Was fehlt? Dirk von Gehlen sagt: Ein Heimat- und Brauchtumsverein für das Netz

Braucht das Netz einen Heimat- und Brauchtumsverein? Der Journalist Dirk von Gehlen sagt ja und sucht Mitstreiter, die ebenfalls das Netz als eine Art Heimat sehen und sich mit ihm dafür einsetzen wollen, dass netzkulturelle Praktiken in unserer Gesellschaft endlich den Stellenwert bekommen, den sie verdienen. Wir haben ihn zu diesem Anliegen interviewt.

Heimat ist, wo Netz ist?

Der Journalist Dirk von Gehlen hat die Idee, den größten Heimat- und Brauchtumsverein in Deutschland zu gründen, und zwar explizit einen für das Netz. Dafür sucht er Mitstreiter. Wir haben ihn zu der Idee interviewt.

netzpolitik.org: Was ist die digitale Kultur, die Du zu verteidigen planst?

Dirk von Gehlen: Mir geht es um die aktivste und gegenwärtigste Form der Popkultur: um die Meme- und Mashup-Kultur des Internet. Ich finde, dass diese in keiner Weise die Anerkennung und Förderung erfährt, die sie verdient. Denn wenn man es genauer betrachtet, handelt es sich um eine Form der „digitalen Volkskultur“. Felix Stalder verwendet diesen Begriff in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ und beschreibt sie so: „Sie ist durch massenhafte Partizipation geprägt und ihre Erzeugnisse lassen sich nur schwer vom Kontext ihrer Entstehung lösen. Dazu gehört für mich Open-Source-Software, die man dann am besten nutzen kann, wenn man sich in den Communities auskennt, die sie produzieren, oder die Meme-Kultur, die ja davon lebt, dass sie durch viele Hände geht und dabei immer auch angeeignet und umgewandelt wird.“

netzpolitik.org: Warum braucht das Internet einen Brauchtumsverein? Und wie versteht Du das Wort Brauchtum?

Dirk von Gehlen: Ich kenne sehr viele Menschen, die selbstverständlich den Satz sagen, ihre Heimat sei das Internet. Sie fühlen sich online in der Verbindung mit Freunden, die weltweit verstreut sind, geborgen und zu hause – wie Generationen zuvor es vielleicht in einer dörflichen oder lokalen Gemeinschaft empfunden haben. Die Interessen derjenigen, die die digitale Kultur schätzen und im Internet zu hause sind, werden aber bisher nicht angemessen repräsentiert im gesellschaftlichen Diskurs: in Parlamenten, Gremien und Rundfunkräten sind sie kaum vertreten. Ich finde, das sollte sich ändern. Und zum zweiten bin ich der Meinung, dass man den Heimat- und Brauchtumsbegriff aktualisieren sollte. Es erscheint mir überfällig, dass wir uns von der überkommenden Bindung an Nation lösen und feststellen, dass Heimat auch ein völkerverbindender Ort ist, der Sprach- und Religionsgrenzen überschreitet.

Dirk von Gehlennetzpolitik.org: Du schreibst, man müsse sich gegen „Überwachung und Angriffe auf unsere Datensicherheit“ zur Wehr setzen. Gegen was oder wen sollen wir uns denn konkret verteidigen?

Dirk von Gehlen: Dabei handelt es sich um digitale Heimatpflege. Die Idee, dass das Internet ein völkerverbindendes Netzwerk ist, in dem Linkfreiheit und Netzneutralität herrschen, ist ein tolles Geschenk. Die vergangenen Monaten zeigen, dass wir dies gegen die Einflussnahme von Politikern, Lobbyisten und Konzernen verteidigen müssen. Die Idee des Briefgeheimnisses sollte auch im Netz gelten: Niemand sollte in unsere Kommunikation gucken dürfen. Geheimdienste genauso wenig wie Anbieter von Netzwerken. Auch wenn manche dies als naiv bezeichnen: Ich will mich nicht von dem Gedanken verabschieden, dass wir das auch umsetzen können.

netzpolitik.org: Wie möchtest Du den Verein gegenüber bestehenden Initiativen wie dem Chaos Computer Club oder der Digitalen Gesellschaft abgrenzen?

Dirk von Gehlen: Wenn man es mit der Arbeit eines analogen Heimatvereins vergleicht, wäre das Verhältnis vielleicht so wie dessen Umweltschutz-Engagement im Verhältnis zu Greenpeace ist. Der digitale Heimatverein versteht sich als unterstützende Ergänzung für die genannten sehr tollen Organisationen. Zusätzlich legt er aber einen Schwerpunkt auf den Aspekt des Brauchtums, also auf die Frage der Netzkultur. Meme, Mashups und Remixe stehen für den CCC oder die Digitale Gesellschaft aus nachvollziehbaren Gründen nicht im Vordergrund. Der digitale Heimat- und Brauchtumsverein will sich für diese einsetzen – und zum Beispiel durchsetzen, dass sie Bestandteil des Unterrichts werden.

netzpolitik.org: Das überzeugt mich jetzt noch nicht als Abgrenzung. Themen wie Netzneutralität und digitale Selbstverteidigung werden ja bereits auch von anderen Vereinen und Initiativen erfolgreich gemacht. Der Digitale Gesellschaft e. V. hat die Kampagne Recht auf Remix gestartet. Und gegen ein Leistungsschutzrecht, und damit für Linkfreiheit, sind alle außer den Verlegern. Soll ein Urheberrecht aus Nutzersicht ein zentrales Thema des Brauchtumsvereins werden oder was soll das Einzigartige werden?

