Als gemeiner Bauer muss der Gang auf den mittelalterlichen Marktplatz recht übel gewesen sein. An jeder Ecke lauerten Gauner und Trickbetrüger, gottlose Geistliche oder am Ende gar die Pest. Am Galgen hing der liebe Freund, auf dem Scheiterhaufen verbrannte die nette Nachbarin.
Manchmal, wenn ich mich wieder einmal durch meinen Feed suchtquäle, fühle ich mich in diese Jahrhunderte zurückversetzt: Denn magisches Denken, Alchemie und allerlei Irrglauben sind auch dort auf der Tagesordnung.
„Goldmacher“ der Gegenwart
Das Wunder unserer zeitgenössischen Alchemisten heißt Meme-Coin. Es sind Kryptowährungen ohne realen Gegenwert, deren Ursprung und Markenidentität stark von Netz- und Popkultur geprägt sind. Anders als herkömmliche Coins verfolgen sie meist kein technologisches Innovationsziel. Die Fußballer Lionel Messi oder Lukas Podolski werben fleißig für die Spaßwährungen.
Stars wie Caitlyn Jenner, Jason Derulo und Soulja Boy brachten bereits eigene Meme-Coins auf den Markt. Nach einem anfänglichen Hoch sanken die Marktwerte der Coins drastisch. Die drei Prominenten stehen im Verdacht, mithilfe der sogenannten „Pump-and-Dump“-Strategie ihren Fans das Geld aus der Tasche gezogen zu haben – das bedeutet, den Kurs durch gezielte Eigenkäufe und Hype künstlich in die Höhe zu treiben, um dann heimlich mit Gewinn auszusteigen, während die Fans auf wertlosen Coins sitzen bleiben.
Auch US-Präsident Donald Trump veröffentlichte kürzlich seinen eigenen Meme-Coin. Für wichtige Investoren veranstaltete er ein pompöses Dinner. Crypto-Mogul Justin Sun erhielt dabei von Trump persönlich eine Uhr im Wert von über 100.000 Dollar. So machen die Menschen, die Wählern und Fans als Vorbilder dienen sollten, zwielichtige Geschäftspraktiken salonfähig.
Zwischen Narren und Nihilismus
Derweil überschwemmen die Hofnarren der Herrscher das Netz mit schlechten Witzen. Vor rund sieben Jahren ging ein Interview mit der damals noch unbekannten Dasha Nekrasova auf einer Demonstration viral. Eine Reporterin der rechtsextremen Verschwörungs-Plattform InfoWars interviewte Nekrasova zu ihrer Meinung über Sozialismus. Nekrasova in japanischer Matrosen-Schuluniform tippte gelangweilt ins Smartphone, schlürfte Kaffee und antwortete mit arrogantem Gleichmut auf die banalen Fragen.
Das Video brachte Nekrasova den Internetspitznamen „Sailor Socialism“ ein und trug maßgeblich zur Bekanntheit des Podcasts bei, den sie kurz vorher gegründet hatte. Sieben Jahre später hat sich der Wind gedreht. Während die ehemalige InfoWars-Journalistin namens Ashton Blaise heute als bisexuell geoutete Onlyfans-Influencerin ihr Twitter-Profil mit einer Regenbogenfahne schmückt, hat Nekrasova Alex Jones, den Gründer von InfoWars, in ihren Podcast eingeladen.
Zwischendurch ging es noch gemeinsam mit Jones auf den Schießstand in Texas. Dem Zuschauer dieser amerikanischen Medien-Folklore bleibt kaum etwas anderes übrig, als an Magie zu glauben.
Moderner Mystizismus
Ohnehin ist das magische Denken in die Feeds zurückgekehrt. Vielleicht ist es auch nie so ganz verschwunden: Wenige Kraftübungen sollen die gewünschte Figur formen, einige Klicks für schnellen Reichtum sorgen. Viral gehen können alle immerzu und Geld lässt sich manifestieren – man müsse nur fest daran glauben und den jeweiligen Coaches oder einem besonders findigen Creator gut genug zuhören.
Die modernen Unternehmer haben vom römisch-katholischen Geschäftsmodell der Ablassbriefe gelernt: Ob Himmel oder American Dream – wer nur fest daran glaubt, dem gelingt schließlich der Aufstieg. Mit der Hoffnung auf Erlösung und Angst vor dem Abstieg in die (finanzielle) Hölle lässt sich gutes Geld verdienen.
