Digitale GewaltAcht klaffende Lücken im geplanten Gesetz

Das Justizministerium hat Eckpunkte für ein „Gesetz gegen digitale Gewalt“ vorgelegt – und viele Fachleute sind enttäuscht. Ihnen fehlt noch Grundlegendes, um Menschen besser vor digitalen Übergriffen zu schützen. Eine Übersicht über die wichtigsten Forderungen.

Schwarz-Weiß-Illustration einer weiblichen Person, umgeben von Bildschirmen und Gadgets
Digitale Gewalt hat viele verschiedene Formen (Symbolbild) – Linke Hälfte: StableDiffusion („mechanical illustration, woman, gadgets, screens); rechte Hälfte: DALL-E-2

Täter*innen können Menschen im Netz das Leben zur Hölle machen: Sie verbreiten ihre privaten Fotos und Adressen, beschimpfen und beleidigen sie in sozialen Medien, überhäufen sie mit Drohnachrichten und Gewaltfantasien. Einige versuchen, die Accounts ihrer Zielpersonen zu hacken. Oder überwachen ihre Geräte, um sie auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Der Sammelbegriff für diese und andere Angriffe ist digitale Gewalt. Um Betroffene besser zu schützen, hat das Justizministerium (BMJ) im April Eckpunkte für ein neues Gesetz vorgelegt.

Demnach sollen unter anderem Online-Dienste wie Facebook oder Twitter gewaltsame Accounts sperren können, wenn Richter*innen das anordnen. Außerdem sollen Dienste und Messenger auf Anordnung private Daten von verdächtigen Accounts herausrücken, unter anderem IP-Adressen. Für beide zentralen Maßnahmen im Eckpunktepapier gab es Kritik: Etwa, weil Account-Sperren vielen Betroffenen wenig bringen, oder weil das BMJ die Auskunftsrechte weit über digitale Gewalt hinaus ausweiten möchte, unter anderem auf Verletzungen des Urheberrechts.

Aufmerksamkeit verdienen aber nicht nur die Fallstricke, sondern auch die Leerstellen im geplanten Gesetz. Denn seit Jahren fordern Fachleute für digitale Gewalt von der Bundesregierung konkrete Maßnahmen, die das Leben von Betroffenen enorm verbessern könnten. Immer wieder fällt dabei das Wort „dringend“.

Übersicht

Das Justizministerium hat die Öffentlichkeit um Feedback für seine Eckpunkte gebeten. Das heißt, jetzt ist der beste Zeitpunkt für einen Wunschzettel an ein Gesetz gegen digitale Gewalt, das seinem selbst gesteckten Ziel gerecht wird. Hier fassen wir acht grundlegende Forderungen aus der Zivilgesellschaft zusammen und ordnen sie ein.

1. Mehr Geld, Personal und Fortbildung für Beratungsstellen

Fachleute betonen immer wieder: Die erste und beste Anlaufstelle bei Stalking oder Bedrohungen sind nicht etwa Justiz oder Polizei, sondern Beratungsstellen. Sie unterstützen Betroffene, orientieren sich an deren Befürnissen und helfen, Optionen auszuloten: Wie können sich Betroffene unmittelbar schützen; möchten sie überhaupt Anzeige erstatten; sollten sie vorsorglich Beweise sichern?

Doch viele Beratungsstellen in Deutschland arbeiten am Limit und müssen mit wenig Fachkräften viele Menschen versorgen. Oft ist die Finanzierung befristet, das heißt: Die Stellen wissen nicht, wie lange sie ihre Beratung noch anbieten können. Für Weiterbildungen zu digitaler Gewalt bleibt oft keine Zeit. Dabei ist es heute eher die Ausnahme, wenn Übergriffe wie Stalking ohne digitale Medien passieren. Digitale Gewalt wird zum festen Bestandteil von Gewalt, vor allem in der Partnerschaft.

Der Verein Frauenhauskoordinierung, ein Zusammenschluss von Frauenhäusern in Deutschland, fordert: Jede Einrichtung benötige zusätzliche, fest eingeplante, personelle Ressourcen für digitale Gewalt. „Jede Mitarbeiter*in benötigt regelmäßige Basisfortbildungen zum technischen und sozialen Umgang mit digitaler Gewalt.“ Ähnlich argumentiert das Berliner Anti-Stalking-Projekt, eine Beratungsstelle des Vereins FRIEDA-Frauenzentrum: „Das derzeit sehr überschaubare Beratungsangebot in Deutschland muss aufgestockt werden“.

