Ungewollt im InternetNeue Kampagne gegen Instrumentalisierung von Obdachlosen durch Influencer

Influencer „helfen“ wohnungslosen Menschen vor laufender Kamera, oftmals ohne deren Einverständnis. Die Bahnhofsmission Essen macht auf das Phänomen aufmerksam und tritt dem problematischen Content entgegen. Mit Stickern und Aufklärungsarbeit will sie die Privatsphäre von Obdachlosen schützen.

Sticker mit der Aufschrift "Mein Gesicht gehört mir!" liegen auf einem Holztisch.
Kampagnen-Sticker liegen in der Bahnhofsmission Essen. – Alle Rechte vorbehalten Bahnhofsmission Essen

Immer häufiger sieht man sie: Bilder und Videos von Influencern, die Essen, Kleidung oder Spenden an Obdachlose verteilen. Was vermeintlich gut gemeint ist, nützt in erster Linie dem Content-Creator und kann problematische Nebenwirkungen haben. Denn oft filmen sie die Gesichter der Obdachlosen, ohne diese zu fragen. Mit ihrer Kampagne „Mein Gesicht gehört mir!“ geht die Bahnhofsmission Essen auf Instagram und auf der Straße gegen das Phänomen vor.

„Je mehr ich die Menschen in die Öffentlichkeit ziehe, desto mehr stigmatisiere ich sie“, beschreibt der Leiter der Bahnhofsmission, Martin Lauscher, das Problem in einem Interview mit dem Datenschutz-Blog Artikel91. „Menschen werden so zum Objekt einer angeblichen Hilfe gemacht und bezahlen das auch noch mit ihrer Privatsphäre.“

Denn die Aufnahmen der vermeintlich guten Taten werden im Internet verbreitet und bleiben dort. Oft geben die Influencer auch den Standort, die Lebensumstände und den Namen der Gefilmten preis. „Nur, weil Menschen im öffentlichen Raum sind, weil sie eben kaum Rückzugsmöglichkeiten haben, geben sie ja nicht alle Rechte an ihrer Privatsphäre auf“, so Lauscher weiter. Um sich gegen diesen Trend zu wehren, können Obdachlose Sticker mit der Aufschrift „Mein Gesicht gehört mir!“ und einer durchgestrichenen Kamera von der Bahnhofsmission erhalten. Diese entlarven unfreiwillige Videos.

Zu der Aktion der Bahnhofsmission, die zum katholischen Hilfsverband Caritas gehört, zählt auch Aufklärungsarbeit unter Betroffenen. Diese können sich beim Streetwork-Team melden, um Unterstützung beim Durchsetzen ihres Rechts auf Privatsphäre zu erhalten.

In allen Großstädten zu beobachten

Genaue Zahlen zu dem Phänomen habe er nicht sagt Martin Lauscher im Interview mit Artikel91. Doch mittlerweile gebe es in allen größeren deutschen Städten Content-Creator, die die fragwürdigen Inhalte produzieren.

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Auch in Essen habe es kürzlich einen Fall gegeben, bei dem ein Influencer für einen obdachlosen Mann Spenden sammelte, welche laut diesem nicht vollständig ankamen. Eine juristische Klärung steht noch aus. Eine Einladung der Bahnhofsmission und anderer Caritas Einrichtungen wollte der Creator nur mit Kamera annehmen. Als das Filmen untersagt wurde, sagte er kurz vor dem Termin ab.

Sozialarbeiter Lauscher empfiehlt, dass Menschen aktiv werden, wenn sie auf der Straße beobachten, wie eine obdachlose Person gegen ihren Willen gefilmt wird. „Aufmerksam sollte man auch sein, wenn eine Kamera so gehalten wird, dass die gefilmte Person es nicht merken soll, dass sie gefilmt wird.“ Wenn man das Gefühl habe, dass auf der Straße jemand etwas mit einem Menschen tue, der das offensichtlich nicht wolle, „dann sollte man eingreifen und die bedrängte Person unterstützen“.

Menschlichkeit verkauft sich

Auf TikTok tritt das Phänomen auch immer wieder unter dem Namen „random acts of kindness“ auf, einem Hashtag unter dem Menschen Videos posten, in denen sie „zufällige gute Taten“ vollbringen. Doch sind diese Taten meist weder zufällig noch ausschließlich gut für die Personen, gegenüber welchen sie erbracht werden. Auch viele Videos von Obdachlosen lassen sich unter dem Hashtag finden.

Das Phänomen sei über die Sozialen Medien aus dem anglo-amerikanischen Raum nach Deutschland gekommen, erzählt Lauscher. Gefragt, warum die Videos so beliebt sind, antwortet der Leiter der Bahnhofsmission:

Mein Bauchgefühl ist, dass der Zuspruch von Menschen kommt, die eine sehr idealisierte Sicht von Hilfe haben, die aber mit der Realität der sozialen Arbeit nichts zu tun haben. Da gibt es gar kein Gefühl dafür, was eine Wohnungslosigkeit für einen Menschen bedeutet. Da sieht man dann, wie jemand einmal eine Spende übergibt oder auch nur einen warmen Tee ausschenkt und denkt dann, damit wäre schon geholfen. Aber wenn man jeden Tag Kontakt hat mit wohnungslosen Menschen, dann weiß man, dass es mit solchen punktuellen Aktionen nicht getan ist.

