„Dating ist wie ChatGPT“, sagt die Kollegin in der Mittagspause. Denn die ersten Gespräche sind so generisch, als würden sich Maschinen miteinander unterhalten. Eine Freundin feiert im Gespräch stolz die erfolgreiche Knüpfung einer neuen App-Verbindung: „Weißt du, wie viel Arbeit das war?“
Das Werk des sogenannten „Aufmerksamkeitskapitalismus“ scheint vollendet zu sein: Die digitale Suche nach Liebe ist zur Arbeit geworden. Dating-Apps gehören zu den besonders raffiniert gestalteten Instrumenten eines Systems, das die Bedürfnisse und Wünsche seiner Subjekte jederzeit zu verwerten weiß.
Eine „Beschäftigung“ im eigentlichen Sinne
Fest steht, dass wir bei beinahe jeglicher Interaktion mit Dating-Apps auf unseren Smartphones im Stillen zusätzliche Arbeit verrichten. Beweise für die erfolgreiche Kommodifizierung, also des „Zur-Ware-Machens“ der Liebessuche, liefert die Etablierung von „Dating“ als eigenem Begriff und Beschäftigung – im Sinne eines kommerzialisierten Suchprozesses.
Wenn der US-amerikanische Journalist Chris Hayes in seinem neuen Buch „The Siren’s Call“ schreibt, dass der Aufmerksamkeitskapitalismus die Psyche der Konsumenten genauso zerrüttet wie der industrielle Kapitalismus den Körper der Arbeiter, gebe ich ihm dennoch nur teilweise Recht.
Hayes beschreibt darin das Geschäftsmodell von Plattformen, die Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Nutzer selbst zu Währung und Ware machen. Auch Dating-Apps profitieren von den Interaktionen und der Verweildauer ihrer Nutzer. Mit jeder Aktion erhöhen die Nutzer auch den kommerziellen Wert der Plattform, die Liebe vermitteln soll. Sie arbeiten also doppelt: Emotional für sich, ökonomisch für andere.
Die Folgen der Plackerei gehen jedoch über die Psyche hinaus: Denn gerade bei der Nutzung vermeintlich kostenloser Online-Dienste wie Dating-Apps werden Geist und Körper gleichermaßen verschlissen. Der hohe Preis für die Anwendung ist für die Liebessuchenden nicht sofort zu spüren, sein Gewicht zeigt sich eher als diffuses Gefühl des Unwohlseins und der Degradierung.
Aufrecht nur im Abbild
Für den ersehnten Erfolg muss ich mich als Nutzer in der Regel erst kleinmachen, um meine Persönlichkeit in den auf wenige Angaben beschränkten Schaukasten des Liebesmarktes zu reduzieren. Dem gekrümmten Finger folgt ein gebeugtes Gewissen, um etwa die zahlreichen Suchparameter zu justieren, beispielsweise den Schieberegler für die gewünschte Altersspanne, oder die Frage, welche Folgen die Angabe meiner Körpergröße nach sich ziehen.
Hinter vielen der aufrechten und polierten Abbilder im Netz steht also ein Mensch, der sich zuvor der Architektur der Plattform beugen musste. Und vor der sehnlichst erwarteten Liebes-Erfahrung stehen viele kleine und wenig nachhaltige Dopamin-Kicks in Form von Matches, oft abgeschlossen bei einer stillen Sitzung auf der Toilette oder während einer ruhelosen Pause von der eigentlichen Arbeit.
Fehlende Widmung und Geduld
Die Architektur der Plattformen begünstigt die ortsungebundene Nutzung ohne Widmung oder Geduld. Sie machen die Liebessuche flüchtig, sodass sie heute gleichzeitig überall und doch nirgendwo stattfindet. Auf dem Bildschirm streichen die inszenierten Bilder vorbei, wir sehen dort mehr und weniger grandioses Schauspiel. Der liebessuchende oder auch sich selbst liebende Mensch sitzt gekrümmt auf seinem Stuhl, im dunklen Zimmer, das regungslose Gesicht vom Displayschein beleuchtet.
So reicht es oft, sich des eigenen Bildes bewusst zu werden, ohne dass man die Kassenschlager der Kulturkritiker Eva Illouz („Der Konsum der Romantik“) oder Byung-Chul Han („Die Agonie des Eros“) noch lesen muss, um zu verstehen, dass man eigentlich hart arbeitet – und zwar nicht für sich und das eigene Wohlbefinden.