Die gemeinnützige Organisation Superrr arbeitet an der Schnittstelle von Technologie und Diversity und weist darauf hin, dass verschiedene Formen digitaler Gewalt auch besondere Beratung erfordern. Der Fokus liege akutell auf Hassrede, „aber zum Beispiel ist Aufklärung über Spyware auch ein wichtiger Aspekt“, schreibt Corinna Vetter.

„Es gibt nicht genug Beratungsstellen“

Die Finanzierung für Beratungsstellen müsse „langfristig und nachhaltig gewährleistet sein“, schreiben auch die Unterzeichner*innen des Aufrufs „NetzOhneGewalt“ aus dem Jahr 2019, darunter die Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast. Mit Blick auf das aktuelle Gesetz bekräftigt Künast gegenüber netzpolitik.org: „Die Forderungen auch für mehr Beratung bestehen unbedingt weiter.“ Auch die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg, digitalpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion, beklagt auf Anfrage von netzpolitik.org ein „riesengroßes Defizit an Hilfsstrukturen für Betroffene“. Betroffene auf der Suche nach Beratung würden „nach wie vor im Regen stehen“.

Ausgewiesene IT-Expert*innen für jede einzelne Beratungsstelle fordern Fachleute dagegen nicht. Es genügt wohl, wenn mehrere Beratungsstellen gemeinsam auf IT-Kräfte zurückgreifen können. So fordert der Verein Frauenhauskoordinierung „bundesweite Anlaufstellen für Mitarbeiter*innen des Hilfesystems, die im Bedarfsfall bei technischen Fragen und der ersten Spurensicherung unterstützen können“. In Baden-Württemberg ist das zum Beispiel bereits der Fall: Dort vernetzt seit zwei Jahren eine Koordinierungsstelle für digitale Gewalt Beratungsangebote und Frauenhäuser.

2. „Digitale Gewalt“ gründlich definieren

Digitale Gewalt ist ein breiter Sammelbegriff, darunter können zahlreiche Formen von Übergriffen fallen. Auch das Familienministerium schreibt uns auf Anfrage: Der Begriff sei nicht klar definiert. Ein genaues Verständnis von digitaler Gewalt ist aber keine bloße Erbenszählerei, wie Corinna Vetter von der Organisation Superrr erklärt: Ohne klare Definition könnten Maßnahmen ins Leere laufen oder gar schaden, weil der Fokus nicht auf den konkreten Betroffenen liege. Wer nicht weiß, wem geholfen werden muss, kann auch schlecht helfen.

Das Problem spiegelt sich im Eckpunktepapier wieder, das geplante Gesetz ist sehr weit gefasst und zugleich unspezifisch. Es soll demnach auch Menschen stärken, deren Urheberrechte verletzt wurden oder die eine schlechte, unwahre Restaurantkritik einstecken müssen. So etwas fällt selbst mit bei sehr breiten Definition nicht unter digitale Gewalt. Die gemeinnützige Organisation HateAid übt zwar auffällig wenig Kritik an der Ausweitung, hält eine Eingrenzung dennoch für möglich. Dabei nennt sie eine Reihe von Delikten, die den Fokus auf digitale Gewalt deutlich schärfen würden. Neben Beleidigung, übler Nachrede, Volksverhetzung oder Bedrohung sind das etwa Stalking („Nachstellung“) oder Doxing. So nennt man es, wenn Angreifer*innen zum Beispiel Privatadressen veröffentlichen, um Personen damit zu schaden.

Bereits in den ersten Reaktionen auf das Eckpunktpapier warnte der sozialdemokratisch geprägte Verein D64 davor, wie das geplante Gesetz für Betroffene nach hinten losgehen kann: „Es sind erheblich negative Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit zu befürchten, wenn zum Beispiel wirtschaftsstarke Unternehmen ohne Weiteres Identifizierungsmaßnahmen gegen Kritiker:innen einleiten können.“ Denkbar sei auch, dass Rechtsextreme die neuen Rechte nutzen, um die Identität von Kritiker*innen zu erfahren.