Hilfeleistungen sollten jedoch niemals an eine Gegenleistung geknüpft sein sollen, so Lauscher weiter. „Das ist unsere fachliche Haltung, wie wir Menschen unterstützen, und das ist etwas, was auch für alle anderen gelten sollte – alles andere verzweckt die Menschen, denen man angeblich helfen will.“

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9 Ergänzungen

  1. § 201a StGB

    Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen

    1. Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

    2. eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt,

    5. eine befugt hergestellte Bildaufnahme der in den Nummern 1 bis 3 bezeichneten Art wissentlich unbefugt einer dritten Person zugänglich macht und in den Fällen der Nummern 1 und 2 dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt.

    Da die strafrechtlichen Risiken nicht unerheblich sein können, ist diesen „Content-Kreaturen“ anzuraten, eher die einfachen Problemfelder ihrer etwas unterkomplexen digitalen Existenz zu bearbeiten.

    Das #Stadtbild von solchen hyperaktiven Influencern (ohne ihre Opfer weiter zu behelligen) mittels der Methode Sarkozys «Nettoyer au Karcher» zu reinigen, fällt selbst der CDU im Moment noch sichtlich schwer.

    Es würde mich sehr freuen, wenn der juristische Begriff des höchstpersönlichen Lebensbereichs einer im öffentlichen Raum lebenden Person einmal verfassungsrechtlich genauer untersucht würde.

    1. DSGVO:

      Personenbezogene Daten in Bildern: Die DSGVO betrachtet Bilder, auf denen Personen erkennbar sind, als personenbezogene Daten. Das bedeutet, dass Fotografien, die Menschen abbilden, unter die Verordnung fallen, da sie Informationen über identifizierbare Personen enthalten.

      Verarbeitung von Daten: Fotografen verarbeiten personenbezogene Daten, indem sie Fotos aufnehmen und veröffentlichen. Diese Verarbeitung muss den strengen Anforderungen der DSGVO entsprechen.

      Rechte der Betroffenen: Gemäß der DSGVO haben die abgebildeten Personen bestimmte Rechte in Bezug auf ihre Daten. Dazu gehöen das Recht auf Information, das Recht auf Löschung und das Recht auf Widerspruch.

      Transparenz und Nachweispflicht: Die DSGVO erfordert von Fotografen eine erhöhte Transparenz bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten. Sie müssen sicherstellen, dass sie die Datenschutzgrundsätze einhalten und nachweisen können, wie sie mit den Daten umgehen.

      Einwilligung: Fotografen müssen vor dem Fotografieren die Einwilligung der abgebildeten Personen einholen. Diese Einwilligung muss transparent, freiwillig und im Normalfall schriftlich sein.

  2. Wenn Random Menschen den Obdachlosen etwas gutes tun dann stört das die NGOs und Hilfsorganisationen. Denn die wollen beim Verteilen der Ressourcen dann denen die gut verdienen natürlich keine Konkurrenz. Alles klar.

    Ansonsten, vielleicht wollen Obdachlose ja auch im Einzelfall gefilmt werden damit ihre Anliegen bekannt werden. Wäre es Hilfreich wenn die Existenz von Obdachlosen im Internet unsichtbar wird ?

    Filmen gegen den Willen geht natürlich gar nicht und sollte als Straftat geahndet werden.

    1. Niemand hat etwas dagegen, wenn Obdachlosen Gutes getan wird – sofern diese die Art und Weise auch als gut empfinden. Letzteres ist der springende Punkt. Es geht nicht um die Hilfe, sondern um die Instrumentalisierung dieser Hilfe zu egoistischen Zwecken. Wenn Influencer:innen aus Menschenliebe und nicht aus Eigennutz Gutes tun wollen, müssen sie nicht mit der Kamera draufhalten. Und wenn Obdachlose gern gefilmt werden, müssen sie sich ja keinen solchen Sticker besorgen.

    2. Sind diese NGOs, die bei der Obdachlosenhilfe „keine Konkurrenz“ wollen, weil sie „beim Verteilen der Ressourcen“ „gut verdienen“ gerade mit uns im Raum?
      Aus meiner eigenen Erfahrung in der ehrenamtlichen Gesundheits- bzw. Krankenversorgung Obdachloser in einer Großstadt: Ohne Ehrenamtliche, die dafür keinen Cent erhalten, und ohne Spenden gäbe es häufig gar keine Hilfe.

      Dass bei der Hilfe nicht die eigene Selbstinszenierung oder die mediale Darstellung des Elends Einzelner zum Zwecke der Dramatisierung im Vordergrund stehen sollte, versteht sich eigentlich von selbst. Und es macht eben in der Tat einen Riesenunterschied, ob die Sichtbarmachung des Elends anonymisiert oder mit Einwilligung erfolgt oder nicht!

      Punktuelle „gute Taten“ bringen nachhaltig überhaupt nichts und beschämen im Zweifel die Betroffenen nur, wenn da so paternalisierend vor der Kamera eine einzige Mahlzeit überreicht wird, bevor man wieder für immer verschwindet.

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