Berliner Manifest: Öffentliche Dienste 2.0

Gestern und heute fand in Berlin die ver.di-Konferenz „Öffentliche Dienste 2.0“ statt. Ich war u.a. als Teilnehmer eines Panels aktiv vor Ort. (Ich blog später nochmal mehr dazu.) Als eines der Ergebnisse der Konferenz gibt es das „Berliner Manifest: Öffentliche Dienste 2.0 – Die Daseinsvorsorge in der Informationsgesellschaft stärken!“, wo ich im Vorfeld etwas Input gegeben habe und jetzt in einer Liste von ErstunterzeichnerInnen auftauche.

1. Grundversorgung und offener Zugang!
Offener Zugang zum Internet gehört heute zu den unverzichtbaren Voraussetzungen einer Informationsgesellschaft. Nicht am Internet teilhaben zu können, bedeutet den Ausschluss aus weiten Teilen des gesellschaftlichen und familiären Lebens, Ausschluss von Bildungs- und Informationsmöglichkeiten, von demokratischer Teilhabe – privat, wie beruflich.

Jeder Bürger – ob in Stadt oder Land, ob arm oder reich, ob behindert oder nicht – benötigt Zugang zum Internet mit ausreichender Bandbreite. Um die „digitale Spaltung“ von Arbeitswelt und Gesellschaft zu verhindern, gilt es:
Die Grundversorgung neu zu definieren, Zugang für alle Menschen auch dadurch zu garantieren, dass Dienstleistungen von „Mensch zu Mensch“ erhalten bleiben und in der Arbeitswelt alle Beschäftigten (z.B. auch ArbeiterInnen) Zugang zu Intra- und Internet bekommen.

2. Wissen teilen, Wissen mehren!
Bildung und Zugang zu Wissen sind Grundrechte von zunehmender Bedeutung. Neue Technologien haben Zugang und Austausch von Informationen und Wissen grundlegend erleichtert. Diese Chancen sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Teilhabe sowie kooperativen Arbeitens wollen wir erhalten, nutzen und fortentwickeln.

Eine kalkulierte Verknappung der Informationsvielfalt, die Einführung technischer Barrieren und die schrittweise Privatisierung von öffentlichen Wissensbeständen ist ein Vergehen an der Allgemeinheit. Demokratische Teilhabe am öffentlichen Geschehen ist auf offenen Zugang zu Wissensbeständen angewiesen.

Gesetze müssen so gefasst sein, dass sie die Teilhabe an Wissen und Kultur nicht behindern, sondern fördern. Gemeinschaftsgüter müssen durch offene Nutzungslizenzen, wie Creative Commons und General Public License, vor privater Vereinnahmung geschützt werden.

3. Keine Privatisierung öffentlicher Güter im virtuellen Raum!
Öffentliche Archive, Bibliotheken, Museen und andere Kulturstätten gehören der Allgemeinheit – deren Bestände und Schätze auch in digitalisierter Form. Ihre Veräußerung oder Abtretung an private Einrichtungen muss unterbleiben.

Was mit öffentlichen Geldern oder Zuschüssen finanziert wurde, muss für die Öffentlichkeit frei zugänglich sein und sollte entsprechend der neuen technischen Möglichkeiten auch digital öffentlich und weitgehend kostenfrei nutzbar gemacht werden.

4. Selbstverwaltung und öffentliche Steuerungsfähigkeit stärken!
Die öffentliche Daseinsvorsorge hat in vielen europäischen Ländern eine lange Tradition, die gesellschaftliche Errungenschaften wie soziale Kohärenz und Chancengleichheit fördert. Bei der Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie darf die öffentliche Selbstverwaltung und demokratische Steuerungsfähigkeit öffentlicher Körperschaften nicht ausgehöhlt werden.

