Die Welt nach WikiLeaks: Was sagt uns das Whistleblower Projekt über Medien, Internet und Politik?

BeyondWikiLeaks_CoverDies ist ein Gastbeitrag von Dr. Arne Hintz von der School of Journalism, Media and Cultural Studies an der Cardiff University. Er ist einer der Herausgeber des Sammelbandes Beyond WikiLeaks: Implications for the Future of Communications, Journalism and Society (Amazon, 23,99 Euro).

Seit seinen massiven Veröffentlichungen im Jahr 2010 – u.a. den US-amerikanischen Botschaftsdepeschen (Cablegate) – steht WikiLeaks im Rampenlicht der internationalen Debatte um Medien und Politik. Während sich die Öffentlichkeit seitdem vor allem um das Schicksal von Kernfigur und Chefredakteur Julian Assange kümmert, haben weitere Enthüllungen unser Wissen über internationale Konflikte, Spionage, und Sicherheitsapparate erhöht. Große Nachrichtenorganisationen starteten zudem ihre eigenen Whistleblower- Abteilungen und –Postfächer (z.B. Al Jazeera) sowie Datenjournalismusprojekte (z.B. Guardian), und ein journalistisches Netzwerk veröffentlichte erst kürzlich die Ergebnisse einer umfassenden Recherche globaler Finanztransaktionen, basierend auf der Analyse von hunderttausenden Dokumenten. Das WikiLeaks-Modell des Enthüllungsjournalismus durch ‘leaks’ und Datenanalyse spielt somit eine immer wichtigere Rolle in der Medienarbeit, sowie in unserem Verständnis aktueller wie historischer Ereignisse.

Jenseits der spezifischen Auswirkungen von Enthüllungen wie Cablegate oder den aktuelleren WikiLeaks-Projekten wie Spyfiles, Syria Files und PlusD ist es sinnvoll, nach den breiteren und langfristigeren Folgen zu fragen. Welche Konsequenz hat das Wirken der Whistleblower-Organisation für Journalismus, Medienpolitik, Aktivismus und sozialen Wandel? Helfen uns die Ereignisse rund um die WikiLeaks-Veröffentlichungen, Veränderungen in diesen Bereichen zu erkennen? Ein neues Buch spürt diesen Fragen nach und versucht, erste Antworten zu finden. Beyond WikiLeaks: Implications for the Future of Communications, Journalism and Society (Amazon, 23,99 Euro) versammelt fast zwei Dutzend internationale Autoren, einschliesslich renommierten Wissenschaftlern, Medienexperten und WikiLeaks-‘Insidern’, um die Auswirkungen von WikiLeaks zu diskutieren.

Der Journalismus ist zweifellos einer der Bereiche die am deutlichsten betroffen sind. Können die Praktiken von WikiLeaks uns etwas über Transformationen der Medienlandschaft sagen, und welche Rolle neue Akteure, aktivistische Projekte und Kampagnen, und soziale Medien im Medien-Mix spielen? Harvard-Professor Yochai Benkler beschreibt unsere sich verändernde Medienumgebung in seinem Buchkapitel als ‘networked fourth estate’, die vernetzte vierte Gewalt, die nun sowohl die traditionelle Presse als auch Nichtregierungsorganisationen, Alternativmedien, individuelle Blogger und Organisationen wie WikiLeaks umfasst. Dieses neue Netz der Medienbeziehungen und –interaktionen wurde durch Cablegate eindrucksvoll verdeutlicht; allerdings auch die die Bedrohung, die daraus für traditionelle journalistische Rollen und Identitäten entspringt. Die Autoren in „Beyond WikiLeaks“ untersuchen diese und weitere Facetten der sich verändernden journalistischen Arbeit. Die Wissenschaftlerin Lisa Lynch fragt etwa, ob WikiLeaks neue Formen eines globalen Journalismus und einer globalen Öffentlichkeit hervorgebracht hat, da es mit einer grossen Anzahl von Journalisten aus allen Teilen der Welt und einer breiten Vielfalt an Publikationen zusammenarbeitete, und in einigen Fällen langfristige Kooperationen zwischen diesen Partnern schuf.

