Rechtsextreme Anschlagserie in BerlinUntersuchungsausschuss kritisiert mauernde Behörden

Seit mehreren Monaten warten parlamentarische Aufklärer:innen in Berlin auf Akten von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und Verwaltung. Jetzt warnen sie: Wenn die Behörden weiter mauern, kann der Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex seine Arbeit nicht mehr verrichten.

Kundgebung unter dem Motto Solidarität mit den Betroffenen der rechtsextremen Angriffsserie am Internationalen Tag gegen Rassismus in Berlin Neukölln im Jahr 2019
Soli-Demonstration für die Betroffenen der rechtsextremen Angriffsserie in Berlin Neukölln, 2019 – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Christian Mang

Deutliche Kritik an Justiz, Sicherheitsbehörden und Verwaltung übten am gestrigen Freitag die Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung einer rechtsextremen Anschlagserie in Berlin-Neukölln. Bei einer Pressekonferenz im Abgeordnetenhaus zeigten sich die Parlamentarier fraktionsübergreifend verärgert und irritiert, dass sie fast ein halbes Jahr nach Einsetzung des Ausschusses kaum Akten zur Verfügung gestellt bekommen, die sie für ihre Arbeit benötigen.

„Die Weiterarbeit wird nicht möglich sein, wenn wir die Akten nicht erhalten“, teilte der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses mit, Grünen-Politiker Vasili Franco. Er vertrat bei der Pressekonferenz den terminlich verhinderten Vorsitzenden, Florian Dörstelmann von der SPD. Bisher hätten die Aufklärer:innen nur einen Bruchteil der angefragten Beweismittel erhalten, so Franco.

Besonders irritiert zeigte sich der Abgeordnete über ein Schreiben der Innenverwaltung, das den Ausschuss in dieser Woche erreichte. Das Haus von Innensenatorin Iris Spranger (SPD) habe sich mehr als vier Monate Zeit gelassen, um Rückfragen zu einem Beweisantrag vom 1. Juli 2022 zu stellen. Auch die Justizverwaltung von Senatorin Lena Kreck (Linkspartei) steht Franco zufolge auf der Bremse. Sein Ausschusskollege Niklas Schrader von der Linkspartei konstatierte: „Insgesamt gibt es bei den Behörden offenbar keine große Bereitschaft, uns zuzuarbeiten.“

“Ärgerlich und hinderlich“

Der Untersuchungsausschuss soll aufklären, wie Rechtsextreme im südlichen Neukölln über viele Jahre ungehindert Anschläge begehen, Nazi-Propaganda verbreiten und politische Gegner:innen bedrohen konnten. Mindestens 73 Straftaten werden zu der Terrorserie – dem sogenannten Neukölln-Komplex – gezählt, darunter lebensgefährliche Brandanschläge und möglicherweise auch zwei Morde. Es gibt starke Indizien dafür, dass die Täter nicht nur wegen stümperhafter Polizeiarbeit so lange agitieren konnten, sondern auch, weil sie aktive Sympathisant:innen in Justiz und Sicherheitsbehörden hatten.

Der Ausschuss soll Licht ins Dunkel bringen. Doch die Aufklärer sind unzufrieden. Die Blockade der Behörden weckt Erinnerungen an deren strategische Intransparenz gegenüber dem Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz.

Nachdem in den ersten Sitzungen seit dem Sommer Opfer des rechten Terrors in Neukölln als Zeug:innen angehört wurden, wollte der Ausschuss demnächst Zeug:innen aus den Behörden vernehmen, um mögliches Fehlverhalten aufzudecken. Das Fundament solcher Aufklärungsarbeit sind für jeden Untersuchungsausschuss Dokumente und Akten von handelnden Behörden.

Dass diese immer noch nicht vorliegen, sei „sehr ärgerlich und hinderlich“, kritisiert Stephan Standfuß von der CDU. Auch sein Oppositionskollege Stefan Förster von der FDP macht deutlich: „Wir brauchen die Akten.“ Nur dann könne verhindert werden, dass unliebsame Dinge unter den Tisch gekehrt würden. Aus den Schilderungen der Zeug:innen hätten sich viele Fragen zum Handeln einiger Personen aus den Sicherheitsbehörden ergeben, mit denen man diese konfrontieren müsse.

Widersprüche aufdecken

Ein Beispiel für derartige Widersprüche lieferte die gestrige Befragung der Zeugin Christiane Schott. Schott ist mehrfach zur Zielscheibe der Rechtsextremen in Neukölln geworden und berichtete dem Ausschuss von Unstimmigkeiten mit einer Videokamera, die die Polizei angeblich gegenüber ihres Wohnhauses installiert habe. Zur Aufklärung der Anschläge trug diese Maßnahme aber nicht bei, weil die Kamera in entscheidenden Momenten ausgefallen sein soll.

Damit solche Unstimmigkeiten aufgeklärt werden können und es keine Situation „Aussage gegen Aussage“ gebe, brauche der Ausschuss Akteneinsicht, sagte Niklas Schrader. Doch weder Polizei oder Staatsanwaltschaft noch Verfassungsschutz oder Senatsverwaltungen hätten bislang ausreichend geliefert, so die einhellige Meinung der Parlamentarier:innen. Vom Bundesamt für Verfassungsschutz habe es bisher nicht einmal eine Reaktion auf die Beweisanträge des Untersuchungsausschusses gegeben, so Schrader.