Urheberrechtsverletzungen sind jetzt digitale Gewalt

Anke Domscheit-Berg von der Links-Fraktion im Bundestag findet, der Name für das Gesetz  sei „schlicht falsch“. Das heißt, es sei kein Gesetz gegen digitale Gewalt. „Viele relevante Gewaltformen werden offenbar nicht einmal erkannt und das ist aus meiner Sicht wirklich ein Skandal. Anscheinend weiß das Justizministerium nicht, worum es sich bei digitaler Gewalt handelt“, schreibt sie. Übersehene Beispiele für digitale Gewalt seien unter anderem der Einsatz von Mini-Kameras, GPS-Trackern und Air Tags, Deepfakes und Erpressung mittels intimer Bilder. „Es geht um alle Formen der Kontrolle, Überwachung und Manipulation mittels digitaler Geräte.“

Ähnliche Kritik kommt vom Verein Frauenhauskoordinierung. Das in den Eckpunkten beschriebene Gesetz sei auf Hassrede fokussiert. Aber: „Wesentliche Teile von digitaler Gewalt richten sich vornehmlich gegen Frauen und weisen weitere Merkmale auf, beispielsweise Cyberstalking.“  Dazu gehörten auch unerwünschte Kontaktaufnahme, Ortung und Überwachung, Stalkerware, Identitätsdiebstahl, Veröffentlichung intimer Aufnahmen oder Fake-Profile. „Eine Benennung dieser Regelbeispiele würde die Anwendung des Gesetzes erleichtern.“ Der Verein fordert „bundesweit durchgeführte Studien zu digitaler Gewalt im Partnerschaftskontext“, auch zu betroffenen Kindern. Und das führt direkt zum dritten von acht Punkten auf dem Wunschzettel.

3. Das wahre Ausmaß von digitaler Gewalt erforschen

Beispiele für digitale Gewalt gibt es zwar zuhauf, etwa die Geschichten von Frauen, deren Nacktaufnahmen gegen ihren Willen im Netz kursieren – oder die von ihrem Ex-Partner per Mobiltelefon überwacht werden. Woran es allerdings mangelt, sind aktuelle und verlässliche Studien: Wer ist von welcher Form digitaler Gewalt besonders betroffen, was kommt besonders häufig vor, wer sind die Täter*innen?

„Es ist dringend erforderlich, dass zum Thema digitale Gewalt geforscht wird und Betroffenenzahlen spezifisch erfasst werden“, schreibt etwa das Berliner Anti-Stalking-Projekt. Allein Hassrede werde öffentlich diskutiert, nicht aber all die anderen Phänomene wie Identitätsbetrug, Cyberstalking, Belästigung, Verleumdung oder bildbasierte Gewalt. „Das fehlende gesellschaftliche Bewusstsein führt dazu, dass viel zu wenig Vorsorge betrieben wird und Betroffene oft große Schwierigkeiten haben, in ihrem Umfeld Verständnis und Unterstützung zu erfahren.“

Auch Superrr schreibt, ohne Zahlen ließen sich keine besonders gefährdeten Gruppen ausmachen oder evidenzbasierte Empfehlungen an die Politik formulieren. Zum Beispiel bräuchte es eine intersektionale Sicht auf digitale Gewalt. Das bedeutet, man müsse mehrere Dimensionen von Diskriminierung in den Blick nehmen, also gezielt schauen, inwiefern etwa geflüchtete und queere Menschen oder trans* Personen betroffen sind.

Oft wird digitale Gewalt als geschlechterspezifische Gewalt diskutiert, die vor allem Frauen betrifft. Das Problem dürfte vielschichtiger sein: In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage hat die Bundesregierung aufgelistet, welche Gruppen ihrer Kenntnis nach „überproportional häufig“ von digitaler Gewalt betroffen seien. Sie nannte neben Frauen auch „ethnische“ und religiöse Minderheiten, Menschen mit Behinderung und LGBTQ-Personen.