Dirk von Gehlen: Das Urheberrecht ist einer der zentralen Rechtsbereiche für die Gestaltung des digitalen Raums. Ich persönlich halte es für den größten Skandal der vergangenen zehn Jahre, dass sich die Politik hier um eine Lösung drückt. Trotzdem gehe ich davon aus, dass das Wort „Urheberrecht“ im Heimatverein nur selten verwendet wird. Der Verein will nur indirekt politisch sein – und das ist der zentrale Unterschied zu allen genannten Akteuren. Im digitalen Heimatverein schließen sich Menschen zusammen, die das Internet und digitale Kultur lieben und fördern wollen. Dafür soll der Verein Lobbyarbeit machen – das ist dann im zweiten Schritt natürlich auch politisch und zahlt hoffentlich auf die Aktionen von CCC oder der Digitalen Gesellschaft ein. Dort ist man (und bin auch ich) Mitglied, weil man Politik machen will. Im Heimatverein wird man Mitglied, weil man die Kultur des Digitalen liebt – und weil man will, dass diese genauso gefördert und anerkannt wird wie andere Kultur- und Brauchtumsformen.

netzpolitik.org: Was sind Deine Ideen und Ziele fürs erste Jahr?

Dirk von Gehlen: Ich glaube, dass dieser Verein nur funktioniert, wenn er mit dem Internet entsteht. Deshalb will ich bis Ende des Jahres eintausend Unterstützer gewinnen. Wenn das gelingt, soll es im ersten Jahr darum gehen, eine Organisationsform aufzubauen, in der die Förderung digitaler Kultur bestmöglich realisiert werden kann. Dazu habe ich noch keine fertige Lösung in der Tasche. Ich hoffe aber darauf, dass wir dafür einen Weg finden – und dann innerhalb eines Jahres zu Deutschlands größtem Heimat- und Brauchtumsverein werden. Das sind meines Wissens nach bisher Faschingsvereine. Und bei aller Sympathie für diese: Es sollte schon das Ziel sein, dem Internet mehr Anerkennung und Förderung zukommen zu lassen als dem Karneval!

netzpolitik.org: Wieviele Unterstützer hast Du denn jetzt schon und was passiert, wenn es keine eintausend Unterstützer in den kommenden drei Wochen werden?

Dirk von Gehlen: Aktuell haben sich vierhundert Menschen als Interessenten eingetragen, was mich wahnsinnig freut und motiviert. Ich glaube, dass es noch viel mehr Menschen gibt, die diese – ich sags jetzt mal bewusst pathetisch – Liebe zur digitalen Kultur verbindet. Die würde ich gerne erreichen und verbinden, denn das ist ja das großartige Geschenk der Vernetzung. Wenn es am Ende des Jahres keine eintausend Leute sind, müssen wir nochmal nachdenken. Im Vergleich zu anderen Heimatvereinen sind allerdings auch vierhundert Interessenten schon eine beachtliche Zahl!

netzpolitik.org: Wie kann man Dich unterstützen?

Dirk von Gehlen: Ich freue mich über jeden, der diese Begeisterung teilt und sich in die Liste der Interessenten einträgt!

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11 Ergänzungen

  1. „Niemand sollte in unsere Kommunikation gucken dürfen. Geheimdienste genauso wenig wie Anbieter von Netzwerken.“

    Das ist eine völlig neue Idee. Was kommt als nächstes? Ablehnung unverlangt zugesanter Werbung, oder gar Blockierung von Werbung?

        1. Unschön, diese Google-Meldung:

          Dirk von Gehlen
          http://www.dirkvongehlen.de/
          Diese Website wurde möglicherweise gehackt.

          30.10.2016 – Bei der Süddeutschen Zeitung leite ich die Abteilung Social Media / Innovation und befasse mich mit der digitalen Transformation von Kultur, …

          google.de/search?q=von+gehlen

      1. Das Internet gehört mehr oder weniger der Werbeindustrie die das Versprechen verkauft, das Werbung volkswirtschaftlich positiv zu werten ist. Ein Beweis steht bislang aus.

        Google ist kein Suchmachinenkonzern, Google ist eine Werbeagentur.
        Facebook ist kein Soziales Netzwerk, Facebook ist eine Werbeagentur.

        Remixes oder Mashups sind Füllmaterial für Youtube, was übrigens wieder eine …

        Ich finde es schön, wenn ich im Internet auf Kultur treffe, ich würde aber mit so einem Verein warten bis wir das Internet durch was anderes ersetzt haben.

        1. Google und Facebook sind in dieser Verwertungskette eher Telefonbuch-Verleger, die Anzeigen produzieren immer noch Agenturen / Werbeabteilungen.

          Und das Internet wird nach all den Investitionen keiner mehr einstampfen, es wird eher zur Transportschicht für irgendwie geartete Teilnetze werden.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.