • 3. Schritt: Die verbleibenden Daten werden nunmehr automatisch auf inhaltliche und formale Stichworte hin durchsucht.
  • 4. Schritt: Der BND prüft die herausgefilterten Telekommunikationsinhalte unverzüglich, ob sie für die Erfüllung der Zwecke nach § 5 I 3 G-10 relevant sind, und löscht sie unverzüglich, wenn dies nicht der Fall ist (§ 6 I 1 und 2 G-10). Die Löschung ist zu protokollieren; die Protokolldaten sind am Ende des Folgejahres ebenfalls zu löschen (§ 6 I 3–5 G-10). Wenn die Daten unverzüglich gelöscht worden sind, also keine nachrichtendienstliche Relevanz gegeben war, erfolgt keine Benachrichtigung des Betroffenen (§ 12 II G-10).

Im Jahr 2010 wurden z. B. im Gefahrenbereich „Internationaler Terrorismus“ auf Grund von 1.944 bzw. 1.808 Suchbegriffen 10.213.329 Kommunikationsvorgänge herausgefiltert und auf ihre nachrichtendienstliche Relevanz geprüft; nachrichtendienstlich relevant waren lediglich 29. Erfasst wurden dabei „Telekommunikationsverkehre in und aus 150 Staaten und weiteren 46 Regionen“. Die bemerkenswert hohe Zahl von Kommunikationsvorgängen, in denen sich Suchbegriffe fanden, erklärte die Bundesregierung mit einer „Spamwelle“ im Jahr 2010. Im Folgejahr wurden auf Grund von 1.450 bzw. 1.660 Suchbegriffen im gleichen Gefahrenbereich nur 329.628 Telekommunikationsvorgänge herausgefiltert; von ihnen waren 136 nachrichtendienstlich relevant (siehe BT-Drs. 17/12773, S. 6f.).

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts

Der Berliner Rechtsanwalt Niko Härting begehrte vor dem BVerwG festzustellen, dass die Anordnung der strategischen Fernmeldeüberwachung im Jahr 2010 rechtswidrig gewesen sei. Unter anderem beruhe sie auf einer verfassungswidrigen gesetzlichen Grundlage und sei auf Grund der geringen Zahl nachrichtendienstlich relevanter Informationen im Vergleich zur Zahl der „Treffer“ unverhältnismäßig. Er sei selbst von derartigen Maßnahmen betroffen, weil er mit ausländischen Mandanten per E-Mail korrespondiere.

Das BVerwG wies die Klage als unzulässig ab. Zwar sei der Rechtsweg nicht generell ausgeschlossen, weil der Ausschluss des Rechtswegs nur auf bestimmte Fälle beschränkt sei. Es sei lediglich möglich, aber nicht sicher, dass E-Mails des Klägers Gegenstand der strategischen Fernmeldeüberwachung gewesen seien:

  • a) Nach Auskunft des BND als Beklagtem sei keine E-Mail des Klägers als nachrichtendienstlich relevant gem. § 6 I 1 G-10 gespeichert worden. Es lasse sich nicht mehr aufklären, ob die E-Mails des Klägers auf Grund von Suchbegriffen „als Treffer“ auf ihre nachrichtendienstliche Relevanz untersucht und nach § 6 I 2 G-10 unverzüglich gelöscht wurden. Alle Protokolldaten seien Ende 2011 gelöscht worden. Da die Löschung auf Grund einer gesetzlichen Verpflichtung erfolgte, liege auch keine Beweisvereitelung durch den BND vor. Ebenso wenig bestehe eine verfassungsrechtliche Pflicht, die Betroffenen zu informieren, weil die hierzu notwendigen Recherchen den Eingriff vertiefen würden. Die Unaufklärbarkeit gehe damit nach allgemeinen Grundsätzen zu Lasten des Klägers.
  • b) Für den Kläger lag es daher nahe, die Offenlegung der Suchbegriffe zu verlangen, um nachzuweisen, dass die eigene E-Mail-Kommunikation diese Suchbegriffe enthielt und daher vom BND auf ihre nachrichtendienstliche Relevanz überprüft wurde. Dieses Beweisbegehren lehnte das BVerwG als nicht entscheidungserheblich ab. Das Gericht war bereits nicht im ausreichenden Maße überzeugt, ob die E-Mails des Klägers überhaupt zu den Rohdaten gehörten, welche der BND an einem Übertragungsweg „abgegriffen“ hat.
  • c) Ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis liegt nach Ansicht des BVerwG bereits dann vor, wenn ein Telekommunikationsvorgang für den BND „verfügbar“ gemacht worden ist und als Teil der Rohdaten „die Basis des nachfolgenden Abgleichs mit Suchbegriffen bildet“. Ein Eingriff scheide lediglich dann aus, wenn rein innerstaatliche Kommunikation „ungezielt und allein technikbedingt wieder spurlos ausgesondert“ werde.
    An dieser Stelle hätte man erwarten können, dass das BVerwG einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis ohne großes Aufheben bejaht. Anders aber das BVerwG: Es sei nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die E-Mail-Kommunikation des Klägers betroffen sei, weil „nur ein geringer Bruchteil aller Kommunikationsverkehre erfasst“ werde. Die strategische Fernmeldeüberwachung werde durch die Anordnung nach § 10 IV G-10 auf bestimmte Übertragungswege und 20 Prozent ihrer gesamten Übertragungskapazität beschränkt und sei daher immer nur „fragmentarisch“. Dem BVerwG ist dabei bewusst, dass es höhere Zulässigkeitsanforderungen stellt als das BVerfG. Das BVerfG verlangt im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde lediglich den Nachweis „einiger Wahrscheinlichkeit“, dass der Beschwerdeführer selbst von einer heimlichen Überwachungsmaßnahme betroffen ist.
  • d) Eine Absenkung des Beweismaßes gebiete, so das BVerwG weiter, auch Art. 19 IV 1 GG nicht. Der Ausschluss von Popularklagen sei ein legitimes Gemeinwohlanliegen. Zudem sei die Eingriffsintensität für einen Bürger, dessen Kommunikation unverzüglich nach einer Prüfung gelöscht werde, gering. Ihm sei es daher zuzumuten, wenn sich „die Unerweislichkeit seiner Betroffenheit zu seinen Lasten“ auswirke. Die Zustimmung der G-10-Kommission zur Anordnung durch das BMI (§ 5 I 2 G-10) und ihre Kontrollbefugnisse (§ 15 V G-10) wirkten schließlich als „kompensatorischer Grundrechtsschutz“. Wörtlich heißt es:

    „Erst recht stellt die G-10-Kommission die allgemeine Kontrolle durch die Öffentlichkeit sicher, wie sie durch eine Absenkung der Anforderungen an das Beweismaß und die damit einhergehende faktische Ermöglichung einer Popularklage bewirkt würde.“ (Urteil des BVerwG vom 28.5.2014, Rn. 41)

Kritik der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts

Das BVerwG nimmt einen Grundrechtseingriff scheinbar recht früh an, indem es wörtlich die Ausführungen des BVerfG aus seinem Urteil von 1999 übernimmt. Ein Eingriff sei danach bereits die Erfassung der Kommunikation, „insofern sie die Kommunikation für den Bundesnachrichtendienst verfügbar macht und die Basis des nachfolgenden Abgleichs mit den Suchbegriffen bildet“. Faktisch verlangt es aber vom Kläger den positiven Nachweis der Überwachung seines E-Mail-Verkehrs. Diesen Nachweis kann der Kläger aber schon deshalb nicht führen, weil er nicht weiß, auf welche Zielgebiete und Kommunikationswege sich die Überwachungsanordnung bezieht. Der Nachweis einer Überwachung der eigenen E-Mail-Kommunikation wäre aber für die Annahme eines Eingriffs in das Fernmeldegeheimnis auf Grund des Abschreckungseffekts, der von heimlichen Überwachungsmaßnahmen ausgeht, gar nicht erforderlich gewesen. Zudem verlangt das BVerwG im Rahmen der Zulässigkeit einen Grad an Gewissheit eines konkreten Grundrechtseingriffs, der im Widerspruch zu seiner eigenen Rechtsprechung sowie der des BVerfG steht.