Abschalten oder wehren?
Dabei hat die ganze Unvernunft der Bilderhöllen – oder des Bilderhimmels, je nach Stimmung – sicherlich auch etwas Faszinierendes, würden da nicht im Minutentakt neue Hiobsbotschaften von Trump und Konsorten, Meldungen über falsche Nazis, echte Nazis oder alte Nazis hereinprasseln. Findige politische Akteure und Geschäftemacher wissen die Dynamik der neuen Medien und die Bildersucht der Gesellschaft für sich zu nutzen. Sie arbeiten im Takt eines Internets, dessen Geschwindigkeit unaufhörlich zunimmt.
Reale Skandale wie der Fall um den Immobilien-Millionär und verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein muten tatsächlich wie mittelalterliche Gräuel an. Sie erscheinen in Medien, denen viele längst nicht mehr trauen, und stehen neben Inhalten, die irgendwo zwischen dreister Lüge und diffuser Halbwahrheit schweben. Dann fühlt sich das Netz doch wieder wie das Innenleben eines Gemäldes des Renaissance-Malers Hieronymus Bosch an.
Auf die Bilder- und Informationsflut folgt eine Abstumpfung in Denken und Ausdruck. Dieser Flut dauerhaft ausgesetzt zu sein, macht irgendwann zuerst bitter und dann im schlimmsten Fall teilnahmslos. Eine soziale Schönheit, die sich im analogen Umgang mit Menschen ergibt, ist online zunehmend schwer herzustellen. Die Lösung für dieses Problem findet sich nicht bei den Plattformen. Es bleibt den Nutzern überlassen, entweder ganz abzuschalten, oder sich mit viel Kraft den neuen magischen Zeiten entgegenzustemmen.
„Es bleibt den Nutzern überlassen, entweder ganz abzuschalten, oder sich mit viel Kraft den neuen magischen Zeiten entgegenzustemmen.“
Oder man verzichtet auf algorithmisch erzeugte Feeds und nutzt Plattformen, die das ermöglichen.
Da gibt es noch viele Absätze, die mit Währenddessen eingeleitet werden können, aber den Artikel sprengen.
Währenddessen wird Bürgern den Zugang zur Bildung oder dem Weltgeschehen mit Pay-or-Okay verwehrt.
Währenddessen Enshittification hier.
Währenddessen Chatkontrolle da.
Soziale Medien kann man garnicht ertragen, ohne den Stecker zu ziehen. Die digitale, soziale Teilhabe gibt es nur mit dem Verkauf seiner Seele und es scheinet vielen Menschen auf der Welt auch noch Spaß zu machen. Eskapismus scheint eine Lösung zu sein, entweder offline in ein Videospiel oder analog mit dicken Büchern.
Zitat Vincent: „Das Versprechen einer besseren Welt durch soziale Medien steht auf der Kippe.“
Wer auf solcherlei Versprechen gehofft hat, dürfte allzu naiv gewesen sein. Wer das immer noch tut, ist wahrlich nicht mehr zu retten. Der Kipppunkt zum Toxischen liegt schon mehr als eine Dekade lang in der Vergangenheit. Wie ignorant muss man sein, um das nicht längst bemerkt zu haben. Selbst auf den immer noch nützlichen Wikipedias toben Vandalismus und ein Kampf um die Deutungshoheit in diversen Kulturkämpfen. Das alles frisst in vielen Bereichen Zeit und Energie für digitale Abwehrmaßnahmen.
Ob digitales Sammeln und Jagen, digitales Korbflechten oder digitale Seßhaftigkeit im ewigen Krieg mit digitalem“wildlife“, nicht nur zum Schutz digitaler Zuchttiere und
die permante Furcht vor digitalen Wetterkatastrophen,
der digitale Blick in den digitalisierten Himmel dazu führte, dass die digitalen Geister im Wald übermächtig wurden – wissen wir nicht.
Die Emanzipation des Menschen von sich selbst scheint jedenfalls so weit fortgeschritten, dass
nichts begehrlicher erscheint als den Nervenkitzel der ersten Menschen beim Angeln in oder
Überqueren von reißenden Flüssen digital neu zu erleben.
ja so ist, Zeitfresser einfach abschalten. Schon vor Jahrzehnten war die Frage, Fernsehen oder ein gutes Buch.