Große Koalition in BerlinEin Desaster für die Bürgerrechte

Mehr Videoüberwachung, mehr anlasslose Kontrollen, mehr Staatstrojaner. CDU und SPD wollen in Berlin für Aufbruch stehen, doch sie liefern autoritären Rückschritt. Sozialdemokrat:innen, die eine bunte und liberale Stadtkultur wollen, dürfen diesem Koalitionsvertrag nicht zustimmen. Ein Kommentar.

Zwei Menschen an Rednerpulten, links Franziska Giffey im roten Hosenanzug, rechts Kai Wegner im blauen Sakko
Franziska Giffey und Kai Wegner (beide rechts) bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Bernd Elmenthaler

„Aufbruch und Erneuerung“ für Berlin – so lautet das zentrale Versprechen Kai Wegners und Franziska Giffeys. Innenpolitisch liefert der heute vorgelegte Koalitionsvertrag [PDF] von CDU und SPD indes das genaue Gegenteil. Auf die Frage nach dem guten Zusammenleben in der Millionenstadt servieren beide Parteien vor allem die üblichen Antworten der Konservativen: mehr Überwachung, mehr Repression, weniger Grundrechte.

Das beginnt bereits bei der Sprache. Bei der heutigen Vorstellung des Vertrages verspricht der Chef der Berliner CDU mehr „Sicherheit“ und „Sauberkeit“ für die deutsche Hauptstadt. Als ob beide Werte den gleichen Rang haben, sichert Wegner der Polizei alle nötigen Mittel zu, um beides durchsetzen. SPD-Chefin Giffey steht daneben und lächelt. Sie hatte im Wahlkampf ähnliche Töne angeschlagen wie der CDU-Mann und damit das schlechteste Ergebnis der Berliner SPD seit der Wiedervereinigung eingefahren.

„Wertschätzung für die Polizei“ ist Kai Wegner bei dem heutigen Pressetermin besonders wichtig. Kein Wort verliert er darüber, warum das Image der Behörde so ramponiert ist. Dabei ließe sich viel sagen über Probleme mit Rassismus oder auch Rechtstaatsfeindlichkeit in den eigenen Reihen. Stattdessen kündigt Wegner an: „Sie werden merken, dass diese neue Koalition hinter der Polizei steht.“ Für die Opfer von Polizeigewalt muss das nicht nur wie Hohn, sondern wie eine Drohung klingen. Statt Problemanalyse und vertrauensbildender Maßnahmen stellt Wegner der Polizei einen Blankoscheck aus.

Präventivhaft und Staatstrojaner

Der weltoffenen Metropole Berlin droht weit mehr als nur ein neuer Regierungsstil. Wegner und Giffey stehen für Law and Order. Dass die Polizei personell deutlich aufgestockt werden soll, ist dabei nicht zwangsläufig problematisch. Wie so viele Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge wurde auch sie kaputtgespart. Zu Recht klagen die Polizist:innen über zu viel Belastung. Doch die Große Koalition will auch eine massive technische und rechtliche Aufrüstung betreiben.

Konkret will sie unter anderem eine Rechtsgrundlage schaffen für den Einsatz von Staatstrojanern durch die Polizei – wie üblich mit Verweis auf die „Bekämpfung terroristischer Straftaten und schwerster Straftaten“. Tatsächlich setzt die Polizei staatliches Hacking in der Praxis vor allem wegen Eigentums- und Drogendelikten ein.

Natürlich gehört auch mehr Videoüberwachung „an kriminalitätsbelasteten Orten“ zum Programm der Koalitionär:innen, um damit „die Bürgerinnen und Bürger besser zu schützen“. Sie hatte die CDU schon zu Zeiten der bislang letzten Berliner GroKo zwischen 2011 und 2016 auf dem Wunschzettel. Dass Videoüberwachung laut wissenschaftlicher Studien damals wie heute kaum zur Prävention beiträgt, interessiert offenbar wenig.

Vom Wunschzettel der CDU

Berlin war bislang eines der letzten Bundesländer mit einem halbwegs liberalen Polizeigesetz. Nun soll auch hier die Möglichkeit zur Präventivhaft verlängert werden, von zwei auf fünf Tage. Ein Blick nach Bayern oder Nordrhein-Westfalen zeigt, wie schnell dieses Mittel gegen politischen Aktivismus und zivilen Ungehorsam eingesetzt werden kann.