Behörden erfassen solche Fälle allerdings nicht gesondert. Digitale Gewalt ist kein eigener Straftatbestand, sie fällt mal unter Beleidigung, mal unter Volksverhetzung, Nachstellung oder Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs. Die Statistik von Polizei und Justiz kann deshalb keine nützlichen Zahlen über digitale Gewalt liefern, wie die Bundesregierung auch im Jahr 2018 erklärte.

Immerhin plant das Familienministerium eine vergleichende Studie zu Gewalt gegen Frauen und Männer, in der es auch um „Gewalt im digitalen Raum“ gehen soll. Ergebnisse werden 2024 erwartet, wie die ZEIT berichtet. Eine gezielte Studie zu den Formen und betroffenen Gruppen digitaler Gewalt fehlt dagegen weiterhin.

Die Fallstricke beim Gesetz gegen digitale Gewalt

4. Mehr Personal und Fortbildung für Justiz und Polizei

Unisono beklagen Fachleute und Hilfsorganisationen, dass Polizei und Behörden dringend Nachhilfe bei digitaler Gewalt brauchen. Immer wieder berichten sie, wie Beamt*innen die Probleme von Betroffenen nicht ernst nehmen oder Ermittlungen aus fadenscheinigen Gründen einstellen. Beamt*innen seien „überfordert oder unverständig“ und wüssten nicht, wie man mit digitaler Gewalt umgeht, schreibt etwa das Berliner Anti-Stalking-Projekt.

Der Verein Frauenhauskoordinierung fordert mehr Personal und Weiterbildungen, „um Betroffenen sensibel gegenübertreten zu können“. Die Polizei braucht demnach Schulungen, um zu lernen, wie sie Beweise sichert; und sie brauche mehr Personal, um das schnell zu tun. Für Richter*innen, Amts- und Staatsanwält*innen sollten Ausbildungen verpflichtend sein, wie der Verein schreibt. Die Beamt*innen sollten lernen, digitale Gewalt zu erkennen und ernst zu nehmen. Und auch in der Justiz brauche es mehr Personal, um Verfahren zu beschleunigen.

Derselbe Tenor findet sich im Aufruf „NetzOhneGewalt“. Dort heißt es, Behörden und Gerichte müssten Fälle „angemessen und zeitnah“ bearbeiten können. Heißt im Umkehrschluss lautet der Vorwurf: Sie arbeiten unangemessen und langsam.

Das Problem hat eine weitere Dimension, wie Corinna Vetter von Superrr erklärt. Mitunter ist die Polizei bei digitaler Gewalt nicht nur keine Hilfe, sondern wird selbst zum Täter: „Es gibt ein Systemversagen bei Polizeigewalt in Deutschland“, schreibt Vetter und verweist etwa auf einen Fall aus Berlin. Dort soll ein Beamter „in einer Vielzahl von Fällen rechtswidrig“ polizeiliche Daten abgefragt haben, und zwar von „seiner ehemaligen Lebensgefährtin, ihrem Bekannten-, Freundschaftskreis und Beziehungsumfeld sowie von zwei weiteren vormaligen Partnerinnen“. Das wäre ein klarer Fall von digitaler Gewalt. Daraus zieht Superrr das Fazit: „Die Polizei ist nicht unbedingt bester Ansprechpartner für die meisten Betroffenen, besonders für Personen aus marginalisierten Communitys.“

5. Bildbasierte Gewalt klar im Strafrecht verankern

Eine oft vernachlässigte Form von digitaler Gewalt ist die bildbasierte Gewalt, umgangssprachlich bekannt als „Racheporno“. So nennt man es, wenn Täter*innen intime Aufnahmen ohne Einverständnis der gezeigten Personen verbreiten. Das können zum Beispiel Sexting-Fotos sein, die ein Paar während der Beziehung vertraulich miteinander geteilt hat. Darunter fallen auch heimliche Aufnahmen von Klokabinen, Umkleiden oder am Strand. Ein anderes Beispiel sind Deepfakes, bei denen Täter*innen etwa das Gesicht einer Frau täuschend echt in Pornoclips montieren.

Wenn Betroffene dagegen juristisch vorgehen möchten, müssen sie oft tricksen: Es kommen zwar mehrere Gesetze in Frage, die ihre Rechte schützen, aber keines passt perfekt. Teils weichen Betroffene deshalb aufs Urheberrecht aus, teils auf den Datenschutz.