Eingriff in das Fernmeldegeheimnis

Die Privatheit soll allgemein die Verhaltensfreiheit der Bürger schützen und im Falle des Fernmeldegeheimnisses speziell die Wahrnehmung der vertraulichen „Kommunikation auf Distanz“. Hintergrund ist der Einschüchterungseffekt, der von staatlichen Maßnahmen ausgeht. Dieser Einschüchterungseffekt äußert sich nicht nur in der Unsicherheit, „welche über die Informationserhebung hinausgehenden Nachteile aufgrund der Maßnahme drohen oder […] nicht ohne Grund befürchtet werden“ müssen. (siehe BVerfG-Urteil vom 11. März 2008) Schon die staatliche Informationserhebung greift in die Freiheit des Betroffenen ein. Zum einen können einmal gespeicherte Daten in immer neuen Kontexten mit anderen Daten kombiniert werden. Zum anderen aber führt bereits das „Gefühl des Überwachtwerdens“ dazu, dass wir uns nicht mehr im gleichen Maße unbefangen verhalten.

Da es sich um heimliche Maßnahmen handelt, setzt dieser Einschüchterungseffekt bereits dann ein, wenn der Bürger „nicht ohne Grund befürchtet“ (BVerfGE 100, 313 (376)), in den Fokus staatlicher Überwachung zu geraten. Bei Maßnahmen von einer so großen Streubreite wie der strategischen Fernmeldeüberwachung erscheint es allerdings passender zu fragen, ob der Bürger eine Überwachung seiner Kommunikation ausschließen kann oder für unwahrscheinlich halten muss. Dies kann er regelmäßig nicht, wenn es sich – wie bei der Vorratsdatenspeicherung oder der strategischen Fernmeldeüberwachung – um eine anlasslose Überwachung handelt; in den Worten des BVerfG verbreitet eine solche Überwachungsmaßnahme ein „diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins“.(siehe BVerfG-VDS-Urteil vom 2. März 2010) Hieran ändert auch die Beschränkung auf bestimmte Übertragungswege oder Gebiete nichts. Der Einzelne kann angesichts der Strukturen moderner Telekommunikation kaum beeinflussen, über welche Kommunikationswege die Übertragung erfolgt. Noch gravierender ist, dass die Bestimmung der überwachten Übertragungswege allein in der Hand des BND liegt und dem Einzelnen nicht bekannt ist. Gleiches gilt für die Begrenzung der Überwachung auf 20 Prozent der Übertragungskapazität, die angesichts der Überkapazitäten vieler Kommunikationsleitungen in der Praxis ohnehin nur eine geringe Hürde darstellt.

Der EGMR hat folgerichtig bereits im bloßen Vorhandensein einer gesetzlichen Überwachungsbefugnis einen Eingriff in die Freiheit der Personen gesehen, auf die diese Regelung angewendet werden könnte. Konkret für das G-10-Gesetz hat er einen Eingriff in Art. 8 EMRK gegenüber allen tatsächlichen und potenziellen Nutzer der Post- und Fernmeldedienste in Deutschland angenommen. Im Anschluss an die Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR hätte daher auch das BVerwG einen Grundrechtseingriff und damit ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis annehmen müssen.

Beweismaß

  • a) Es verwundert, dass aus Sicht des Gerichts auch bei Anwendung des üblichen Beweismaßes noch „erhebliche Zweifel“ verblieben, ob der Kommunikationsverkehr des Klägers von der Überwachung durch den BND betroffen war.

    aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG muss der Kläger lediglich die Möglichkeit einer Rechtsverletzung darlegen. Eine solche Möglichkeit besteht schon dann, „wenn eine Verletzung eigener subjektiver Rechte des Klägers nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist“. Höhere Anforderungen an die Darlegung einer konkreten Verletzung der Grundrechte des Klägers sind mit dem Recht auf einen effektiven und lückenlosen Rechtsschutz nach Art. 19 IV 1 GG unvereinbar. Sie würden die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes in unzumutbarer, sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren.

    bb) Das BVerwG begründet seine Zweifel mit dem „fragmentarischen Charakter“ der Überwachung durch die Begrenzung auf maximal 20 Prozent der Übertragungskapazität und bestimmte Übertragungswege. Ausschließen lässt sich die Möglichkeit einer Rechtsverletzung mit dieser Überlegung aber nicht: Genau betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit sogar verschwindend gering, dass keine E-Mail zwischen dem Kläger und einem Kommunikationspartner in einem Zielgebiet überwacht wurde. Ein Beispiel: Nimmt man (zu Gunsten des BND) an, dass 20 Prozent des E-Mail-Verkehrs zwischen Deutschland und einem Zielgebiet (und nicht der gesamten Übertragungskapazität der Übertragungswege) überwacht werden, beträgt die Wahrscheinlichkeit 80 Prozent, dass eine einzelne E-Mail nicht überwacht wurde. Eine Rechtsanwaltskanzlei versendet aber leicht mehrere Hundert E-Mails pro Jahr ins Ausland. Bereits bei 100 E-Mails pro Jahr in ein Zielgebiet beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass keine hiervon durch die „fragmentarische Überwachung“ des BND erfasst wurde, nur noch 0,00000002 % (= 0,8100). Eine Betroffenheit des Klägers ist also schwerlich „nach jeder Betrachtungsweise auszuschließen“.

