Nahost und NordafrikaSoziale Medien als Falle für die LGBT-Community

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch untersucht in einem aktuellen Bericht das sogenannte digitale Targeting von LGBT-Personen in Nordafrika und Nahost. Der Bericht stützt sich auf Interviews mit 90 Betroffenen und veranschaulicht die massiven Folgen dieser Form der staatlichen Verfolgung.

Eine Person steht mit einer Regenbogenflagge auf einer Sanddüne inmitten der Wüste
Diffusion Bee (a man climbing a sand dune carrying a rainbow flag blue sky, oil painting, highly detailed)

Inhaltliche Warnung: Der im Folgende diskutierte Bericht beschreibt explizit Hassrede, Folter, sexuelle Übergriffe und Gewalt gegenüber LGBT-Personen.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat heute einen Bericht zu Interviews veröffentlicht, die sie mit lesbischen, schwulen, bisexuellen und transgender/nicht-binären (LGBT) Menschen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika (MENA-Region) führte. Der Bericht zeigt auf, wie unter anderem staatliche Behörden soziale Medien und Messengerdienste nutzen, um LGBT-Menschen gezielt zu verfolgen, zu erpressen und zu verhaften – mit dramatischen Folgen für die Betroffenen.

„Digital Entrapment“ nennt HRW die Praxis, mit der Behörden queere Menschen in den untersuchten Ländern attackieren. Vor allem LGBT-Aktivist:innen, sowie transgender und mehrfach marginalisierte Personen geraten laut Bericht ins Visier. Zur Anwendung kommen dabei gefälschte Profile, die Androhung eines Outings und physische Gewalt.

Gemeinsam mit lokalen Organisationen führte HRW in Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Tunesien Interviews mit insgesamt 90 LGBT-Personen und 30 Expert:innen. Die Berichte der Teilnehmenden beziehen sich auf Erfahrungen aus den Jahren 2017 bis 2022. Zudem sichtete HRW die Akten von 45 willkürlichen Verhaftungen, bei denen die Behörden digitale „Beweise“ nutzten oder fabrizierten.

Täuschung, Erpressung und Gewalt

Das Vorgehen gleicht sich in der Regel: Privatpersonen oder behördliche Mitarbeiter:innen nehmen mit gefälschten Profilen Kontakt zu queeren Menschen auf. So berichtet ein schwuler Mann aus Ägypten: „Ich chattete mit einem Mann auf Grindr, während ich im Café saß. Wir hatten uns im Café verabredet, aber anstatt des erwarteten Mannes tauchten fünf Polizisten in Zivil auf“. Anschließend hätten die Polizisten ihm mit Mord gedroht, sollte er sein Smartphone nicht übergeben, so der Betroffene weiter. Die sichergestellten Bilder nutzten die Behörden, um eine Anklage wegen „Unsittlichkeit“ gegen ihn zu formulieren.

Ein anderer Teilnehmer wurde von schiitischen Milizen erpresst: Entweder zahle er 30.000 US-Dollar oder seine queere Identität würde im Internet veröffentlicht. Ein Outing hat für Betroffene zumeist schwerwiegende Konsequenzen. HRW zitiert eine lesbische Frau aus Tunesien: „Meine Mutter warf mich wegen des Fotos auf Facebook raus. […] Ich meldete den Post, mit dem ich geoutet worden war, aber gelöscht wurde er nicht. Die Polizei involvierte ich nicht, weil sie es waren, die mich verurteilt hatten. Weil das Foto viral ging, konnte ich keinen Job mehr finden.“

Als „Beweisstücke“ dienen den Behörden unter anderem heimliche Aufnahmen von Cybersex, Bilder von Menschen, die sich gender-nonkonform ausdrücken oder Screenshots von Unterhaltungen. Im Falle einer Verhaftung seien Smartphones der Betroffenen auch dazu genutzt worden, um Beweisstücke wie gefälschte WhatsApp-Nachrichten zu fabrizieren.

Ein weiterer Fokus des Reports liegt auf den menschenunwürdigen Umständen und dem vielfachen Missbrauch, denen die Betroffenen bei einer Verhaftung ausgesetzt sind. Beispielsweise seien transgender Frauen in Gefängnissen für Männer untergebracht worden. Mehrere Befragte berichten von Vergewaltigungen, Drohungen und schwerer Gewalt in der Haft.

Die Verantwortung der Plattformen

Alle 90 LGBT-Teilnehmer:innen sagten gegenüber HRW, sich aus Selbstschutz online selbst zu zensieren. Alle Befragten gaben an, stark unter den Folgen der behördlichen Verfolgung zu leiden; einige erwogen oder versuchten Suizid.

HRW fordert mehr Verantwortung von den Plattformen, damit diese für queere Menschen sicherer werden. Die Organisation schlägt unter anderem strengere Moderationsregeln und verbesserte Meldemechanismen vor. Die Regierungen der untersuchten Länder fordert HRW auf, sich an den UN-Zivilpakt zu halten. Dieser völkerrechtliche Vertrag schreibt das Recht auf Nicht-Diskriminierung und Meinungsfreiheit fest. Der Bericht schließt mit Handlungsempfehlungen, die sich an die Regierungen und Behörden in Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Tunesien richtet.

In den meisten Ländern der MENA-Region sind gleichgeschlechtliche Beziehungen oder „unkonventionelle“ Genderexpressionen illegal. In Ägypten, Irak und Jordanien ist dies juristisch nicht explizit geregelt. Stattdessen dienen schwammig formulierte Regeln zu „Moral“ oder Prostitutionsgesetzen dazu, LGBT-Personen zu verfolgen. Auch das Targeting über soziale Medien ist nicht neu: So warnte Tinder im Jahre 2019 Reisende davor, die Dating-App in bestimmten Ländern zu nutzen. 2017 wurden in Ägypten 34 Menschen festgenommen, nachdem auf einem Konzert Regenbogenflaggen gehisst wurden. Die Verhaftungen beruhten auf Auswertungen von sozialen Netzwerken und Dating-Apps.

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