Trotz Lobby-KampagneEU-Parlament macht großen Schritt für Arbeitsrechte

Das EU-Parlament hat heute seine Verhandlungsposition zur Plattformrichtlinie der EU beschlossen. Gewerkschaften begrüßen die Entscheidung, die Industrie warnt vor Rechtsunsicherheit. Die Richtlinie wird schon von Anfang an von aggressiver Lobbyarbeit begleitet – und ist noch lange nicht in trockenen Tüchern.

Elisabetta Gualmini spricht im EU-Parlament.
Die Parlamentarierin Gualmini berichtete von heftiger Lobbyarbeit. – Alle Rechte vorbehalten Imago / Future Image; Bearbeitung: netzpolitik.org

28 Millionen Menschen in der Union arbeiten nach EU-Schätzungen für Plattformunternehmen, bis 2025 könnte diese Zahl sogar auf 43 Millionen ansteigen. Sie putzen für Helpling oder fahren Taxi für Uber – teilweise für sehr wenig Einkommen und ohne Krankenversicherung oder Altersvorsorge, weil die Unternehmen sie nicht als ihre Angestellten behandeln. Diese oftmals prekären Arbeitsverhältnisse soll die Plattformrichtlinie der EU angehen. Heute hat das EU-Parlament einen wichtigen Schritt in Richtung verstärkter Arbeitsrechte für Beschäftigte bei Plattformunternehmen gemacht.

Bereits am 12. Dezember hatte sich der federführende Ausschuss für Beschäftigung und Soziales (EMPL) nach monatelangen, zähen Verhandlungen auf eine gemeinsame Position zum Gesetzesvorschlag der Kommission geeinigt. Heute verabschiedete das Parlament im Plenum die Position: Damit ist diese die offizielle Verhandlungsgrundlage für den kommenden Trilog mit Kommission und Ministerrat.

Ludovic Voet von der Gewerkschaftsorganisation ETUC sagte, die heutige Abstimmung sei „ein wichtiger Schritt zur Wiederherstellung der Sicherheit am Arbeitsplatz, zur Gewährleistung von Fairness in der Wirtschaft und zum Schutz des europäischen Sozialmodells.“ Plattformunternehmen hätten bereits zu lange Lücken im Gesetz ausgenutzt, um „ihre grundlegendsten Verpflichtungen gegenüber ihren Arbeitnehmern und der Gesellschaft“ zu umgehen. ETUC hatte schon im Vorfeld eindringlich an das EU-Parlament appelliert, die Ausschussposition zu übernehmen. Laut der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) sei die heute verabschiedete Position die bisher beste Bemühung der EU, „die falsche Einstufung von Arbeitsplätzen … einzudämmen und weltweit führende Schutzmaßnahmen gegen das Missbrauchspotenzial der Arbeitsplatzautomatisierung zu entwickeln“.

Es war keineswegs klar, dass das Parlament sich auf diese Verhandlungsposition einigen würde. Die Mitglieder im EMPL-Ausschuss gelten gemeinhin als arbeitsrechtsfreundlicher als der Rest des Parlaments. Bis zuletzt hatten daher Gewerkschaften gezittert, ob etwa Konservative oder Liberale im Parlament den Kompromiss mittragen würden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil offenbar Plattformgiganten wie Uber eine aggressive Kampagne in Brüssel fuhren. Zudem war die Abstimmung im Plenum noch im Januar auf Verlangen von 90 Parlamentarier*innen erzwungen worden.

Wichtige Änderung zum Vorschlag der Kommission

Im Kern geht es in der Richtlinie darum, Scheinselbstständigkeit in der Plattform-Industrie zu beenden. Bisher behandeln viele Firmen wie Uber ihre Fahrenden nicht als Angestellte. Das spart den Unternehmen Sozialausgaben und oftmals gelten für die Selbstständigen weniger Arbeitsschutzrechte. Teilweise kann dies im Sinne der Arbeitenden sein, etwa um sich Flexibilität beim Arbeiten zu bewahren. Allerdings schätzt die EU, dass über fünf Millionen Menschen „fälschlicherweise als Selbstständige eingestuft“ werden.

Der Kommissionsvorschlag aus dem Jahr 2021 sieht daher vor, dass – wenn zwei von fünf festgelegten Kriterien erfüllt sind – Gig-Worker als Angestellte betrachtet werden müssen. Will das Plattformunternehmen das nicht akzeptieren, liegt die Beweislast bei ihm – das heißt, das Unternehmen muss nachweisen, dass eine Person tatsächlich selbstständig ist. Die heute im Parlament verabschiedete Position enthält einige wichtige Änderungen am Vorschlag der Kommission.

Zwar bleibt die Beweislastumkehr auch in der Position des Parlaments erhalten. Aber der hart erkämpfte Kompromiss streicht alle Kriterien, die im Vorschlag der Kommission die „Vermutung auf Anstellung“ auslösen würden. Stattdessen sollen Arbeitende, Gewerkschaften oder nationale Autoritäten jederzeit den von einem Plattformunternehmen festgelegten Beschäftigungsstatus anfechten können. Etwa, wenn Uber seine Fahrer*innen als Selbstständige behandelt.

Letztlich würde diese Änderung eine klare „legale Vermutung“ auf ein Anstellungsverhältnis bedeuten. In einem daraufhin möglichen Streit zwischen Unternehmen und Arbeiter*in über das Beschäftigungsverhältnis läge es dann am Unternehmen, nachzuweisen, dass es sich nicht um ein Angestelltenverhältnis handelt.