In diesem Bilderstrudel der großen und vielleicht nie einzulösenden Versprechen die Haltung zu bewahren und sich dem Arbeitscharakter des mechanisierten Online-Datings entgegenzustellen, erfordert Kraft, für die viele die Ressourcen gar nicht mehr aufbringen können.
Wo einer arbeitet, verdient der andere
Immer wieder finden auch die optimistischen Stimmen Gehör: „Also ich habe Spaß bei der Nutzung“, oder „Nimm es doch einfach locker“. Für die Einsamen unter uns stellt sich die Frage: „Soll ich es vielleicht doch mal wieder probieren?“
Denn bei der überwältigenden Verschiebung der Liebessuche ins Digitale schwinden analoge Kontaktmöglichkeiten. Die Nutzung der Plattformen entspringt einem zutiefst menschlichen Impuls. Dabei bleibt die digitale Liebessuche ein Geschäftsmodell. Nur gilt auch hier das unerbittliche Gesetz des Marktes: Wo die Plattform gut verdient, muss der Nutzer draufzahlen.
Alleine Tinder wurde weltweit über 100 Millionen Mal im Google Play Store heruntergeladen. Selbstverständlich finden auch viele Menschen ihr Glück online und verlassen die Dating-Apps wieder. Der Anbieter Hinge wirbt sogar mit dem Spruch „entwickelt, um gelöscht zu werden“. Das mag für einige Nutzer zutreffen, nicht jedoch für diejenigen, die sich in dem von der App geschaffenen Anreizsystem verlieren. Es gaukelt ihnen einen unendlichen Pool neuer Verbindungen vor, für die man vermeintlich nur mehr swipen oder gar Premiumfeatures kaufen müsse.
Übrigens wollen auch Tabakhersteller nicht, dass ihnen die Raucher zu früh wegsterben – ein schädliches und hochgradig süchtig-machendes Produkt bieten sie ihnen trotzdem an. Wobei meine Zigarette den großen Vorteil hat, mich nicht beim Rauchen zu analysieren.
Der Wolf im Schafspelz
Als Teil einer Verwertungsmaschine sitzen Nutzer also vor Handy-Bildschirmen und schuften, angelockt von einer eigentlich schönen Hoffnung auf Nähe – dass es nur bei einer Hoffnung bleibt, liegt im Interesse der Liebesvermittler, milliardenschweren Unternehmen wie der Match Group, die hinter Tinder, Hinge, OkCupid und Co stehen und einen beträchtlichem Teil des Onlinedating-Markts beherrschen. Sie profitieren massiv am traurigen Kreislauf von Einsamkeit, Frust und uferloser App-Nutzung.
Dass Logan Ury, „Direktorin der Beziehungsforschung“ von Hinge, noch zusätzlich Bestseller-Bücher mit Titeln wie „How to Not Die Alone“ („Wie man nicht alleine stirbt“) schreibt, könnte man fast für eine gut getarnte Marketingmaßnahme halten – wenn sie nicht so zynisch wäre.
„Sei ruhig Fließbandbaby, arbeiten!“, sang die Krautrock-Band Floh de Cologne in den 70ern. Heute ist die digitale Suche nach der Liebe selbst zur Fließbandarbeit geworden. Die Fesseln der Fabrik sowie der genormten Liebesrituale haben nur ihr Erscheinungsbild gewechselt.
Falls der Autor dieses Artikels auf einer der geläufigen Plattformen gesehen wird,
a) handelt es sich um eine Verwechslung,
b) oder wünscht er ausdrücklich, nicht auf diesen Text angesprochen zu werden.
Danke für diesen Beitrag
Ich finde das gerade Männer wieder den Mut finden sollten Frauen auf respektvolle Weise direkt anzusprechen. Also ganz normal auf der Party, Bar oder im Cafe/Stadtpark zu plaudern und dann zu sehen wohin das dann führt. Also ungezwungen und unaufdringlich.
Haben die Generationen vor dem Internet ja auch so gemacht. Schon allein weil es gar keine andere Möglichkeit gab als so. Heute haben wie dank Online Dating, was für die meisten eben nicht sonderlich erfolgreich verläuft zunehmende Einsamkeit, Leute die daran depressiv werden und dann noch so bizarre Phänomene wie die Incel Kultur.
Gerade im Online Dating zeigt sich, wie sozial zersetzend der Digitale Kapitalismus geworden ist. Er trennt die Menschen mehr statt Sie zu verbinden. Vielleicht wird es da Zeit sich endlich wieder auf die klassischen Methoden des Kennenlernens zurück zu besinnen. Um wieder mehr Autonomie zu erlangen statt die Überwachungskapitalisten und ihre KIs darüber entscheiden zu lassen welche Menschen wir NICHT kennenlernen werden.