Auch das grundrechtsfreundliche Versammlungsfreiheitsgesetz will die GroKo auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls verschärfen. Das hieße: Weniger Versammlungsfreiheit, mehr Rechte für die Polizei auf Demonstrationen. Außerdem will die GroKo mit neuen „Messerverbotszonen“ weitere Gebiete schaffen, in denen die Polizei anlasslos Menschen kontrollieren darf. Das wäre eine versteckte Ausweitung der umstrittenen Schleierfahndung. Auch der Verfassungsschutz soll weiter ausgebaut werden.

Die Nutzung von Bodycams will die GroKo ebenfalls ausweiten und künftig auch in Privaträumen von Bürger:innen einsetzen. Kein Wort verliert der Koalitionsvertrag dazu, dass Polizist:innen die kleinen Körperkameras erfahrungsgemäß immer dann aus vermeintlich technischen Gründen ausschalten, wenn die Aufnahmen sie selbst in einem schlechten Licht dastehen lassen würden.

Konservative Innenpolitik in Reinform

Auch zum sogenannten Neukölln-Komplex findet sich in dem Koalitionsvertrag kein Wort. Über viele Jahre hinweg konnte eine Neonazibande das südliche Neukölln in Angst und Schrecken versetzen. Sie schmissen Fensterscheiben von Menschen ein, die sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren, schmierten Morddrohungen an Wände, zündeten Autos an. Starke Indizien sprechen dafür, dass die Täter nicht nur wegen stümperhafter Polizeiarbeit so lange agieren konnten, sondern auch, weil sie aktive Sympathisant:innen in Justiz und Sicherheitsbehörden hatten.

Ein Untersuchungsausschuss soll in dieser Legislaturperiode endlich Licht in die rechtsextremen Netzwerke bringen. Im ersten Jahr kam er bislang noch nicht weit, auch weil die Behörden mauern. Dass die Aufklärungsarbeit mit dem neuen Regierungsbündnis besser wird, darf getrost bezweifelt werden. Im Gegenteil: Es ist wohl ausgeschlossen, dass der Ausschuss nun noch Erkenntnisse produziert, die die ehemaligen Innensenatoren von CDU und SPD belasten.

Unterm Strich ist all das konservative Innenpolitik in Reinform. Kein Wunder also, dass die Gewerkschaft der Polizei jubiliert, dass sie für zahlreiche Weichenstellungen in dem Koalitionsvertrag verantwortlich sei.

SPD-Mitglieder haben es in der Hand

Dass die von der CDU vorangetriebene autoritäre Wende mit einer gehörigen Portion Rassismus garniert sein dürfte, darauf gab bereits die Debatte um die sogenannten Silvesterkrawalle Anfang des Jahres einen Vorgeschmack. Es würde leichter fallen, Wegners und Giffeys permanenten Bekenntnissen zur „bunten und vielfältigen Stadt“ Glauben zu schenken, wenn sie Probleme bei der Polizei wenigstens ansprechen würden. Oder wenn die neuen Befugnisse zumindest mit besserer Kontrolle der Sicherheitsbehörden einhergingen. Doch Pustekuchen.

Stattdessen schlägt die Berliner Datenschutzaufsicht seit Jahren wegen zahlreicher Datenschutzverstöße bei der Polizei Alarm. Weil sie diese bislang nur beanstanden, nicht aber – wie eigentlich von der EU vorgeschrieben – gegenüber der Polizei auch Anordnungen aussprechen darf, hat Brüssel inzwischen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Die Berliner GroKo will an dem offenkundigen Missstand offenbar nichts ändern. Stattdessen soll die Datenschutzbehörde zum „Servicedienstleister“ für die Verwaltung degradiert.

Bleibt die Frage: Wen will die SPD mit dieser Politik eigentlich überzeugen? Wer konservative Politik will, kann CDU wählen. Tatsächlich präferiert ein Großteil der Berliner SPD-Wähler:innen laut Umfragen ein Bündnis mit Grünen und Linken. Dafür ist es noch nicht zu spät. Es liegt jetzt bei den Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei, das Desaster einer Großen Koalition in Berlin abzuwenden.

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25 Ergänzungen

    1. Warum könnt ihr nicht einfach NEUTRAL berichten? Diese ganze gelenkte Berichterstattung ist doch scheisse. Am besten schreibt jemand wie Ingo über Kochrezepte!

      1. Das ist ein, als solcher gekennzeichneter, Kommentar und damit explizit eine Meinung.

        Geben Sie sich nicht auf, bilden Sie sich weiter!

