Tibet-Gaming über Bande

Wikipedia enthält einen Artikel zu Tibet.

Das ist gelogen.

Die deutschsprachige Wikipedia enthält einen Artikel mit dem Titel „Tibet“. Noch dazu eine Kategorie „Tibet“ mit 48 Artikeln und 6 Unterkategorien und insgesamt 250 Artikel mit Tibet-Bezug. In der englischen Sprache sind es knapp doppelt so viele.

Insgesamt wurde der Tibet-Artikel bisher ungefähr 600 Mal bearbeitet und trägt seit Februar 2006 in der deutschsprachigen Wikipedia das halb-Gütezeichen „Lesenswerter Artikel“.

In der FAZ ist heute ein Artikel „Bestenfalls Blauäugig“ von Klemens Ludwig über diesen Artikel zu lesen. Aufhänger ist eine Pressemitteilung der Tibet Initiative Deutschland vom Febuar 2006.

TID kritisiert Wikipedia

Stichwort „Tibet“ verbreitet offizielle chinesische Sichtweise

Nun muss man wissen, daß es der Anspruch der Wikipedianer ist, die Sache genau zu nehmen. Im Grunde kann man nur hoffen, daß Wikipedia genau dies tut, nämlich die Sichtweise der chinesischen Regierung zu verbreiten. Was Wikipedianer nicht machen, ist, sich die regierungschinesische Sichtweise anzueignen. Dieser Unterschied hat gewaltige Konsequenzen.

Er ist im Handbuch unter Wikipedia:Neutraler Standpunkt dargelegt:

Ein guter Artikel stellt u.a. auch die verschiedenen Standpunkte zum Thema dar. Sofern die verschiedenen Standpunkte ähnlich ausführlich beschrieben sind, stellt der Artikel als gesamtes den neutralen Standpunkt dar. So ist es bei vielen Artikeln möglich neben dem Befürworter- auch den Gegner-Standpunkt zu beschreiben (z.B. in einem Abschnitt der mit ‚Kritik‘ betitelt wird).

Hand in Hand mit der Neutralität geht übrigens auch die Pflicht, Quellen zu nennen. Klingt trivial, ist es aber nicht immer. Wikipedia ist kein Ort, um die Frage der ethnischen Zusammensetzung Tibets (oder die Frage, wie viel Gebiet Tibet genau ist) zu klären. Wir verweisen auf belastbare externe Quellen, die dies mit eigenen Worten darstellen.

In der FAZ lässt sich die TID zitieren:

Unsere wichtigste Quelle sind die Flüchtlinge in Indien.

Das ist insofern schwierig, als dass „Ich hab’s von einem Flüchtling in Indien“ als Beleg wenig hilft. Eine wissenschaftliche Fachpublikation, die mit einer gesicherten Methodik solche Aussagen auswertet, ist da schon etwas anderes.

Was gestern und heute einzelne Wikipedianer aufgeregt hat, ist die Tatsache, daß der FAZ-Autor offenbar Mitglied der TID ist und mal ihr erster Vorsitzender war. Wäre da nicht noch im Artikel dafür etwas Platz gewesen? Stand nicht ein Kollege bereit, der hier den Artikel hätte schreiben können?

Als Ratschlag, der auch ausserhalb der Wikipedia hilfreich sein könnte, bleibt mir wieder Wikipedia:Neutraler Standpunkt:

Wer in einem sehr emotionalen Verhältnis zu einem bestimmten Thema steht, sollte auf eine Mitarbeit in dem betroffenen Themengebiet verzichten, um die Neutralität nicht zu beeinträchtigen.

Disclaimer: Der Autor ist Wikipedianer.