Auch das Strafgesetzbuch deckt bildbasierte Gewalt nur teilweise ab. Zum Beispiel kommt Paragraf 201a StGB nur dann in Frage, wenn eine Person in einem „gegen Einblick besonders geschützten Raum“ fotografiert wurde. Gegen Spannerfotos am Strand kann man mit dem Paragrafen nichts ausrichten.

Einen anderen Ansatz verfolgt der neue Paragraf 184k StGB zur Verletzung des so genannten Intimbereichs. Er macht bildbasierte Gewalt nicht am Ort des Geschehens fest, sondern am fotografierten Motiv: Der Paragraf handelt von Aufnahmen, die „Genitalien“, „Gesäß“ oder die „weibliche Brust“ zeigen; sowohl nackt als auch in Unterwäsche. Offensichtlich zielt der Paragraf auf sogenanntes „Upskirting“ und „Downblousing“ ab; also Fälle, in denen Täter*innen heimlich unter den Rock oder in den Ausschnitt fotografieren.

EU-Kommission will bildbasierte Gewalt und Cyberstalking unter Strafe stellen

„Lückenhaft und unsystematisch“, nennt das die Juristin Anja Schmidt, die das Thema an der Universität Halle-Wittenberg erforscht. Sie fordert einen besseren, strafrechtlichen Schutz vor bildbasierter Gewalt für Erwachsene. Es brauche „eigenständige, konsistente und umfassende Regelungen“, schreibt Schmidt. Bildbasierte Gewalt sei eine „schwerwiegende Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung und des Rechts am eigenen Bild“.

Allein Minderjährige seien bei bildbasierter Gewalt durch das aktuelle Strafrecht geschützt, wie Schmidt erklärt. Betroffene Menschen unter 18 können sich auf Paragrafen zu sogenannter „Kinder- und Jugendpornografie“ beziehen. Demnach dürfen Menschen solche Aufnahmen nicht besitzen oder verbreiten.

Auch die Hilfsorganisation HateAid sieht bei bildbasierter Gewalt die „größten Schutzlücken“. Grünen-Abgeordnete Renate Künast fordert, bildbasierte Gewalt als eigenen Straftatbestand ins Gesetzbuch aufzunehmen. Der Verein Frauenhauskoordinierung fordert, dass unter anderem gegen bildbasierte Gewalt „Maßnahmen geschaffen“ werden.

6. Privatadressen von Betroffenen schützen

Wer im Netz gestalkt und bedroht wird, hat oft nur noch das eigene Zuhause als Schutzraum. Für Betroffene gibt es kaum etwas Schlimmeres, als wenn auch noch ihre Privatadresse im Netz geteilt wird. Sie leben dann mit der ständigen Angst um die Sicherheit von sich selbst, ihrer Familie und Mitbewohner*innen. Teils müssen sie aus ihrer Wohnung fliehen oder umziehen, was viel Zeit und Geld kosten kann.

Möchten Betroffene ihre Adressen schützen, macht ihnen das deutsche Recht an mindestens zwei Stellen Probleme. Das erste Problem ist das amtliche Melderegister: Dort können alle jederzeit eine Melderegisterauskunft beantragen und erfahren auf diesem Weg die Privatadressen einer beliebigen Person. Kostenpunkt: rund 10 Euro.

Besteht eine „Gefahr für Leben, Gesundheit oder die persönliche Freiheit“, kann man zwar seine Adresse im Melderegister sperren lassen. Aber das Gesetz stellt hierfür hohe Hürden auf. Betroffene müssen erst selbst die Beweise liefern, dass sie tatsächlich bedroht werden. Außerdem muss die Sperre alle zwei Jahre neu beantragt werden.

Die Bundesregierung versprach 2021 im Koalitionsvertrag: „Wir verbessern die Möglichkeit von Auskunftssperren im Melderegister für Bedrohte.“ Der Handlungsbedarf ist groß, wie etwa die Organisation HateAid kritisiert: Demnach hätten es Betroffene unverhältnismäßig viel schwerer als Täter*innen. Während letztere leicht eine Auskunft erhalten, müssen Betroffene erst mühsam eine Sperre beantragen. HateAid findet Maßnahmen „wünschenswert“, die Sperren für Betroffene digitaler Gewalt niedrigschwelliger machen und beschleunigen.