    2. Aeh, nein, es waren die sogenannten Sozialdemokraten der SPD, seit Schroeder die Partei der linksblinkenden Rechtsabbieger. Wobei Schily nichtmal links geblinkt hat.

      Als ueberzeugter Sozialdemokrat lehne ich jeden Bezug mit der SPD seit 25 Jahren entschieden ab!

      1. > Als ueberzeugter Sozialdemokrat lehne ich jeden Bezug mit der SPD seit 25 Jahren entschieden ab!

        Ein überzeugter Sozialdemokrat hat sozialdemokratische Werte verinnerlicht, dazu gehört u.a. der Begriff ’soziale Gerechtigkeit‘. Die inhaltliche Ausstattung, was soziale Gerechtigkeit ausmacht, kommt aus dem Umfeld der Gewerkschaften. Soziale Gerechtigkeit bedeutet empfundene Wahrnehmung sozialer Verhältnisse, wobei gerne vergessen wird, dass Recht und Gerechtigkeit verschiedene Kategorien sind. Recht wird geschrieben und gesprochen, Gerechtigkeit hingegen wird emotional empfunden und auf gesellschaftliche Verhältnisse bezogen.

        Der Spruch „wer hat uns verraten? Es waren die Sozialdemokraten“ hat einen klaren, traurigen historischen Bezug, der damals weit reichende Folgen hatte. Wer heute den Spruch verwendet, der will zum Ausdruck bringen, dass es Karrieristen unter den Parteifunktionären gibt, die in opportun und pragmatisch in einer Weise handeln, die mit den Werten eines guten Sozialdemokraten nicht vereinbar sind.

        Früher galt ‚zuallererst das Land, und dann die Partei‘. Heute kann man ‚zuerst mach ich Karriere in der Partei, und dann mach ich, was ich will‘ beobachten. Das kann man schon als Verrat an der Sache bezeichnen.

        Begrifflich könnte man das vielleicht als SPD-Neos einordnen?

  1. Wenn die Mitglieder*innen der SPD da zustimmen sehe ich diese Partei in Berlin bei der nächsten Wahl (hoffentlich) etwas unterhalb der 5%-Hürde.
    Man könnte meinen Frau Giffey wurde vor Jahren als (CD)U-Boot in die SPD eingeschleust, anders lässt sich diese Unterwerfung vor einem Rassisten nicht erklären.

    btw. Ich mag die Bildunterschrift. Sehr passend die Positionierung der beiden verdeutlicht.

    1. Die Berliner SPD-Basis kann entscheiden: sozialdemokratische Werte oder die, diese Werte und Basis verachtende, Parteiführung.

      Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

      1. Aber sie stirbt, die SPD-Basis stimmt einer CDU-geführten Regierung in Berlin zu.

        Damit sind die Spezialdemokraten endgültig im konservativen Lager angekommen, inhaltlich wie personell. Wer die wählt, sollte gleich CDU wählen.

    2. Kurzer Hinweis nebenbei, ich habe grundsätzlich wirklich nichts gegen das Gendern, aber dann doch bitte richtig. Das Wort Mitglied ist sächlich. Es gibt das Wort „die Mitgliedin“ nicht. Sieht man immer häufiger und da zieht sich in mir wirklich alles zusammen. Dann müsste man auch „die Geniein“ oder „die Kindin“ sagen.

    3. Die gesamte SPD-Fuehrung rekrutiert sich seit Jahrzehnten aus Leuten, die in der CDU schlechtere Karrierechancen sahen. Plus ein paar Feigenblaetter wie Saskia Esken, die aus Nostalgie eine Partei vertreten wollen, die es nicht mehr gibt.

      Aber ja, Giffey hat’s schon optimiert.

      Die SPD steht Loesungen im Weg, vorsaetzlich, verlaesslich.

  2. Es ist doch immer das gleiche: Videoüberwachung ist schlecht, aber Alternativen werden nicht genannt. Aber wer Berlin nicht kennt (so klingt der Text), versteht die Probleme dort vermutlich schlicht nicht. Dass man Bodycams auch ausschalten kann, ist klar, aber erstens werden ja dennoch immer wieder Fälle von Fehlverhalten durch Polizisten durch deren Bodycams aufgeklärt, was das Argument fadenscheinig klingen lässt, und zweitens geht es genauso auch darum, dass Polizisten beweisen können, dass sie sich korrekt verhalten haben.