Die Öffentliche Hand muss auch in der Informationsgesellschaft weiterhin die Grundversorgung mit öffentlichen Leistungen gewährleisten können. Durch Auslagerungen, Privatisierungen und sogenannten öffentlich-privaten Partnerschaften (PPP) werden Selbstverwaltung und Steuerungsfähigkeit wegen vorgeblicher „Effizienzsteigerungen“ oder „Kostenreduktionen“ oft genug an private Unternehmen abgetreten – mit oftmals nicht zu vertretenden Folgen für die breite Öffentlichkeit.

Die öffentliche Hand muss im IT-Bereich in der Lage sein, zu beurteilen, was sie einkauft, Kosten realistisch einzuschätzen, um Investitionsruinen zu vermeiden und, wo erforderlich, Leistungen selbst zu erbringen. Dazu benötigt sie ausreichendes und gut qualifiziertes (IT-) Personal. Mangelnde technische Kompetenz im eigenen Hause würde einen unüberschaubar hohen Grad der Abhängigkeit von privaten Unternehmen erzeugen. Das wäre ein Steuerungs- und somit ein Demokratieproblem.

5. Verlässliche demokratische Verfahren und Standards!
Verfahrenstransparenz und Vertrauenswürdigkeit von Informationsquellen sind zentraler Bestandteil des eGovernment. Wir müssen vermeiden, dass öffentliche Verwaltungsprozesse im Zuge ihrer Elektronifizierung intransparent und unkontrollierbar werden. Das gilt sowohl für technische als auch organisatorische Aspekte.

Drei zentrale Bereiche:
1. BürgerInnen müssen sicher sein können, dass Wahlen korrekt verlaufen. Durch den Einsatz von Wahlcomputern, würde der Bürger derzeit gezwungen, die Kontrolle über das Verfahren abzugeben und könnte nur hoffen, dass der Computer die Daten, entsprechend seines Wahlentscheids, weiterleitet.

2. Die städtische Domain ist das virtuelle Tor zur Stadt. Sie zu verkaufen oder mehrheitlich an private Betreiber abzutreten, löscht öffentlichen Raum im Internet. Die Vermarktung der Site darf nicht wichtiger werden, als die Bereitstellung öffentlicher Informationen und Angebote; die städtische Präsenz im Netz nicht auf eine Nische in einem Medienmischkonzern reduziert werden. Bei Privaten Anbietern wäre unternehmenspolitisch motivierte Information von offizieller, gemeinwohlorientierter Information nur schwer zu unterscheiden.

3. Ob Call Center oder elektronische Bürgerplattform – wenn sich der Bürger an seine öffentlichen Einrichtungen wendet, sei es telefonisch oder per eMail, muss er wissen, dass er tatsächlich öffentlich Bedienstete kontaktiert.

Für die Verlässlichkeit demokratischer Standards und Strukturen muss das öffentliche Angebot vom privaten klar unterscheidbar, Transparenz und Vertrauenswürdigkeit der Quelle bei öffentlichen Angeboten gewährleistet sein.

6. eGovernment mit offenen Standards!
Der Austausch mit der Verwaltung muss technisch so gestaltet werden, dass Bürgerinnen und Bürger ihre private Computer-Ausstattung nicht den Vorgaben bestimmter (proprietärer) Computer- oder Software-Produkte unterwerfen müssen, um an den öffentlichen Angeboten teilnehmen zu können.

eGovernment benötigt Netzneutralität sowie offene Standards, beispielsweise bei Dokumentformaten, Signaturen, Softwareanwendungen. Nur sie ermöglichen problemlosen technischen Austausch und die Konkurrenz kommerzieller Ausstatter.

Die digitalen Infrastrukturen des Staates dürfen nicht in Abhängigkeit von Herstellern geraten. E-Government-Anwendungen müssen auf einer transparenten, verlässlichen und demokratisch kontrollierten technischen Infrastruktur aufgebaut werden und dürfen nicht zu Einschränkungen der öffentlichen Selbstverwaltung führen.