Den „Mut … finden, Frauen … direkt anzusprechen“…
Das mag ja für viele in Ordnung sein, aber es ist nicht jeder der Typ dafür. Dazu zähle ich mich. Party? Das war bei mir (a) selten und (b) hauptsächlich mit dem eigenen Geschlecht besetzt. Keine Vorbilder, sondern einsame Solisten. Bar? Danke, nein, ist nicht mein Ding. Und sonst? Ungezwungen und unaufdringlich? Aus meiner unmaßgeblichen Sicht stellt sich die Frage: Wie funktioniert das denn? Meine Rollenvorbilder – meine Eltern – waren beide Alkoholiker, die sich gegenseitig in die Sucht getrieben haben und so etwas wollte ich auf gar keinen Fall nachmachen. Psychologen unter den Lesern mögen hier gerne meine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren.
Ich war auf einer kleinen Plattform. Meine Online-Datingerfahrung stammt aus den Jahren 2005/2006. Vor Überwachungskapitalismus, KI, Handy und glitzer-quietschbunter App, stattsdessen eine nüchterne Webseite. Mich hat es verbunden statt getrennt. Ich bin immer noch glücklich mit meinem Online-Date verheiratet. Es war tatsächlich viel Arbeit und ca. 250€, aber nicht nur das, sondern auch Selbstüberwindung und -reflexion. Ich habe darin keinen „unendlichen Markt“ gesehen, wo auf der nächsten Seite etwas besseres daher kommt, sondern als Erniedrigung der Einstiegsschwelle. Ich habe meinen Allerwertesten hoch bekommen, Enttäuschungen eingesammelt und irgendwann die Richtige gefunden, getroffen und dann große Teile dessen nachgeholt, was ich vorher nicht mitbekommen habe. Das ist sicher nicht jedermanns Sache und auf gar keinen Fall als Vorbild zu sehen, zumal ich hier sicher zu den „Glücklichen“ gehöre, die auf diese Art Ihrem Leben einen entsprechenden Ruck gegeben haben.
Das das früher auch nicht anders funktioniert hat stimmt. Wenn es allerdings nur so funktioniert hätte wie früher, dann wäre ich vermutlich heute noch ungebunden.
>>“Wobei meine Zigarette den großen Vorteil hat, mich nicht beim Rauchen zu analysieren.“
Die Zukunft des Jugendschutzes sagt hier was anderes.
Die Produkte müssen erst aktiviert werden, dafür werden (Fingerabdruck, Gesichtserkennung, PIN Abfrage, APP, KI Altersverifikation, Versichertenkarte, Eintrag in die ePA, RFID Chip in Zeige- und Mittelfinger beider Händen, abgeschlossene Versicherung bei einem Beerdigungsinstitut, Risikobewertung durch Palantir …) vorausgesetzt.
Und nicht vergessen: Für jeden Raucher ah’m hust CO2 Produzent, muss ein Baum gepflanzt werden. Dafür müssen Raucher auch CO2 und Feinstaubsteuer zukünftig bezahlen. Hierkönnte der TÜV für 80€ + MwSt Jahresgebühr eine RFID Plakette für Wasserpfeifen aushändigen.
„diese Ergänzung könnte Spuren von Ironie und oder Sarkasmus enthalten“
Wie habt ihr eure Partner*inn(en)
kennengelernt?
Netzpolitik.org forum?
M25 aus Münster, suche F<=28
;)
Ach, gibt es sowas?
M, 37 suche 28 < F < 37
Mein Charakter: Opensource-Terrorist.
Ich habe meine derzeitige Partnerin auch online gefunden. Allerdings bei einer weniger bekannten Plattform, die wahrscheinlich zu wenig auf Suchtverhalten und Werbung gesetzt hat und deshalb heute nicht mehr existiert. Verdammtes System.
Physisch hatte es zuvor aber auch geklappt. Das häufig an cis-Männer-Stammtischen zu hörende Gerede von „Männer dürfen es heute ja gar nicht mehr versuchen“ ist Schrott. Wer sich respektvoll und der Situation angemessen verhält und es checkt wenn ein „kein Interesse“ Signal kommt, wird auch heute nichts falsch machen können. Und Frauen sollten endlich von dem fiesen Vorurteil befreit werden, schlampig und nichts wert zu sein, wenn sie selber es wagen, aktiv zu baggern. Auf ihnen lastet noch mehr Negatives als auf Männern, die einen Korb gekriegt haben.