Leserbrief von Elisabeth Bauer, Wikipedianerin und im Artikel zitiert an die FAZ, hierher in Kopie:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Mit einigem Befremden habe ich als Pressesprecherin der Wikipedia Ihren
Artikel „Bestenfalls Blauäugigkeit“[1] gelesen. Es wäre vielleicht
angebracht gewesen, bei einem Beitrag über Vorwürfe der Tibet Initiative
Deutschland e.V. gegen Wikipedia den Hintergrund des Autors als
ehemaligem ersten Vorsitzenden dieses Vereins[2] zu erwähnen. Die
Presseerklärung auf der Website der TID zu diesem Fall[3] ist der
Wikipedia niemals zugegangen. Von dort behaupteten Kontaktaufnahmen bzw.
einem Angebot zur Mitarbeit ist uns nicht bekannt. Dagegen steht seit
21. Dezember 2005 auf der Diskussionsseite des Tibetartikels eine
bislang unbeantwortete Einladung an die TID zur Mitarbeit am Artikel[4].

Die Mitarbeit an der Wikipedia und Korrekturen an Artikeln stehen
prinzipiell allen offen. Als Enzyklopädieprojekt müssen wir allerdings
darauf bestehen, dass insbesondere umstrittene Behauptungen mit
anerkannten Quellen belegt werden, mögen sie auch noch so wahr sein.
Darauf wird bei jeder Bearbeitung hingewiesen. Die Wikipedia-Richtlinie
des Neutralen Standpunkts fordert, ebenso die offizielle chinesische
Sichtweise wie anerkannte kritische Sichtweisen darzustellen. Nach der
Richtlinie sollen Artikel selbst nicht Position beziehen, sondern
konkurrierende Darstellungen so neutral wie möglich beschreiben. So
finden sich im Artikel „Tibet“ zum Beispiel neben den offiziellen
chinesischen Bevölkerungsangaben auch die Schätzungen der tibetischen
Exilregierung. Chinesische wie exiltibetische Darstellungen sind als
solche kenntlich gemacht.

Insofern kann ich die Vorwürfe („Bestenfalls Blauäugigkeit“) nicht ganz
nachvollziehen. Als offene Enzyklopädie muss sich Wikipedia der
Einflußnahme zahlreicher Interessen- und Lobbygruppen erwehren. Die
freiwilligen Autoren achten deshalb zunehmend darauf, dass nur
ausreichend belegte Angaben Eingang in Artikel finden.

Eine Korrektur noch: Wikipedia-Artikel haben keinen alleinigen Autor,
wie der Artikel suggeriert. Am Artikel über Tibet etwa arbeiten vier bis
fünf Autoren regelmäßig mit, nicht mitgerechnet diejenigen freiwilligen
Mitarbeiter, die alle Änderungen auf unkommentierte Textlöschungen und
unbelegte Behauptungen überprüfen und gegebenenfalls rückgängig machen.
Die Behauptung, der Autor einer Passage hätte Änderungen selbst
zurückgesetzt, erscheint mir deshalb etwas gewagt.

mit freundlichen Grüßen,
Elisabeth Bauer

[1]
http://www.faz.net/s/Rub8A25A66CA9514B9892E0074EDE4E5AFA/Doc~EC7764D4EE9CC432C9C0157FA5433AC54~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[2] http://www.tibet.de/tib/tibu/2004/tibu70/70tid.html
[3]
http://www.tibet-initiative.de/frames.html?Seite=/Kap9/9-4/Kap9_4-135.html
(auf der Diskussionsseite des Artikels in der Wikipedia findet sich
lediglich eine anonym eingestellte anderslautende, angeblich von der
Tibetinitiative stammende Presseerklärung, die aber wiederum nicht auf
deren Website zu finden ist)
[4]
http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Tibet#Ausschließlich_antichinesische_Haltung_ist_unangebracht

Anmerkung:

Elisabeth Bauer war als Wikipedianerin an der Formulierung von Texten aus dem Handbuch beteiligt, so auch an den Texten zum Neutralen Standpunkt.

Anmerkung 2: FAZ.NET hat einen redaktionellen Kodex, der hier unter Umständen einschlägig sein könnte.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

6 Ergänzungen

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.