Doch die Ereignisse rund um WikiLeaks lehren uns auch einiges über aktuelle Trends in der Ökonomie digitaler Medien, Internetregulierung und neue Herausforderungen digitaler Kommunikation. WikiLeaks hat die weitreichenden Restriktionen verdeutlicht, denen Information heutzutage unterliegt – von der breiten Auslegung des Begriffs ‘Staatsgeheimnis’ bis zur strategischen Nutzung von Verleumdungsgesetzen. Die WikiLeaks Webseite wurde blockiert und Firmen wie Amazon und PayPal behinderten (und verhindern weiterhin) den Zugang der Organisation zu finanziellen und technischen Ressourcen. Dies hat um ersten Mal die zentrale Rolle jener Firmen verdeutlicht, die den Zugang zu Cloud-Diensten kontrollieren und essenzielle Internetressourcen zur Verfügung stellen. Es zeigt einen Trend hin zur Privatisierung von Internetregulierung. Autoren wie der kanadische Wissenschaftler Dwayne Winseck und die isländische Parlamentarierin (und frühere WikiLeaks-Aktivistin) Birgitta Jonsdottir diskutieren diese Themen im Buch und eröffnen damit einen Blick auf aktuelle (und zukünftige) Herausforderungen bzgl. der Meinungsfreiheit im Internet.

WikiLeaks verbindet journalistischen, technischen und politischen Aktivismus, und so stellt sich die Frage ob es eine neue Form des Onlineaktivismus hervorgebracht hat, mit neuen Organisierungstypen und Aktionsformen. Die Wissenschaftlerin Stefania Milan beschreibt in diesem Zusammenhang neue Dynamiken von individuellen aber vernetzten Aktionsformen, die sie als ‘Cloud Protesting’ bezeichnet. Ein prominentes Beispiel des vernetzten Onlineaktivismus im WikiLeaks Kontext ist ‘Anonymous’, ein loses und ständig wechselndes Netzwerk, das sogenannte ‘denial of service attacks’ (DDoS) gegen die Gegner von WikiLeaks aufführte, aber auch eigene ‘leaks’ veröffentlichte. Gabriella Coleman, die führende Expertin über Anonymous-Aktivitäten, beschreibt im Buch die Ethik, Organisationsformen und politischen Zielsetzungen jener Gruppen. WikiLeaks selbst ist allerdings weniger durch den anonymen und vernetzten Schwarm gekennzeichnet als durch die zentrale Stellung prominenter Individuen – ein potenziell problematisches Szenario, wie Geert Lovink und Patrice Riemens in ihrem Beitrag feststellen.

Der direkte Effekt von WikiLeaks auf sozialen und politischen Wandel ist schwer zu messen. Allerdings bot der ‘Arabische Frühling’ ein paar Ansatzpunkte. Die Veröffentlichung diplomatischer Depeschen fiel mit den ersten Funken des Protests in der Region zusammen und deckte nicht nur zahlreiche Fälle von Korruption und Machtmissbrauch auf, sondern verdeutlichte auch die politischen Ziele der Regierungen, die oftmals den öffentlich verkündeten Zielen diametral entgegenstanden. Die Autoren des Buches stimmen darin überein, dass die WikiLeaks-Veröffentlichungen den Zorn in der arabischen Welt zumindest verstärkten. Jillian York von der Electronic Frontier Foundation beschreibt, wie sie zudem einen historischen Moment schufen, in dem soziale Bewegungen für Meinungs- und Informationsfreiheit bestärkt, und politische Entwicklungen hin zu Transparenz und Offenheit unterstützt wurden.

Die fundamentaleren Auswirkungen von WikiLeaks sind jedoch zweifellos langfristiger und indirekter. Während uns Cablegate und andere Veröffentlichungen wichtige Informationen über die Welt gebracht haben, liegt ihr wohl bedeutenderer Effekt darin, wie sie Journalismus und die Medienlandschaft verändert haben, wie sie unser Verständnis von Meinungsfreiheit und Zensur im digitalen Zeitalter verbessern und wie sie neue Wege für soziales und politisches Engagement aufzeigen. Dies sind die Dynamiken, denen das Buch Beyond WikiLeaks nachspürt.

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