Zensur auf Social MediaTikTok kappt den Informationsfluss nach Russland

TikTok ist die einzige große ausländische Social-Media-Plattform, die in Russland noch nicht gesperrt ist. Doch Recherchen zeigen, wie die App alle nicht-russischen Inhalte für russische Nutzer:innen blockiert – ohne das öffentlich zu thematisieren. Es ist nicht das erste Mal, dass TikTok einen solchen Sonderweg geht.

Seite von Charli D'Amelio auf TikTok, links mit Videos, rechts leer
Die Seite der Influencerin Charli D’Amelio, einmal aus Deutschland, einmal aus Russland aufgerufen.

TikTok zensiert seinen eigenen Inhalt in Russland wesentlich stärker als es bisher öffentlich zugegeben hat und blockiert alle ausländischen Accounts in Russland. Das berichten Forscher:innen der Organisation Tracking Exposed in einem detailliertem Bericht. Sie werfen TikTok vor, damit ein Vakuum zu hinterlassen, in dem vor allem Raum für Kreml-nahe Propaganda bleibt, während kritische Inhalte zum Ukraine-Krieg zensiert werden.

Seit zehn Tagen ist TikTok in Russland dadurch weitgehend unbrauchbar geworden. Ohne ein öffentliches Wort hat die App des chinesischen Mutterkonzerns ByteDance alle Inhalte aus dem Ausland für Nutzer:innen in Russland blockiert. Wo vorher Schmink-Tutorials, Beatboxing oder Kritik am Ukraine-Krieg über die Bildschirme wischten, sehen Nutzer:innen aus Russland jetzt: nichts.

Die Analyse von Tracking Exposed zeigt nun, wie weit dieser Eingriff in den Informationsfluss reicht: Blockiert sind demnach alle europäischen und US-amerikanischen Accounts auf TikTok, darunter Nachrichtensender wie BBC oder NBC, Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Weltgesundheitsorganisation, aber auch TikTok-Stars wie Charli D’Amelio und weitere der wichtigsten Influencer. Selbst TikToks eigener Account sei für seine Nutzer:innen in Russland nicht mehr verfügbar – mit Ausnahme des Russland-Kanals.

Geschätzte 95 Prozent der Videos auf TikTok sind damit für das russische Publikum von einem Tag auf den anderen einfach verschwunden, schreiben die Forscher:innen.

„Alle nicht-russischen Accounts zeigen eine leere Seite“

Die Sperre trifft nicht nur neue Uploads, sondern alle Inhalte dieser Nutzer:innen. „Alle nicht-russischen Accounts zeigen eine leere Seite, wenn sie von einer russischen IP-Adresse aufgerufen werden.“ Ob die Accounts überhaupt zu politischen Ereignissen Stellung nehmen, spiele keine Rolle, schreiben die Autor:innen. Verschwunden sei alles.

Geblieben sind den russischen Nutzer:innen damit nur noch die alten Inhalte aus Russland selbst. Bereits am 6. März hat TikTok alle neuen Videos und Livestreams aus Russland heraus verboten. Damit reagierte die Plattform laut eigenen Angaben auf ein drakonisches neues Gesetz, mit dem Russland die Verbreitung von vermeintlichen „Falschinformationen“ über die russische Invasion in der Ukraine mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft. Eine TikTok-Sprecherin sagte, die Sicherheit der eigenen Mitarbeitenden und Nutzer:innen habe „höchste Priorität“ und man habe „keine andere Wahl, als Livestreaming und neue Inhalte für unseren Videodienst in Russland auszusetzen“, während man sich einen Überblick über die Auswirkungen des Gesetzes mache.

Was TikTok jedoch nicht erwähnte: Auch in die entgegengesetzte Richtung ist der Informationsfluss gekappt. Berichte von Nutzer:innen aus Russland hatten schon Anfang März darauf schließen lassen, dass internationale Accounts im Feed russischer Nutzer:innen nicht mehr zu sehen waren. Laut der Analysen von Tracking Exposed ist das seit dem 8. März der Fall. Auch in der Suche tauchten diese Inhalte nicht mehr auf.

TikTok schweigt zu den Gründen

Während Facebook, Instagram und Twitter von der russischen Regierung blockiert werden, geht TikTok einen Sonderweg – und zensiert selbst die Inhalte, die das Land über die App verlassen oder dort ankommen. Zur Frage, warum das Unternehmen diesen Weg wählt, will sich TikTok nicht äußern. Es bestätigt aber: Inhalte, die von Konten außerhalb Russlands kommen, sind derzeit in Russland nicht verfügbar, diese Konten können nur noch alte Inhalte aus Russland selbst sehen.

