Informationsfreiheit„Geheime Verhandlungen schwächen die demokratischen Prinzipien der EU“

Emilio de Capitani arbeitete viele Jahre für das Europäische Parlament. Nach seiner Pensionierung verklagte der Jurist seinen früheren Arbeitgeber. Die Geheimniskrämerei beim Schreiben von EU-Gesetzen sei mit den europäischen Verträgen nicht vereinbar, sagt De Capitani im Interview mit netzpolitik.org.

Emilio de Capitani
Emilio De Capitani klagte den Rat der EU – erfolgreich – Alle Rechte vorbehalten European Union/Bearbeitung netzpolitik.org

Mit seinen Klagen hat er eine Mauer aufgebrochen. Eine Mauer, hinter der EU-Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden. Emilio De Capitani ist durch seinen juristischen Kampf gegen die Intransparenz in Brüssel zu einer Legende geworden. Im Interview mit netzpolitik.org erklärt der italienische Jurist, warum er seinen früheren Arbeitgeber verklagt und welche Konsequenz die zwei Urteile hatten, die er vor dem Europäischen Gericht erkämpft hat.

netzpolitik.org: Sie traten 1985 als Beamter in den Dienst des Europäischen Parlaments ein und halfen unter anderem bei der Aushandlung der EU-Gesetze zur Informationsfreiheit. Nach Ihrer Pensionierung im Jahr 2012 beschlossen Sie, gegen das Europäische Parlament vor Gericht zu ziehen. Warum haben Sie die Institution, für die Sie viele Jahre gearbeitet haben, verklagt?

Emilio de Capitani: Es sieht nach einer ziemlich fiesen Sache aus, aber das war es nicht, denn paradoxerweise habe ich die Position des Europäischen Parlaments verteidigt. Ich möchte daran erinnern, dass die Verpflichtung zur Transparenz der Gesetzgebung im [seit 2009 geltenden] Vertrag von Lissabon festgelegt wurde. Der EU-Vertrag sieht vor, dass die vorbereitenden Debatten zur Gesetzgebung sowohl im Europäischen Parlament als auch im Rat öffentlich geführt werden müssen. Natürlich war dies für das Europäische Parlament nicht neu, aber das war – oder besser gesagt, wäre – eine Revolution für den Rat. Denn der Rat versucht, seine alten Gewohnheiten beizubehalten.

netzpolitik.org: Sie beziehen sich auf die sogenannten Trilog-Verhandlungen, bei denen sich Parlament, Rat und Kommission auf einen endgültigen Gesetzestext einigen. Was ist daran aus Ihrer Sicht falsch?

De Capitani: Nach Lissabon sollte der Rat zu einer Art zweiter parlamentarischer Kammer werden, und das sollte sich zwangsläufig auf sein Verhalten auswirken. Ich hatte erwartet, dass das Parlament den Rat dazu bringen würde, transparenter zu werden, aber leider ist das Gegenteil eingetreten. Der Rat hat umgekehrt das Europäische Parlament überzeugt, Triloge hinter verschlossenen Türen zu verhandeln. Das ist sehr bedauerlich, weil es meiner Meinung nach nicht nur die Umsetzung der demokratischen Prinzipien der EU schwächt. Sondern auch den Weg für unangemessenen Druck von externen Akteuren ebnet, wie der „Katargate“-Skandal gezeigt hat. In meinen 26 Jahren Erfahrung in den europäischen Institutionen habe ich gesehen, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments von mehr Transparenz in der Gesetzgebung nur profitieren können.

netzpolitik.org: In Ihrem ersten Rechtsstreit haben Sie vor Gericht erfolgreich argumentiert, dass das Europäische Parlament Zugang zu den sogenannten Vierspaltendokumenten gewähren muss, die Aufschluss über die Position der Verhandelnden in den Trilog-Verhandlungen geben. Können Sie erläutern, was dieses Urteil bedeutet?

„Wir sind weit von echter Transparenz entfernt“

De Capitani: Es ist wichtig, weil es klarstellt, dass das Parlament und der Rat nicht nur dann transparent sein müssen, wenn sie allein handeln, sondern auch, wenn sie zusammenkommen – unabhängig davon, ob die Sitzungen als „informell“, „technisch“ oder wie auch immer bezeichnet werden. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass Triloge nicht nur vorbereitende Arbeiten für die Gesetzgebung sind, sondern die wichtigste Phase, da die in einem Trilog vereinbarten Texte praktisch nicht mehr vom Parlament oder vom Rat geändert werden. Heute wird fast die gesamte EU-Gesetzgebung in Trilogen ausgehandelt, und es ist selbst für Journalisten nicht einfach, herauszufinden, wer hinter manchen Kompromissen zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen den Fraktionen im Europäischen Parlament steckt. Ich muss zugeben, dass es nach dem Urteil einige Verbesserungen gegeben hat, aber meiner Meinung nach sind wir immer noch weit von einer echten Transparenz der Gesetzgebung entfernt.

netzpolitik.org: Ihre andere Klage, die Sie im Jahr 2018 eingereicht haben, betraf Arbeitsdokumente des Rates. Können Sie erklären, warum Sie diese Klage eingereicht haben und warum diese Dokumente wichtig sind?