Dazu müssten die Plattformen zeigen, dass sogenannte Gig-Worker frei von ihrer Kontrolle sind. HRW kritisiert schon länger, dass Gig-Worker nicht wirklich selbstständig seien. Die Position des Ausschusses listet einige Beispiele auf, die illustrieren sollen, wie die Plattformen ihre angeblich selbstständig Arbeitenden über Apps kontrollieren. Genannt wird etwa der Einsatz undurchsichtiger Algorithmen, um Arbeit zuzuteilen, oder den Lohn zu bemessen.

Rote Linien für Automatisierung am Arbeitsplatz

Der zweite Teil der Richtlinie beschäftigt sich mit algorithmischer Automatisierung und Kontrolle am Arbeitsplatz. Für Elisabetta Gualmini, die sozialdemokratische Berichterstatterin für den EMPL-Aussschuss, ist dieser Teil der Richtlinie besonders wichtig. Die Richtlinie sei hier „revolutionär für die Zukunft des Arbeitsmarktes“, so Gualmini gegenüber EURACTIV.

Wichtige Änderungen des Ausschusstexts im zweiten Teil der Richtlinie sind dabei besonders verschärfte Transparenz- und Informationsanforderungen. Arbeitende sollen ein Recht darauf haben zu wissen, wie sich automatisierte Entscheidungen auf ihren Berufsalltag auswirken. Jede algorithmische Entscheidung, die sich „siginifikant“ auf Arbeitsbedingungen auswirke, solle menschlich überwacht werden, so Gualmini. Zugleich stärke die Position die Möglichkeit für Arbeitende, sich gemeinsam zu organisieren.

Gualmini selbst wollte die Richtlinie auf alle Menschen in der EU angewendet sehen, die sich bei ihrer Arbeit algorithmischen Kontrollmechanismen unterwerfen müssen. Die eher wirtschaftsnahen Abgeordneten im Ausschuss wollten eigentlich nicht die festgelegten Kriterien streichen. Die nun beschlossene Position des Parlaments ist ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Parteien. Alle hätten etwas aufgeben müssen, sagte Gualmini zu EURACTIV.

Es deutet sich aber dennoch schon im Kompromiss der Einfluss der Mitgliedstaaten an. So listet die Position zwar Beispiele an Kriterien auf, anhand denen in Zukunft Plattformunternehmen nachweisen sollen, ob es sich bei ihren Arbeitenden um Angestellte handelt – diese Kriterien sind aber nicht verpflichtend und obliegen letztlich den nationalen Gesetzgebern. EURACTIV zitiert eine anonyme Quelle mit den Worten: „Es geht um Mitgliedstaaten, Mitgliedstaaten und Mitgliedstaaten.“

Tanz ist noch nicht vorbei

Bisher gibt es unter den Mitgliedstaaten im Ministerrat der Union keine Einigung auf eine gemeinsame Position. Die tschechische Ratspräsidentschaft hatte einen Vorschlag eingebracht, konnte aber keine qualifizierte Mehrheit dahinter versammeln. Im Vorfeld hatte unter anderem ETUC an die Minister*innen appelliert, den Vorschlag nicht anzunehmen. Auch Gualmini äußerte sich gegenüber EURACTIV ablehnend. So sei der tschechische Vorschlag ein Schritt zurück im Vergleich zum Vorschlag der Kommission. Die italienische Abgeordnete zeigte sich besorgt, dass Arbeitnehmendenschutz auch unter der jetzigen schwedischen Ratspräsidentschaft leiden könnte.

Die von der Richtlinie betroffenen Unternehmen äußern derweil lautstark ihren Unmut. Schon vor der Veröffentlichung des Kommissionsvorschlags war die Lobby der Plattform-Industrie im Hintergrund höchst aktiv. Nach Veröffentlichung des Vorschlags liefen die Plattformunternehmen dann regelrecht Sturm: So warnte etwa Bolt vor einer „Vernichtung von Jobs“ in der EU. Ähnliche Vorträge waren aus der gesamten Branche zu vernehmen.

Gualmini sagte über die Arbeit im Ausschuss, dass sie „noch nie solche Bemühungen gesehen [habe], die Tätigkeit von Entscheidungsträgern zu konditionieren und zu beeinflussen“. Der Schattenberichterstatter der Konservativen im Ausschuss, Dennis Radtke, spricht von einer Lobbyarbeit von Uber und Co., die „jegliches gesundes Maß“ verloren habe.

Nachdem der Ausschuss im Dezember vergangenen Jahres seine Position festgelegt hatte, warnte „Move EU“, eine Interessenvertretung von „neuen Mobilitätsdienstleistungen“, diese Entscheidung des Parlaments könnte knapp 150.000 Fahrer*innen aus ihrem Beruf drängen. „Delivery Platform Europe“, eine weitere industrienahe Interessenvertretung, sprach von einer für Betroffene „ungewollten Entscheidung“, die massive rechtliche Unsicherheit nach sich ziehen könnte.

Noch ist die Plattformrichtlinie der EU nicht in trockenen Tüchern. Die zuständigen Minister*innen im Ministerrat werden voraussichtlich im März zusammenkommen. Währenddessen werden die Plattformunternehmen vermutlich nicht einfach klein beigeben.

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Eine Ergänzung

  1. Wenn Uber und Co ihre Lobbyisten Sturm gegen etwas laufen lassen, kann man sich eigentlich darauf verlassen, dass das eine gute Sache ust.

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