7. Kritische Infrastrukturen sichern!
Ob Kernkraftwerke, Krankenhäuser oder Hartz IV-Vergabestellen – die Nutzung von IKT darf weder selbst zur Gefährdung dieser Einrichtungen (durch Online-Manipulation) führen noch dürfen Einrichtungen, die der Grundversorgung dienen, derart von IKT abhängig sein, dass sie, bspw. durch einen anhaltenden Stromausfall, nicht mehr funktionsfähig wären.

Technische Krisen (bspw. Computerausfall zum Zeitpunkt der Hartz IV-Auszahlung) haben bereits in einigen Gemeinden dazu geführt, „manuelle Back-Up-Systeme“ bereitzustellen. Es ist wichtig, auch im sozialen Bereich, sogenannte „kritische Infrastrukturen“ zu identifizieren und gegebenenfalls Alternativen zu digitalen Arbeitsprozessen anzubieten.

8. Daten- und Persönlichkeitsschutz verwirklichen!
Jegliche Form des Datenmissbrauchs muss gesetzlich (im öffentlichen und privaten Bereich) und durch entsprechende technisch-organisatorische Vorkehrungen unterbunden werden, so die Weitergabe und Verknüpfung von personenbezogenen Daten zu Marketingzwecken, zur Erstellung von Personenprofilen etc. Die elektronische Überwachung von Arbeitnehmer-Innen muss geahndet, das Arbeitnehmerdatenschutzgesetz endlich eingeführt werden.

Bei jeder personenbeziehbaren Datensammlung und –speicherung ist das Prinzip der Datensparsamkeit zu beachten; in manchen Fällen muss gänzlich auf elektronische Datenerfassung verzichtet werden. Datenvorratsspeicherung und Online-Durchsuchungen müssen unterbleiben, bereits angelegte Vorratsdatenspeicher reduziert, der Schutz der Privatsphäre (privat und beruflich) gewahrt werden. BürgerInnen müssen die letzte Entscheidungshoheit über die Verwendung ihrer persönlichen Daten behalten. Das „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“ (BVerfG) ist in der Informationsgesellschaft unverzichtbar.

9. eDemokratie für ArbeitnehmerInnen, Mitbestimmung stärken!
eDemokratie muss auch für die Erbringer der Öffentlichen Dienste gelten: Eine demokratische Gesellschaft braucht Mitbestimmung und Koalitionsfreiheit. Die entsprechenden Gesetze (wie BetrVG, BPersVG, LPersVGs) müssen gestärkt und dem Informationszeitalter angepasst, aktuelle Verschlechterungen zurückgenommen werden.

Die Koalitionsfreiheit und das Recht, sich betrieblich gewerkschaftlich zu betätigen, muss auch in einer elektronisch vernetzten Welt mit veränderter Arbeitsorganisation gewährleistet sein. Wenn das „schwarze Brett“ verstaubt und die Arbeit zunehmend dezentral erbracht wird, bedarf es des Zugangs von Beschäftigten, Personal- und Betriebsräten sowie von Gewerkschaften zum Intranet und E-Mail-System der Verwaltungen und Betriebe. Alle Beschäftigten benötigen einen freien und unzensierten Zugang zum Intra- und Internet.

10. Öffentliche Daseinsvorsorge nicht IT-Lobbyisten überlassen!
Öffentliche IKT-Infrastrukturplanung und die Gestaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen für Arbeitswelt und Gesellschaft dürfen nicht in die Hand von IT-Lobbyisten gelegt werden. Es müssen (wieder) Strukturen aufgebaut werden, die nicht am privaten Gewinn, sondern am Gemeinwohl orientiert sind. Dazu benötigen wir engagierte medienkompetente Politiker und BürgerInnen. Unsere Gesellschaft sozial zu gestalten, heißt auch, die Daseinsvorsorge in der Informationsgesellschaft zu stärken!

Mit diesem Manifest anlässlich der ver.di-Konferenz „Öffentliche Dienste 2.0“ wollen wir die politische Debatte anregen. Wir freuen uns über Ihre/Deine Kommentare und Anregungen auf www.governet.de/7/, wo wir dieses Manifest zur öffentlichen Diskussion stellen.

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