De Capitani: Derzeit werden die Arbeitsdokumente des Rates hauptsächlich zwischen den einzelnen Mitgliedern der Arbeitsgruppe ausgetauscht. Informationen über ihre Existenz werden möglicherweise erst Wochen, wenn nicht Monate oder Jahre später veröffentlicht. Aber das Fehlen dieser Informationen macht es nahezu unmöglich, die Entwicklung der Gesetzgebungsdebatten im Rat zu verfolgen. Das Gericht hat auf meinen Antrag hin anerkannt, dass die Arbeitsgruppen des Rates die gleiche Rolle spielen wie die parlamentarischen Ausschüsse im Europäischen Parlament. Daher haben die Bürgerinnen und Bürger das Recht, von Beginn eines Gesetzgebungsverfahrens an die Argumente zu verfolgen, die von den Vertretern der nationalen Regierungen im Rat vorgebracht werden. So wie sie das Recht haben, die Argumente zu verfolgen, die von den Mitgliedern des Parlaments in den Ausschüssen vorgebracht werden.

Für einen Bürger und noch mehr für einen Interessenvertreter ist die Kenntnis der roten Linien der Vertreter der Mitgliedstaaten und der Entwicklung der Verhandlungen von entscheidender Bedeutung. So kann er nicht nur die Argumentation jedes Teilnehmers verstehen, sondern auch, ob eine Position erfolgreich sein könnte oder Gefahr läuft, von anderen Mitgliedstaaten blockiert zu werden. Es erübrigt sich zu sagen, dass die Teilhabe an der Demokratie, wie sie in den Verträgen vorgesehen ist, ohne eine vollständige und rechtzeitige Information über die Entwicklung der legislativen Debatten bedeutungslos wäre.

„Die EU muss über jeden Verdacht erhaben sein“

netzpolitik.org: Leute, die ich im Rat kenne, argumentieren, dass die Regierungen in der Lage sein müssen, vertrauliche Gespräche zu führen, um Vereinbarungen über schwierige Themen zu treffen. Echte Verhandlungen würden es unmöglich machen, jede Verhandlungsposition in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Sie sagen auch, dass zu viel Transparenz bedeuten würde, dass die wirklichen Verhandlungen woanders stattfinden, in einem informelleren Rahmen. Was ist Ihre Antwort darauf?

De Capitani: Ich kenne diese Argumente seit den Verhandlungen über das Informationsfreiheitsgesetz. Sie mögen vernünftig erscheinen, sind es aber nicht. In allen Parlamenten der demokratischen Länder der Welt werden tagtäglich transparente Verhandlungen über die Gesetzgebung geführt. Die Transparenz der Gesetzgebung ist sogar noch wichtiger für eine supranationale Demokratie wie die Europäische Union, der sehr oft ein Demokratiedefizit vorgeworfen wird. Darüber hinaus sollte uns der jüngste Fall um Korruption in der EU gezeigt haben, dass die EU – wie Cäsars Ehefrau – über jeden Verdacht erhaben sein muss.

Abgesehen davon können informelle Treffen zwischen einem Berichterstatter und den so genannten Schattenberichterstattern im Europäischen Parlament natürlich weiterhin stattfinden. Aber früher oder später sollten ihre parlamentarischen Ausschüsse über die erörterten Themen informiert werden, und über sie werden diese Informationen auch für die Außenwelt zugänglich sein.

netzpolitik.org: Der Gerichtshof hat sich auch in diesem Jahr auf Ihre Seite gestellt. Im Januar hat er entschieden, dass die Arbeitsdokumente des Rates der Öffentlichkeit generell zugänglich gemacht werden sollten. Dadurch wird es möglich, viel klarer zu verstehen, welche Positionen die Mitgliedstaaten in den Verhandlungen des Rates, auch in laufenden, einnehmen. Sollten wir dies als Meilenstein für die Transparenz ansehen?

De Capitani: Das Gericht hat anerkannt, dass die Arbeitsgruppen des Rates eine wichtige vorbereitende Rolle bei der Gesetzgebungsarbeit spielen. Daher sollten die Bürger in der Lage sein, die Entwicklung der Debatten im Detail zu verfolgen. Doch zu meiner Überraschung vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass der Grundsatz der Transparenz der Gesetzgebung eingeschränkt werden kann, durch die in Artikel 4 und 9 der Transparenzverordnung aufgeführten Ausnahmen. Diese Artikel wurden auf der Grundlage eines ganz anderen Konzepts der Gesetzgebungstätigkeit und der Transparenz der Gesetzgebung definiert.

netzpolitik.org: Artikel 4 des EU-Transparenzgesetzes besagt zum Beispiel, dass Dokumente über interne Debatten zurückgehalten werden können, bis eine Entscheidung getroffen wurde. Was bedeutet es, dass es in der Praxis immer noch große Ausnahmen von der Transparenz gibt?