    Selbst wenn diese Überlegungen das BVerwG nicht überzeugt hätten, hätte es berücksichtigen müssen, dass sich der Kläger in einer strukturellen Beweisnot befand, die aus der Art des Eingriffs resultierte, gegen den er sich zur Wehr setzte. Gegebenenfalls hätte das Gericht dann im Rahmen eines In-Camera-Verfahrens eine Beweisaufnahme über den Inhalt der Überwachungsanordnung durchführen müssen.

  • b) Offen grenzt sich das BVerwG von der Rechtsprechung des BVerfG zur unmittelbaren Betroffenheit im Rahmen von Verfassungsbeschwerden gegen heimliche Überwachungsmaßnahmen ab. Weil die Betroffenen von der konkreten Informationserhebung häufig nichts erfahren, erlaubt das BVerfG, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für eine heimliche Informationserhebung unmittelbar anzugreifen. Hierzu müssen zwei Voraussetzungen vorliegen: Der Betroffene muss zum einen mit einiger Wahrscheinlichkeit von einer konkreten Überwachungsmaßnahme betroffen sein. Zum anderen darf eine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz nicht durch Ablauf der Jahresfrist des § 93 III BVerfGG ausgeschlossen sein.

    Das BVerwG hält diesen Maßstab nicht für übertragbar, weil es selbst über eine konkrete Maßnahme und „allenfalls inzident“ über die Verfassungsmäßigkeit ihrer gesetzlichen Grundlage zu entscheiden habe. Indem es selbst höhere Anforderungen an die Zulässigkeit einer Feststellungsklage aufstellt als für eine Verfassungsbeschwerde, verweist es Betroffene quasi direkt an das BVerfG, wenn sie sich gegen die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Eingriffsermächtigung wenden wollen. Hierdurch stellt es aber die übliche Arbeitsteilung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit auf den Kopf.

    Schwierigkeiten bereitet der direkte Weg nach Karlsruhe dann, wenn entweder die Modalitäten der konkreten Überwachungsmaßnahme angegriffen werden sollen oder aber die Jahresfrist abgelaufen ist. Für letzteren Fall hat das BVerfG daher die Bedeutung des fachgerichtlichen Rechtsschutzes betont. Auch dies bleibt vom BVerwG unberücksichtigt.

  • c) Eine Absenkung des Beweismaßes im Lichte von Art. 19 IV 1 G-10 lehnt das BVerwG auch ab, indem es auf den „kompensatorischen Grundrechtsschutz“ durch die G-10-Kommission verweist. Es versteigt sich gar zu der Aussage, sie stelle die „allgemeine Kontrolle durch die Öffentlichkeit sicher“. (Rn. 40 f) Dabei ist die fehlende Öffentlichkeit gerade der entscheidende Unterschied gegenüber einem Gerichtsverfahren. Nicht ohne Grund wendet sich daher auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte in einem Bericht vom Juni 2014 gegen „secret interpretations – even secret judical interpretations“. (siehe Dok. A/HRC/27/37 vom 30. Juni 2014, .doc-Datei) Ferner kann die G-10-Kommission zwar die einzelne Maßnahme präventiv sowie auf Beschwerden hin überprüfen; sie kann aber nicht das G-10-Gesetz selbst verfassungsrechtlich prüfen und gegebenenfalls dem BVerfG vorlegen. Schließlich ist der Verweis auf die G-10-Kommission kein tragfähiges Argument für die Beschränkung des nachgelagerten Rechtsschutzes. Die G-10-Kommission ist nur im Anwendungsbereich des Art. 10 II 2 GG, also „zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes“, ein Ersatz für die Anrufung eines Gerichts und rechtfertigt nur in diesem Umfang einen Ausschluss des Rechtswegs.