Das Berliner Anti-Stalking-Projekt weist darauf hin: Dieser Schutz müsse auch für die Menschen gelten, die in Beratungsstellen arbeiten. Denn gerade Berater*innen hätten ein besonders hohes Risiko, selbst bedroht zu werden.“Das Erlangen einer Auskunftssperre der Melderegisterauskunft muss für Menschen, die in so einer Risikogruppe arbeiten, stark vereinfacht werden und darf nicht erst nach einem Straftatbestand erfolgen. Dann ist es oft zu spät.“

Gibt’s da nicht einen Paragrafen?

Das zweite Problem beim Schutz von Privatadressen ist die Impressumspflicht. Blogs und Websites gelten nach dem deutschen Gesetz als „Telemedien“, die eine sogenannte „ladungsfähige“ Adresse im Impressum angeben müssen. Unternehmen nennen hier üblicherweise ihre Geschäftsdresse. Aber wer sich privat im Netz engagiert und etwa einen Blog betreibt, muss oft die eigene Privatadresse ins Impressum schreiben.

Anke Domscheit-Berg von der Links-Fraktion im Bundestag schreibt, die Impressumspflicht komme einer „schriftlichen Einladung für Stalker*innen“ gleich. Auch das Anti-Stalking-Projekt weist auf die damit verbundenen Gefahren hin, etwa wenn feministische Autor*innen ihre Adresse preisgeben müssen. „Für solche Fälle braucht es Lösungen.“ Zum Beispiel ein Postfach, das Nutzer*innen statt einer Privatanschrift ins Impressum schreiben dürfen.

HateAid bezeichnet die Impressumspflicht als „unnötige Gefährdung“, vor allem für Aktivist*innen oder freischaffende Journalist*innen. Es brauche „dringend“ Klarstellung. Betroffene seien gezwungen, sich verwundbar zu machen, was unmittelbare Folgen für sie und ihre Familien habe. Simple Lösungen gibt es längst: HateAid schlägt etwa vor, dass Menschen auch die Adresse von Anwaltskanzleien oder Co-Working-Büros ins Impressum schreiben dürfen.

7. Betroffene über ihre Rechte aufklären

„Um sich gegen digitale Gewalt zur Wehr zu setzen, braucht es insbesondere Medienkompetenz, Digitalkompetenz sowie das Wissen um eigene Rechte“, das schreibt sogar die Bundesregierung selbst in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage. Wie sehr es mitunter daran mangelt, spiegelt sich in der Beratung von Betroffenen wieder. Berater*innen berichten: Viele Menschen wissen nicht, was im Digitalen strafbar ist, dass sie sich wehren dürfen und wie das geht.

Maria Fischer arbeitet etwa für das Berliner Projekt „Digital Angels“ am FrauenComputerZentrumBerlin mit jugendlichen Mädchen zwischen 14 und 19 Jahren, ihr Thema ist digitale Selbstverteidigung. Fischer schreibt uns auf Anfrage, oft kennen die Jugendlichen ihre Rechte nicht und wissen nicht, dass analoge Rechte auch digital gelten. Zum Beispiel frage Fischer zu Beginn ihrer Workshops, ob Jugendliche Tipps zu Datenschutz geben könnten, zu Cybermobbing oder Fake-Profilen. „Viele kennen vieles nicht“, schreibt Fischer, auch was Melde- und Beratungsangebote angeht.

Die Organisation Superrr findet: Wenn es um Bildung zu digitaler Gewalt geht, stehe der Bund in der Pflicht, mit Ländern und Kommunen zu arbeiten. Dabei sei es wichtig, in die Breite zu gehen, bis hin zu Fortbildung in Volkshochschulen.

Auch die Beratungsstellen können Betroffene über ihre Rechte aufklären – bloß wissen Betroffene oft nicht einmal, dass es diese Stellen gibt. Das können wir aus eigener Erfahrung bestätigen: Mehrfach schon haben sich Menschen an uns als Journalist*innen gewandt, weil sie auf der Suche nach Rat bloß unsere Berichte gefunden haben. Geschult in Beratung sind wir aber nicht. Hilfsorganisationen vor Ort lassen sich in der Datenbank des bff finden, das ist der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.

