Gefängniskommunikation in den USA Wenn die Software mithört

In den USA nutzen mittlerweile dutzende Gefängnisse Software, um Telefongespräche ihrer Insassen abzuhören und auszuwerten. Mit der Technologie wollen die Behörden eigentlich Bandenkriminalität und Gewaltverbrechen in Haftanstalten bekämpfen. Dabei blieb es aber nicht.

Öffentliches Telefon in Metallbox
Mit Verus können die Behörden Telefongespräche in Echtzeit mitschneiden und nach Schlüsselwörten filtern. (Symbolbild) – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com John-Paul Henry

Wenn Inhaftierte in US-amerikanischen Gefängnissen mit der Außenwelt telefonieren, zeichnen Beamte ihre Gespräche in der Regel auf. Dutzende Haftanstalten – unter anderem in den Bundesstaaten New York, Alabama und Texas – nutzen dafür mittlerweile automatische Auswertungen. Laut einem Bericht von Reuters haben einige Gefängnisbehörden die Software aber nicht nur für die Aufklärung von schwerwiegenden Verbrechen eingesetzt, sondern damit im großen Stil die Gespräche ihrer Insassen gescannt. Die Überwachung von Telefonanrufen in Haftanstalten ist in den USA legal – aber nur solange sie der Sicherheit und der Verbrechensbekämpfung dient.

Die meisten Gefängnisse nutzen die Software Verus des kalifornischen Unternehmens LEO Technologies. Neben Securus und GTL zählt es zu den Markführern für Software zur Überwachung von Gefängniskommunikation. Dank Sprachtranskription von Amazon kann Verus Telefongespräche der Insassen in Echtzeit in Text überführen und markiert bestimmte Schlüsselwörter, die die Beamt:innen vorher festgelegt haben. Außerdem wirbt LEO damit, dass Verus die Kommunikationsmuster der Inhaftierten analysieren könne. Damit sollen die Behörden noch effizienter gegen organisierte Verbrechen und Bandenkriminalität vorgehen.

Verus als Frühwarnsystem

Wie Dokumente des Unternehmens LEO jetzt zeigen, wurden mit Verus zu Beginn der Corona-Hochphase im Frühjahr 2020 tausende Anrufe systematisch nach Schlüsselwörtern wie „Husten“ und „Infektion“ durchsucht. Damit wollte die Behörde potenziell infizierte Inhaftierte herausfiltern. Auch harmlose Begriffe oder Worte mit Mehrfachbedeutungen landeten plötzlich auf dem Radar der US-Strafvollzugsbeamt:innen. Aus den Unterlagen, die Reuters ausgewertet hat, gehe auch hervor, dass etwa nach dem spanischen Wort für „Anwalt“ gesucht worden sei.

Nicht nur solche Schlüsselworte hat das System herausgefiltert, sondern auch Anrufe, mit denen Insassen der Gefängnisleitung potenziell unangenehm werden können. Das Gefängnis in Suffolk County zeichnete etwa ein Gespräch zwischen einem Inhaftierten und seinem Vater  auf, in dem er von einem Vertuschungsversuch eines Covid-Ausbruchs in dem Gefängnis berichtet. In dem Telefonat spricht er davon, die Presse kontaktieren zu wollen. Um ein geplantes Verbrechen geht es an keiner Stelle. Trotzdem erhalten fast ein Dutzend Gefängnisangestellte und LEO-Mitarbeitende im Anschluss einen offiziellen Bericht über das aufgezeichnete Gespräch.

Das Gefängnis in Suffolk County ist kein Einzelfall. In der Strafanstalt in Calhoun County im Bundesstaat Alabama nutzen die Führunskräfte Verus, um sich auf drohende Klagen von Insassen vorzubereiten – und diese im Ernstfall auch abzuwehren zu können. „Solche Vorfälle zeigen, wie KI-gestützte Überwachungstools eingesetzt werden können, um Gefangene zu identifizieren, die sich gegen Missstände aussprechen oder zu Whistleblowern werden wollen“, erklärt Stephanie Krent, Juristin am Knight First Amendment Institute der Columbia University.

Allein in Suffolk County hat Verus zwischen der Einführung im April 2019 und Mai 2020 mehr als 2,5 Millionen Telefongespräche überwacht, wie Reuters berichtet. Das habe zu 96 „einsetzbaren Berichten“ geführt. Laut Krent sei jedoch nicht klar, ob die Berichte wirklich die Auswertung von mehreren Millionen Anrufen rechtfertigten. „Das gibt einen Lawineneffekt. Wenn eine Technologie wie diese erst einmal eingeführt ist, ist es schwer, sie wieder loszulassen“, sagt sie.