Expert:innen für Internetzensur und Journalist:innen hatten zuvor kritisiert, dass das Abschalten der Livestreams und Uploads aus Russland auch Russ:innen daran hindert, kritische Informationen und Hintergründe zum Krieg teilen zu können.

Laut Tracking Exposed haben Nutzer:innen aus Russland aber ein Schlupfloch gefunden, mit dem sie dennoch Inhalte auf TikTok hochladen können und auch ausländische Accounts sehen: Mit Hilfe von VPN-Diensten geben sie vor, in einem anderen Land zu sitzen. Einige Accounts, die darauf hinwiesen, sind in Russland inzwischen ebenfalls gesperrt, schreibt Tracking Exposed. Andere Accounts nutzten die Methode weiterhin, um Kreml-Propaganda zum Krieg auf TikTok zu posten. Die Videos haben teils Reichweiten von mehreren Millionen. Zu Inhalten, die Putins Kriegskurs kritisieren, schreiben die Forscher:innen: „Wir haben keine Hinweise auf Antikriegsinhalte gefunden, die nach der TikTok-Beschränkung gepostet wurden.“

Die Analysen beziehen sich laut den Forscher:innen bisher nur auf blockierte Inhalte in Russland. TikTok ist allerdings dafür bekannt, Inhalte in ihrer Sichtbarkeit herabzustufen (so genanntes Shadowbanning) oder zu fördern. Die App funktioniert vor allem über einen automatisch zusammengestellten Feed, der zu sehen ist, sobald man TikTok öffnet. Was auf diesem For-You-Page genannten Strom von Videos nicht auftaucht, bekommt auf der Plattform kaum Aufmerksamkeit – und TikTok schraubt regelmäßig an den Reglern. Ob Inhalte mit diesen Verfahren in Russland unterdrückt wurden, wollen die Forscher:innen in einem nächsten Bericht untersuchen.

TikTok stellt Forscher:innen keine Schnittstelle zur Verfügung, mit der sie Inhalte auf der Plattform unabhängig untersuchen könnten. So bleiben TikToks Aussagen zum Umgang mit Inhalten oft unüberprüfbar. Dass die Forscher:innen von Tracking Exposed in diesem Fall Aussagen zu den Inhalten treffen können, liegt an einem Set von selbstgebauten Werkzeugen. Mit ihrer Hilfe können sie Daten aus der App extrahieren und analysieren, welche Inhalte echte Nutzer:innen in bestimmten Ländern zu sehen bekommen.

TikTok als Fenster zum Krieg

Russland ist ein relevanter Markt für TikTok. Zu genauen Nutzer:innenzahlen im Land gibt es nur Schätzungen, aber TikTok ist auf Platz 12 der App-Charts im Land, was Installationen und aktive Nutzer:innen angeht. Laut Sensor Tower wurde die App in Russland 121 Millionen Mal heruntergeladen. Zwei der Top-100-Influencer:innen kommen aus Russland.

In den vergangenen Tagen seit der russischen Invasion in der Ukraine ist die App zu einem der wichtigsten Kanäle geworden, auf dem Nutzer:innen aus der Ukraine Bilder des Krieges teilen. Gleichzeitig findet sich dort auch viel russische Propaganda, die Falschinformationen zur Invasion in der Ukraine verbreitet. TikTok ist dazu übergegangen, staatsnahe Kanäle mit einem Warnhinweis zu versehen. Doch wie das Institute of Strategic Dialogue schreibt, funktioniert diese Eindämmung der Kreml-Narrative nur lückenhaft.

TikTok zensierte bereits queere Inhalte auf Russisch

Es ist nicht das erste Mal, dass TikTok Inhalte in Russland zensiert. Forscher:innen eines australischen Thinktanks hatten nachgewiesen, dass die App bestimmte Hashtags und die damit markierten Videos geografisch einschränkt. Unter anderen betraf das den russischen Hashtag #гей („schwul“). Diese Inhalte waren allerdings nicht nur in Russland zensiert, sondern für das weltweite Publikum der App. Außerdem wurden die entsprechenden Inhalte nicht komplett blockiert, sondern in der Suche unterdrückt: Wer danach suchte, bekam entweder eine Fehlermeldung oder sah keine Suchergebnisse.

In Russland ist es seit 2013 verboten, Inhalte zu verbreiten, die die Regierung als „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ bezeichnet – ein Gesetz, das die Rechte queerer Menschen massiv einschränkt. TikTok beruft sich darauf, lokale Gesetze einhalten zu müssen, ging aber auch in diesem Fall weit über das hinaus, was andere Social-Media-Plattformen wie Instagram oder Twitter taten. Beide Plattformen zeigen auch in Russland weiterhin Hashtags rund um Queerness an.

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Eine Ergänzung

  1. Die Bildunterschrift ist wohl falsch herum. Links ist der russische Zugriff, rechts Deutschland.

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