8. Prävention: Arbeit mit Täter*innen

Bisher kaum im Vordergrund stehen Maßnahmen gegen digitale Gewalt, die bei Täter*innen ansetzen. Sie sollen verhindern, dass Menschen überhaupt erst andere stalken, doxen oder ihre intimen Bilder ohne Einverständnis auf Pornoplattformen verbreiten. In anderen Bereichen ist es inzwischen Standard, zum Schutz der Betroffenen auch mit Täter*innen zu arbeiten. Das betrifft etwa sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Solche Ansätze gibt es auch bei digitaler Gewalt.

So fordert der Verein „European Network for the Work with Perpetrators of Domestic Violence“, digitale Gewalt als Teil der Partnerschaftsgewalt ernst zu nehmen. Der Dachverband für Täter*innenarbeit betreibt seit dem Jahr 2020 eine Kampagne zu Cybergewalt, die sich vor allem an Männer richtet. Sie soll potenzielle Täter*innen dazu motivieren, das eigene Verhalten zu prüfen und sich im Zweifel Hilfe zu suchen. Interessierte in Deutschland finden bei der „Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt“ Anlaufstellen vor Ort. Der Dachverband nennt auf seiner Website ausdrücklich auch digitale Gewalt und Stalking als Teil von häuslicher Gewalt in Beziehungen.

Mehr Prävention fordert etwa auch Cordelia Moore, die als Beraterin für digitale Gewalt arbeitet und andere Berater*innen fortbildet. Moore findet, Prävention gegen digitale Gewalt sollte bereits in der Schule auf dem Stundenplan stehen. Jugendliche könnten diskutieren, welche Rolle etwa Überwachung in der Beziehung spielt und ob man wirklich den eigenen Standort mit seinen Lieblingsmenschen teilen sollte. Länder könnten auf den Lehrplan setzen, dass nicht-einvernehmliches Teilen von intimen Bildern illegal ist und welche Folgen Stalking für Betroffene hat.

4 Ergänzungen

  1. Wie von vorne herein abzusehen. Mit dem Matra „Denkt doch mal jemand an die Kinder/Frauen/Minderheiten!“ werden Gesetze durchgedrückt, die den Betroffenen nicht helfen und mächtigen Akteuren wie Urheberrechtsinhabern oder Unternehmen weitere Werkzeuge zur Zensur in die Hand drücken. Das war beim NetzDG genau das gleiche Spiel und wie damals bewerten Medien das Gesetz mehrheitlich als „gut gedacht, mittelmäßig bis schlecht gemacht“ statt den bewussten Eingriff in die Persönlichkeitsrechte als solchen zu kritisieren.

  2. Was ist die beste Strategie? Weiter auf Verbesserung drängen, oder helfen, den Karren möglichst nachhaltig an die Wand zu fahren?

    Ich bin da nicht sicher. Sicher jedoch ist, dass letzteres eine valide Option im strategischen Kalkül des Überlebenhelfends für vom Weg des Lebens abgekommene Spezies ist. Seht es einfach positiv. Weder die Mächtigen an der Macht, noch die Mächtigen, die die Mächtigen an der Macht kritisieren, können euch eine bessere Option bieten… können, nicht wollen. Will sagen: wollen nicht, aber können auch nicht!

    Wo wollt ihr damit lang? Mehr Öl? Neues Öl? Datenöl?

  3. „Das Berliner Anti-Stalking-Projekt weist darauf hin: Dieser Schutz müsse auch für die Menschen gelten, die in Beratungsstellen arbeiten.“
    Vor diesem Hintergrund gibt es noch ein weiteres Problem: Einige Registergerichte haben Dokumente aus den Vereinsregistern über das Registerportal handelsregister.de für alle frei abrufbar veröffentlicht. Aus den Dokumenten gehen teilweise die Privatadressen von Vorstandsmitgliedern hervor, auch bei Vereinen mit politischen und anderen sensiblen Anliegen. Die Prüfung, ob Abrufe aus dem Vereinsregister nur zu (legitimen) Informationszwecken erfolgen, scheint nicht zu funktionieren, denn das Portal meldet schon seit Monaten Massenabrufe und missbräuchliche Abrufe.

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