Der Software schutzlos ausgeliefert

Für den stellvertretenden Polizeichef Kevin Catalina, der das Programm in Suffolk County mitbetreut hat, ist das System ein Gewinn für „die öffentliche Sicherheit und die Sicherheit des Personals und der Häftlinge“. Die Technologie habe schon Menschenhandel aufgedeckt und Gewaltverbrechen aufgeklärt. Die Inhaftierten wüssten schließlich Bescheid, dass ihre Anrufe abgehört würden. Außerdem nehme die Software den Behörden ein gehöriges Stück Arbeit ab, so Catalina: „Anstatt stundenlang aufgezeichnete Anrufe zu durchforsten, können Mitarbeiter ihre Zeit effizienter nutzen, indem sie sich auf Schlüsselwörter konzentrieren, die bestimmte Ziele erfüllen“.

Während die Strafverfolgungsbehörden und das Unternehmen LEO die Technologie als wichtiges Instrument anpreisen, um Verbrechen zu bekämpfen, warnen Kritiker:innen davor, dass das System die Datenschutzrechte von Gefangenen und deren Angehörigen mit Füßen tritt. „Die Möglichkeit dieser schnellen  Überwachung im großen Stil ist unglaublich beängstigend und abschreckend“, sagt Julie Mao, stellvertretende Direktorin bei Just Futures Law, einer Organisation für Migrationsrecht.

Datenschützer:innen sehen nicht nur die Privatspähre der Inhaftierten bedroht. Laut der Forscherin der Electronic Frontier Foundation (EFF) Beryl Lipton, die sich mit Überwachungssystemen in Gefängnissen befasst, könne es auch vorkommen, dass das System einen Inhaftierten zu Unrecht als Mitglied einer Bande erfasse. „Es gibt oft keine Möglichkeit herauszufinden, ob man auf einer solchen Liste steht und wie man sie wieder loswerden kann“, sagte sie und fügte hinzu, dass die Strafverfolgungsbehörden in Suffolk County in der Vergangenheit Latino-Männer fälschlicherweise als Bandenmitglieder eingestuft hätten.

Dass einige automatisierte Spracherkennungsysteme eine besonders hohe Fehlerrate bei Schwarzen Sprechenden haben, zeigte ein Forscher:innenteam der Stanford und der Georgetown Universität in einer Studie im letzten Jahr. Kritiker:innen befürchten deshalb auch, dass die Technologie die rassistischen Vorurteile im US-amerikanischen Justizsystem noch verstärken wird.

Wie aus den Dokumenten des Bezirks Suffolk hervorgeht, hat LEO Informationen aus dem Verus-System bereits an aktuelle und potenzielle Kunden in den gesamten Vereinigten Staaten weitergegeben. Auch mehr als zwei Dutzend Strafverfolgungs- und Einwanderungsbehörden sollen die Software bereits erhalten haben.

Auch in Deutschland darf der Staat teils Anrufe von Gefangenen in Untersuchungshaft überwachen, so ist es in der Strafprozessordnung geregelt. Viele JVAs nutzen dafür die Produkte des Anbieters Telio, der in Europa marktführend bei Gefängnis-Kommunikationstechnik ist. Die Firma wirbt unter anderem mit einer zentralen Anrufüberwachung und -aufzeichnung.

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2 Ergänzungen

  1. Wie habe ich „…hat LEO Informationen aus dem Verus-System bereits an aktuelle und potenzielle Kunden in den gesamten Vereinigten Staaten weitergegeben…“ zu verstehen? Welche Informationen wurden weitergegeben? Arbeitet das System zentral („in der Cloud“) und LEO hast Zugriff auf die abgehörten Gespräche und hat diese weitergegeben?

    1. Laut Berichten von Reuters hat LEO die Erkenntnisse, die durch den Einsatz von Verus in Gefängnissen hergestellt werden konnte, mit aktuellen und potenziellen Kunden in den gesamten Vereinigten Staaten geteilt. Verus basiert auf der AWS-Plattform und wird als Cloud-basierte Anwendung bereitgestellt. Eine Datentabelle aus dem Frühjahr 2020, die das Unternehmen an Kunden weitergegeben hat, zeigte zudem, dass tausende Anrufe auf der Grundlage von Schlüsselwörtern wie „Husten“ und „Infektion“ gekennzeichnet wurden. Im Artikel von abc-News kann man nochmal genauer nachlesen, inwiefern LEO seine Informationen weitergibt: https://abcnews.go.com/Technology/us-prisons-jails-ai-mass-monitor-millions-inmate/story?id=66370244

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