    1. Bodycams unter Kontrolle der Polizeibeamten sind keine (notwendige) Kontrolle der Polizei.

      Komischerweise werden praktisch immer Videos Dritter benötigt, damit Polizisten „Irrtümer“ in ihren Aussagen zugeben. Belangt werden sie auch dafür praktisch nie.

    2. „Aber wer Berlin nicht kennt (so klingt der Text), versteht die Probleme dort vermutlich schlicht nicht.“
      Ähm… die Redaktion hat ihren Sitz in Berlin.
      Ich glaube die kennen die Situation vor Ort sehr gut.

  3. zu s_aus_berlin: „Videoüberwachung ist schlecht, aber Alternativen werden nicht genannt. “

    Videoüberwachung in der Form, in der sie in Berlin jetzt schon stattfindet, IST schlecht. An stark frequentierten Punkten wie z. B. Flughäfen oder Bahnhöfen ist es noch halbwegs nachvollziehbar. Dass aber an allen möglichen U-/S-Bahnhöfen zig Kameras an der Decke und sogar an den Aus- und Eingängen hängen, die das Verhalten jeder Person lückenlos und womöglich noch in Zukunft mit Gesichtserkennung nachvollziehen sollen, grenzt an eine grundrechts- und demokratiefeindliche Sicherheits-Zwangsneurose.

    Es ist umgekehrt: Obwohl längst erwiesen ist, dass Videoüberwachung die durchaus auch Nicht-Berlinern bekannten Probleme lediglich an andere Orte verlagert, ist das erste, was vor allem CDU/SPD einfällt, die Überwachung auszubauen, statt Alternativen anzubieten wie:

    Prävention, Aufklärung, mehr Stellen und Verstärkung der physischen Polizeipräsenz, Sozialarbeit, usw.

    Wieder ist es so, dass man nur Symptome bekämpft, die eigentlichen Ursachen jedoch nicht. Sstattdessen werden Grundrechte nach und nach demontiert. Das ist konsequent abzulehnen.

    Thema Bodycams: Ich habe noch von keinem Fall gehört (in der einen wie in der anderen Richtung), dass sie irgendwo sinnvoll eingesetzt wurden. Sollten Sie mir seriöse Quellen nennen können, die meine Unwissenheit beseitigen, lasse ich mich gern belehren.

    Hoffen wir auf die Jusos und den Restverstand der SPD-Mitglieder, die klar gegen diesen Koalitionsvertrag votieren, nicht nur aus den genannten Gründen, sondern auch, um ein Scheitern weiterer Vorhaben der Ampel im Bundesrat zu vermeiden.

  4. Hat eigentlich irgendjemand noch einen Überblick, wie viele EU Vertragsverletzungsverfahren Bund und Länder mittlerweile schon an den Hacken haben – und warum? Gibt es irgendwo eine Aufstellung darüber?

  5. Erinnere nur ich mich bei dem und anderen Themen wo es um Bürgerrechte und -Würde (im Zusammenhang mit Digitalisierung) geht an den Roman „1984“?

    Ich möchte gern den Politikern und anderen Institutionen wieder vertrauen können.
    Geht das?

    1. Von selber: nein.

      Das ist ja ein dynamisches System, in dem einige Akteure mit viel Ressourcen immerwährend dafür arbeiten (lassen), ihre Interessen gegen die Masse der anderen durchzusetzen.

      Es hilft also nur, selber aktiv werden. Die Masse der Bürger hat einzeln wesentlich weniger Ressourcen, also zusammenschließen, Kräfte bündeln, Funktionäre und Spezialisten einstellen oder selber einer werden.

      Ein Blick in die Geschichte zum Ende der Feudalherrschaft hilft. Die Mächtigen wollen dahin zurück, die vielen Bürger wollen davon weg. Es wird keinem geschenkt, der es nicht erbt.

      Mit dem Seitenwechsel der SPD vor 25 Jahren gibt es ein Ungleichgewicht, das behebt sich nicht von selbst.

      1. Wobei, wenn alle mit für deren Ressourcen arbeiten, interessiert mich da mal eine Modellrechnung zu.
        Müsste man nicht erst den Resourcenfluss mindern, um eine Balance zu ermöglichen?

        Geht das ohne Waffen oder unendlich viel Zeit? Bei typischen Krisen profitieren die selben Leute statistisch ja i.d.R. noch mehr. Bildung haben die i.d.R. auch mehr bzw. Teurere, also sind die einfach genetisch benachteiligt?

        Seid versichert, ihr wollt keine Super-KI, und auch keine kapablen Aliens

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