Das sei auch deshalb misslich, weil der Ausschuss Zeit benötige, um Akten nach ihrer Lieferung zu sichten und zu analysieren, ergänzte SPD-Politiker Orkan Özdemir. Er zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass entsprechende Gespräche mit den zuständigen Hauptverwaltungen bald zu einer Besserung der Lage führen werden.

Keine Ausreden

Etwaige Gegenargumente oder Erklärungen für die zögerliche Informationspolitik wollen die Abgeordneten dabei nicht gelten lassen. So zog etwa Stefan Förster von der FDP einen Vergleich mit dem Untersuchungsausschuss zum Attentat am Breitscheidplatz, als er und andere Abgeordnete teilweise vor Gericht ziehen mussten, um Akteneinsicht vom Bundesinnenministerium zu erhalten. Anders als damals könne heute aber niemand Zuständigkeitsfragen im föderalen System geltend machen, so Förster. Der Großteil der angefragten Beweismittel liege schließlich im Zuständigkeitsbereich des Landes Berlin.

Ein anderes Argument entkräftete Linken-Politiker Schrader: Zwar würden parallel zur Arbeit des Untersuchungsausschusses Gerichtsverfahren zu Straftaten von Verdächtigen der Anschlagserie geführt. Ein großer Teil der angefragten Beweismittel habe zu diesen Verfahren jedoch keinen unmittelbaren Bezug. Der Ausschuss habe zudem nicht einmal Akten aus abgeschlossenen Verfahren erhalten. Auch die beantragten Unterlagen des Verfassungsschutzes seien nicht von den Gerichtsverfahren betroffen.

Vasili Franco macht zudem deutlich, dass auch die Gerichtsverfahren keinen ausreichenden Verweigerungsgrund darstellen würden. Rechtlich sei das Informationsinteresse des Untersuchungsausschusses gleichrangig mit dem des Gerichts, nur laufende Ermittlungen dürften nicht gefährdet werden. Er verwies zudem auf den Abschlussbericht der Sonderermittler:innen, die den Neukölln-Komplex für die vorige Regierung untersucht haben. Die hierfür gesichteten Akten könnten dem Ausschuss problemlos zur Verfügung gestellt werden.

Giffey hatte Aufklärung versprochen

Alles in allem habe der Berliner Senat sein Versprechen einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Ausschuss bisher nicht eingehalten, resümierte Linken-Politiker Schrader. Dabei gebe es nicht nur ein Versprechen, sondern auch eine gesetzliche Verpflichtung zur Kooperation, ergänzte der stellvertretende Vorsitzende Franco.

Wenn die rot-grün-rote Regierung in Berlin sich nicht den Vorwurf einer aktiven Behinderung der Aufklärungsarbeit einfangen will, müssen die Behörden bald Akten liefern. Daran muss der Untersuchungsausschuss wohl auch Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey erinnern. Die SPD-Politikerin hatte im vergangenen Jahr im Abgeordnetenhaus-Wahlkampf nicht nur das Anliegen eines Untersuchungsausschusses unterstützt, sondern auch „Disziplinarverfahren gegen die, die der Aufklärung im Wege stehen“ versprochen.

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2 Ergänzungen

  1. Merkwürdig: Geht es in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (PUA) um rechtsextremistische bzw. rechtsterroristische Taten haben es die Ausschussmitglieder häufig mit gesperrten, geschwärzten und verweigerten Behörden-Akten zu tun; in Hessen bleiben diesbezüglich weiterhin NSU-LfV-Akten verschwunden und in Bayern werden diese manchmal „versehentlich“ vernichtet. Ist das bereits Staatsräson? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

    Erneut Ärger um geschwärzte und vernichtete Akten in Hessen & Bayern
    Terroranschlag von Hanau: Klage wegen geschwärzter Akten

    Der Untersuchungsausschuss zum rassistischen Anschlag von Hanau geht gegen den Generalbundesanwalt vor, weil nach wie vor weite Teile der Ermittlungsakte geschwärzt sind. (Frankfurter Rundschau, 1.11.22)

    https://www.fr.de/rhein-main/terroranschlag-von-hanau-klage-wegen-geschwaerzter-akten-91888407.html

    U-Ausschuss NSU: 20 Akten im Justizministerium vernichtet

    Seit Mitte Mai will ein zweiter Untersuchungsausschuss zu offenen Fragen rund um die rechtsextreme Terrorserie Licht ins Dunkel bringen. Bei der neunten Sitzung im Landtag kam heraus: Das Bayerische Justizministerium hat 20 NSU-Akten gelöscht. (br.de, 29.9.22)

    https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/u-ausschuss-nsu-20-akten-im-justizministerium-vernichtet,TIq8XGn

  2. Waren ja nur Rechtsextreme, wären das Linke gewesen, dann säßen diese bis heute in Haft und der Untersuchungsausschuss hätte ab Tag 1 das Doppelte der verlangten Akten erhalten. War es jemals anders in Deutschland? Habe es noch nie anders erlebt.

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