Fazit

Das Urteil des BVerwG überzeugt nicht und wirkt ausgesprochen zielorientiert. Das Gericht übersieht, dass die Verwaltungsweisheit, „da könne ja jeder kommen“, nicht weiterhilft, wenn potenziell jeder Bürger von einer heimlichen Überwachungsmaßnahme betroffen ist. Umso wichtiger ist es, dass die Bürger Vertrauen in die rechtsstaatliche Anwendung derartiger Überwachungsbefugnisse haben. Dieses Vertrauen wird auch durch eine effektive richterliche Kontrolle aufrechterhalten. Die Gewährung von Rechtsschutz dient daher nicht nur dem Schutz der Rechte des Klägers im konkreten Fall, sondern hat daher darüber hinaus auch eine objektive Dimension. Die Kontrolle staatlichen Handelns ist besonders dann erforderlich, wenn es – wie hier – im Verborgenen stattfindet und damit nur eingeschränkt Gegenstand politischer Kontrolle und Diskussion ist. Leider hat das BVerwG seine Aufgabe nicht in diesem Sinne erfüllt.

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6 Ergänzungen

  1. Machen wir uns nichts vor. Die Kontrolle der Geheimdienste ist inzwischen vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Weder Politik noch Gerichte sind in der Lage ihnen Einhalt zu gebieten. Der Rechtsstaat hat auf ganzer Linie versagt. Es drohen noch nicht einmal strafrechtliche Konsequenzen wenn Gerichte und Ausschüsse nachweislich belogen und Beweismittel „zufälligerweise“ vernichtet werden.

    Denk ich an Deutschland in der Nacht ……

    1. Auf den Punkt gebracht!

      Ein Rechtsstaat kann nicht nur ein bisschen Rechtsstaat sein. Vor allem aber sollte er Bürger nicht dabei systematisch behindern, wenn sie gegen staatliche Institutionen ihr Recht suchen.

  2. Das Bundesverfassungsgericht hat versagt, als es die Organklage der Opposition auf Anhörung von Edward Snowden in Berlin ablehnte: damit hat es mir und anderen bewiesen, dass in diesem Land parlamentarische Kontrolle über die Geheimdienste nicht durchgesetzt wird ! Insiderwissen von Geheimdiensten als „Holschuld“ der Parlamentarier, die kontrollieren sollen, ist ohnehin schon nicht ernsthaft möglich, aber wenn man dann noch den Whistleblowerschutz torpediert, dann WILL man ja wohl die Geheimpolitik und nicht die freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie aus Artikel 20 GG. Und eben das hätte dem Bundesverfassungsgericht nicht unterlaufen dürfen !
    Als Bürger gegen für uns unbeweisbare Überwachung (persönliche Betroffenheit wg. Verweigerung Auskunft durch Nachrichtendienste nicht nachweisbar) des eigenen Staates zu klagen bleibt unmöglich, wenn das Bundesverfassungsgericht sich nicht verbessert !

  3. Vielen Dank für den differenzierten Artikel an Herrn Schantz.
    Offensichtlich muss das BVerwG leider noch einiges lernen.

  4. Achja, 1983 unbd 1987 sah man das noch „etwas“ anders…?

    Wikipedia meint:
    Das Volkszählungsurteil ist eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983, mit der das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde etabliert wurde. Das Urteil gilt als Meilenstein des Datenschutzes. Anlass war eine für April bis Mai 1983 geplante, aufgrund des Urteils erst 1987 modifiziert durchgeführte Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland.

    Die zentrale Stelle der Entscheidung (unter C II 1 a) lautet:
    „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. […]

    Vermutlich ist diese Grundsatzentscheidung nach über 30 Jahren verjährt? Ich bin ja kein Jurist.

    Auch sei daran erinnert das wir „eigentlich“ sog. „Gewalteteilung“ haben.
    Nur in G10 wird dem Bürger jedes Rechtsmittel entzoagen Vgl. Prof. Foschepoth…

  5. Nach den Überwachungsmaßnahmen der letzten Dekade und anderen bürgerfeindlichen Ureilen zu Gunsten von VIPs oder Banken oder Großunternehmen wird deutlich, dass man von einem Rechtsstaat nicht mehr sprechen kann. Wenn den Richtern, welcher Gerichtsinstanz auch immer, nicht mehr die Verfassung der BRD als Rechtsgrundlage für alle ihre Entscheidungen zu Grunde legen, wie das hier beim Urteil des BVerwG deutlich wird, dann brauchen wir über Rechtsstaatlichkeit auch nicht mehr zu philosphieren, weil sie definitiv nicht mehr existiert.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.