De Capitani: Ich habe erfolglos versucht zu zeigen, dass das Recht der Öffentlichkeit auf Kontrolle der Legislativverfahren nicht durch ein EU-Gesetz oder gar durch die interne Praxis eines Organs außer Kraft gesetzt werden darf. Dies stünde in eklatantem Widerspruch zu der im Vertrag der Europäischen Union vorgesehenen Verpflichtung zu öffentlichen gesetzgeberischen Vorbereitungsdebatten. Leider erkannte das Gericht dieses „Catch 22“-Dilemma nicht an, auch wenn es feststellte, dass diese Ausnahme nicht gerechtfertigt war, um die Freigabe des von mir in diesem speziellen Fall angeforderten Dokuments zu verzögern. Die Tatsache, dass das Gericht das Recht auf eine „rechtzeitige“ Antwort ausdrücklich anerkannt hat , könnte die Grundlage für ein zukünftiges Gerichtsverfahren bieten.

„Ich kann weitere Klagen nicht ausschließen“

netzpolitik.org: Der Zugang zu Arbeitsunterlagen scheint sich seit dem Urteil verbessert zu haben. Würden Sie sagen, dass es eine Auswirkung hatte?

De Capitani: Ich stimme Ihnen zu, dass es seit der Entscheidung einige Verbesserungen gegeben hat, aber ehrlich gesagt sind sie nur minimal. Die internen Dokumente der Arbeitsgruppen des Rates sind immer noch nicht im Dokumentenregister des Rates zu finden. Selbst wenn einige von ihnen nach Wochen oder Monaten öffentlich werden, wird das Dokument nicht automatisch im Ratsregister veröffentlicht, wie es nach der Verordnung sein sollte. In meinen Augen läuft dies auf einen Grundsatz einer „eingebauten Vertraulichkeit“ („confidentiality by design“) statt auf „eingebaute Transparenz“ („transparency by design“) hinaus, wie es im Vertrag und in der Charta vorgesehen ist.

Seit dem Urteil fordere ich monatlich alle Arbeitsdokumente vom Rat an. Ich hoffe, dass diese Dokumente bald über eine gemeinsame Plattform der EU-Institutionen veröffentlicht werden können, die vom EU-Amt für Veröffentlichungen eingerichtet werden sollte. Eine gute Nachricht ist, dass zumindest einige Dokumente aus den Trilogien bereits über das Dokumentenregister des EU-Parlaments zugänglich sind.

netzpolitik.org: Wenn Sie verbindliche Vorschläge für die Zukunft der Transparenz in der Europäischen Union machen könnten, wie würden diese aussehen?

De Capitani: Ich ziehe es vor, nichts Neues zu erfinden, aber ich möchte auf die Position des Europäischen Parlaments vom Dezember 2011 verweisen. Damals hat das Plenum des Europäischen Parlaments eine ehrgeizige Überarbeitung der Transparenz-Verordnung vorgelegt, die viele Unklarheiten in Bezug auf Gesetzgebungsverfahren, Transparenz der EU-Verwaltungstätigkeit und sogar die Behandlung von Verschlusssachen beseitigt. Leider waren sowohl die Europäische Kommission als auch der Rat nach einigen Sitzungen der Ansicht, dass die Entschließung des Europäischen Parlaments zu ehrgeizig war, und hat sich nicht bewegt. Das Legislativverfahren ist noch nicht abgeschlossen, so dass das Europäische Parlament oder der Rat die Verhandlungen jederzeit wieder aufnehmen können, aber ich sehe keine Bewegung in dieser Richtung.

In den kommenden Wochen werde ich dem Parlament eine Petition vorlegen, in der ich die proaktive Veröffentlichung von Trilog-Dokumenten und einen strukturierten Dialog mit der Zivilgesellschaft fordere. Außerdem kann ich nicht ausschließen, dass eine weitere Klage vor dem Europäischen Gerichtshof eingereicht wird, wenn ich nicht die Arbeitsdokumente erhalte, die ich in den vergangenen Wochen angefordert habe.

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2 Ergänzungen

  1. „Geheime Verhandlungen schwächen die demokratischen Prinzipien der EU“

    Deswegen wird es ja gemacht.

    Die EU war mal ein Demokratie-Projekt, mittlerweile ist sie ein Herrschaftsprojekt.

  2. Reden in der Öffentlichkeit gibt es viele, wenn auch die meisten in Zeitungen, sozialen Medien oder Talkshows stattfinden. Reden im Parlament sind für Zuschauer bestimmt und nicht für die anderen Mitglieder des Parlaments.
    In der Öffentlichkeit redet man immer an einander vorbei.
    Substanzielle Verhandlungen finden im Bundestag, in und zwischen den Fraktionen sowie innerhalb der Bundesregierung immer im Geheimen statt.

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